Quelle Nummer 189

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.04 : BIOGRAPHISCHES

JULIANA VON STOCKHAUSEN
DER MANN IN DER MONDSICHEL
AUS DEM LEBEN DES PHILIPP FRANZ VON SIEBOLD
DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART 1970, S. 166-172


001  " Glatt und geschmeidig wie Stahl, das bist du ", hatte
002  Kamori san gesagt, " und es ist dir gleichgültig, was du in
003  einem Mann erweckst. Du täuschst vor, ein Entzücken zu fühlen,
004  das du nicht fühlst, es berührt dich nicht. Nichts berührt
005  dich! " Sie hatte geweint, als er ging, denn auch dies hatte
006  sie gelernt, und ihn für ihr höchst unwürdiges Benehmen um
007  Vergebung gebeten. Kamori san hatte die Tränen mit der
008  Fingerspitze weggewischt, und bis zum heutigen Tage wußte sie
009  nicht, ob es ihr gelungen war, ihn von einem Schmerz zu
010  überzeugen, den sie nicht empfunden hatte. Kamori war ihr
011  angenehm gewesen und nicht mehr. Siebold war spät aus der Stadt
012  zurückgekommen; erschöpft und von oben bis unten mit Blut
013  besudelt wie ein Metzger. Es war ihm kaum Zeit geblieben, sich
014  umzukleiden; in aller Hast hatte er sich gewaschen, Uniform
015  angelegt und war in die Faktorei gehetzt. Der Fall, zu dem man
016  ihn gerufen hatte, war nahezu hoffnungslos - eine Abtreibung mit
017  irgendwelchen Kräutern herbeigeführt, wie er vermutete, einer
018  Abkochung von Sennisblättern und Rhabarberblättern. Er
019  hatte mit dem ganzen Aufgebot seines Könnens um das junge Ding
020  gekämpft, ein Teehausmädchen, fast noch ein Kind; und obwohl
021  er annehmen durfte, es sei ihm gelungen, die Blutung zu stillen
022  und das schwindende Leben festzuhalten, fühlte er sich doch so
023  beunruhigt, daß er am liebsten auf de Stürlers Fest verzichtet
024  hätte und zu seiner Patientin zurückgeeilt wäre. Er kam in den
025  Saal, blieb an der Türe stehen und verbeugte sich mechanisch nach
026  allen Seiten. Von seinen Erwägungen absorbiert, rekapitulierte
027  er zum soundsovielten Male die Maßnahmen, die er getroffen hatte,
028  suchte sich der Einzelheiten in der Zusammensetzung der Mittel,
029  die er verschrieben, zu entsinnen. Hatsutaro, der zweite
030  Dolmetscher huschte auf ihn zu, flüsterte mahnend, de Stürler
031  warte darauf, ihn Seiner Excellenz, dem Statthalter zu
032  präsentieren. Takhoshima san, der Statthalter, in einem
033  prachtvollen Kimono aus dunkelgrauer Seide, Schwerter und
034  Fächer im Gürtel, auf dem bis zum Scheitel geschorenen Kopf
035  die doppelflügelige schwarzlackierte Kappe, war dabei,
036  Komplimente mit de Stürler auszutauschen, der einen Fuß vor,
037  den anderen elegant zurückgesetzt, eine Art Menuettfigur vor
038  Takoshima san aufzuführen schien. Siebolds Blick glitt über die
039  in wurdevollem Lächeln erstarrten Gesichter der japanischen
040  Begleiter, hinüber zu de Stürlers Stab, streifte über blaue
041  und braune Fräcke, weiße Hemdbrüste, von gesteiften Krägen
042  umrahmte rote Köpfe. Er richtete sich auf, nahm die Schultern
043  zurück und zog mit einem gewohnheitsmäßigen Griff den
044  Uniformrock glatt. Die Dolmetscher wichen auseinander, die Dame
045  Sonoogi glitt zwischen ihnen vor, blieb für die Länge eines
046  Atemzuges stehen und gab den beiden ihr folgenden Geishas ein
047  winziges Zeichen mit dem Fächer. Eine Blutwelle überzog
048  Siebolds Gesicht, seine Augen weiteten sich in ungläubigem
049  Staunen; er bewegte die Lippen, als unterdrücke er gewaltsam
050  einen Ausruf. Von irgendwoher hörte er seinen Namen nennnen,
051  begriff, daß de Stürler nach ihm verlangte, daß er sich in
052  Bewegung zu setzen habe. Wieder flüsterste Hatsutaro auf ihn ein,
053  zischelnde, unverständliche Laute. Jäh, unvermittelt fühlte
054  er sich genarrt, spürte sich wie in einem Netz gefangen, das ihm
055  hinterrücks übergeworfen worden war und mit dem er nun Schritt um
056  Schritt, hypnotisiert bis zur Willenslosigkeit, zu der Frau
057  hingezogen wurde, die im leeren Raum stand und auf ihn wartete.
058  Er starrte sie an, ein Wesen von einem anderen Stern (...) Frau
059  vom Mond! Schön? Sie erschien ihm nicht schön, nicht auf
060  den ersten Blick, dafür war sie zu stilisiert, aus jeder
061  Realität herausgehoben durch die künstlich gesteigerte, steile
062  Anmut ihrer Attitüde, ihre durch die Bemalung verfremdeten und
063  gleichsam entpersönlichten Züge. Ihm war, als müsse er sich an
064  den Kopf greifen, um sich zu überzeugen, daß er nicht in eine
065  durch seine Müdigkeit hervorgerufene, momentane
066  Geistesabwesenheit verfallen war. Er schloß die Augen, riß sie
067  wieder auf. Sein Mund zuckte, er preßte die Zähne aufeinander,
068  stieß das Kinn vor, sah sie an, sog sich an ihr fest: eine
069  aus Sagen und Legenden heraufbeschworene, vom Altar eines
070  Tempels herabgestiegene, jungfräuliche Göttin. Er atmete durch,
071  einmal, zweimal; der Druck löste sich, die
072  Betäubung fiel von ihm ab. Er bemerkte verwundert, das er auf
073  die Dame Sonoogi zugegangen war und sich nun, vor ihr stehend,
074  verbeugte. Auch sie verbeugte sich, tief und so oft wie er selbst.
075  Jedesmal sah er für Sekunden ihren Nacken im Ausschnitt des
076  Kimonos bis zu den Schulterblättern. Als sie endlich aufhörten,
077  sich voreinander zu verneigen und ihr lächelndes Gesicht
078  auftauchte, entdeckte er die natürliche Form ihrer Lippen unter
079  der Schminke, dachte und wußte nur eins, nämlich daß er diesen
080  schönen Mund noch in derselben Nacht küssen werde. Das Fest
081  neigte sich dem Ende zu; der letzte Gang - Schokolade,
082  Marzipan und kandierte Früchte - war abgetragen. Jovar Singh
083  in seinem chorknabenhemd, dem blauen Turban und bloßen, sehr
084  schmutzigen Füßen - wie Siebold mit einem Blick festgestellt
085  hatte - schenkte Portwein ein und reichte javanische Zigarren und
086  holländische Tonpfeifen herum. Die Stimmung hatte sich gelockert;
087  de Stürlers diplomatische Finessen und die französischen
088  Weine ihre Wirkung getan. Seine Excellenz, der Statthalter
089  erhob sich und ging, gestützt auf den Arm der Geisha Itose,
090  durch den Saal. Die bis zum Boden reichenden Fenster waren
091  geöffnet und gewährten einen Ausblick auf die Bucht. Im Schein
092  der zum nächtlichen Fang mitgeführten Fackeln und Feuerkörbe,
093  ließen sich die Umrisse der draußen liegenden Fischerboote
094  erkennen. Es war eine für die Jahreszeit ungewöhnlich windstille
095  Nacht, und die Lichtbahn der im Zenit stehenden Mondsichel lag
096  ruhig über der schwarz schillernden, wie atmend bewegten See.
097  Der Statthalter ließ sich auf ein Kissen nieder und zog die Dame
098  Itose neben sich; es blieb de Stürler nichts übrig, als dem
099  Statthalter Gesellschaft zu leisten. Auf ein Kissen gekauert,
100  verfluchte er abwechselnd seine engen Hosen und die japanische
101  Verrückheit, die ihn zu dieser Unbequmlichkeit zwangen. Er war
102  zwar bezecht, aber doch nicht so, daß er nicht mehr hätte auf
103  drei zählen können. Er wußte mit absoluter Sicherheit, daß
104  drei Geishas für die Unterhaltung der Gäste aufgeboten worden
105  waren; eine Unterhaltung, auf die er nicht den geringsten Wert
106  legte, von der andere das Vergnügen genossen. Die dritte Geisha
107  war die hochmütigste Hure, die ihm je über den Weg gelaufen war,
108  und was ihre viel gerühmte Schönheit anlangte, würde er sich
109  nicht äußern, ehe er sie nicht nackt gesehen. Inzwischen hatte
110  sich die Dame in Luft aufgelost mitsamt dem Doktor, der, wie ihm
111  der schiefäugige Laffe von Dolmetscher weismachen wollte, zu
112  einem Patienten gerufen worden war. Sinsajemon, der
113  Chefdolmetscher, atmete auf und gönnte sich ein Glas Wein.
114  Mochten die gaijin noch so viele Taktfehler begangen haben,
115  waren doch die gefährlichsten Klippen umschifft und dank der
116  Geschicklichkeit, mit der Sonoogi san den Annäherungsversuchen
117  de Stürlers ausgewichen war, jede Peinlichkeit vermieden worden.
118  Sinsajemon erlaubte sich ein zynisches Lächeln. Er hatte seine
119  Ansichten über den neuen Herrn der Faktorei zu revidieren. Der
120  neue Herr war durchaus nicht nur einseitig interessiert. Auch
121  seine Excellenz, der Statthalter befand sich in einem Zustand der
122  Gelöstheit, der ihn dazu verführte, de Stürler über die
123  sexuellen Reize eines Frauennackens aufzuklären, der sich wie ein
124  Blumenstengel aus dem Rückenausschnitt des Kimonos erhebt. Und
125  wie von ungefähr beraubte Takoshima san eine Chrysantheme der
126  Blütenblätter und ließ sie in Itoses Kimono fallen. In dem
127  Bemühen, die Gesellschaft über das Verschwinden Sonoogis
128  hinwegzutäuschen, schien die Dame Oii allle ihr zur Verfügung
129  stehenden Talente zu entfalten; die Dame Oii hatte einiges
130  gutzumachen, denn sie war an dem Verschwinden Sonoogis nicht
131  unbeteiligt gewesen. Hatsutaro, der zweite Dolmetscher, aber war
132  es, der die Träger der Geisha Sonoogi anwies, gebeugt unter
133  einer nicht vorhandenen Last, die leere Sänfte der Geishas über
134  die Brücke, an der Wache vorüber, ins Maruyama zu tragen.
135  Denn die Dame Sonoogi hatte ihren Rang verleugnet, sich selbst
136  zu einer oranda yaki erniedrigt, um sich auf den ihrer
137  unwerten Futtons dem fremden Arzt hinzugeben. Und da Hatsutaro
138  ein feinfühliger Mann war, der das Gebot der Dankbarkeit
139  hochhielt, hatte er es auf sich genommen, die Geisha Sonoogi vor
140  den Folgen ihrer Torheit zu bewahren. Als Siebold den ins Freie
141  fuhrenden Seitenausgang der Faktorei erreicht hatte, hob er die
142  Geisha Sogooni auf wie ein Bündel Seide und trug sie fort. Sie
143  leistete keinen Widerstand. Ihr Kopf schwankte gegen seine
144  Schulter, aus ihrem Haar stieg ein scharfer Duft nach
145  Iriswurzeln, und die Zieraten der Schildpattennadeln kratzten ihn
146  am Hals. Ihre linke Hand preßte sich gegen seine Brust, und er
147  spürte ihre sich krampfhaft an den Uniformknöpfen festkrallenden
148  Finger. Die Rechte, in der sie ihre Getas hielt, schlug locker
149  gegen seine Knie. Schauer rannen in langen Wellen über ihren
150  Körper, aber sie gab keinen Laut von sich. In der Dunkelheit
151  zwischen den eng aneinandergebauten Häusern war ihr Gesicht nur
152  ein verschwommener Fleck, und unwillkürlich dachte er, daß seine
153  Uniform voll Puder sein müsse. Gleich darauf hatte er den Kai
154  erreicht, hier war es nicht mehr so dunkel und der Weg besser.
155  Das Hafenwasser schlappte träg gegen die Mauer; eine
156  landeinwärts streichende Brise brachte den Geruch nach Fisch,
157  Tang und Algen mit sich. Das Haar flog ihm ins Gesicht, er
158  blieb stehen, schüttelte die Strähnen zurück und flüsterte:
159  " Hast du Angst? Hab keine Angst, Sonoogi! " Sie blieb
160  stumm, das Gesicht an seine Schulter gedrückt. Nach einigen
161  Schritten hielt er wieder an, packte sie fester, streckte sich und
162  überstieg ein niederes Mäuerchen. Der Boden vibirierte wich
163  unter seinen Sohlen; ein sich zum Haus hinziehender,
164  sandbestreuter Pfad hob sich hell vom Rasen ab. Er ließ sie aus
165  den Armen herabgleiten; sie taumelte haltsuchend. Er faßte nach
166  ihren Gelenken, beugte sich vor und küßte erst die eine, dann
167  die andere Hand. Sie zuckte zusammen, als habe er sie mit
168  glühendem Eisen gebrannt. Er richtete sich auf, verletzt und
169  zurückgestoßen, dann fiel ihm ein, daß es das erste Mal in
170  ihrem Leben war, daß man sie geküßt hatte. Japaner küßten
171  sich nicht. Er zog sie an sich, hauchte in ihre Haare, fuhr mit
172  den Lippen über ihre Schläfen, schmeckte trocken-faden
173  Puder und saugte an ihrem Ohrläppchen; auch das Ohr war
174  geschminckt. Sie keuchte, rang nach Atem, als sei sie zu rasch
175  gelaufen. Er verstand, daß er sie erschreckt hatte, gab sie frei
176  und sagte drängend: " Ist dir kalt? Dir ist kalt, Sonoogi. "
177  Sie machte eine kraftlose Bewegung und ließ die Getas fallen.
178  Er lief schon zum Haus, um eine Decke zu holen. Sie drehte
179  langsam den Kopf und blickte ihm nach. In der noch eben dunklen
180  Hauswand erhellten sich die papierbespannten Fensteröffnungen.
181  Sie stand da, die Füße ein wenig nach einwärts gedreht und
182  wagte nicht, sich zu rühren. Das Gras war taufeucht und näßte
183  ihre Söckchen; sie wäre gerne in ihre Getas geschlüpft, aber
184  imstande war, die Schleppe ihres Kimonos aufzunehmen und vor der
185  Nässe am Boden zu schützen. Sie stand da und wußte, daß sie
186  sich entsetzlich fürchtete, so fürchtete, daß ihre Zähne
187  aufeinander schlugen und sie am ganzen Leibe bebte. Ihre
188  Augenlider flatterten, Angstschweiß feuchtete ihre Stirn und bei
189  dem Gedanken, daß sich nun die Schminke aufweiche, geriet sie
190  völlig außer sich. Sie bot die ihr noch verbliebene Energie auf,
191  zog den Fächer aus dem Gürtel und hielt ihn vor den Mund.
192  Ihre Hand zitterte, und sie schlug sich so heftig gegen die
193  Zähne, daß sie bluteten und sich ihr Mund mit salzigem
194  Geschmack füllte. Sie hatte getan, was sie nicht tun durfte.
195  Sie hatte sich ihres Ranges entledigt und damit den Schutz, den
196  er ihr bot, verloren. Nun war sie nicht mehr und um nichts besser
197  als eine der niedrigen Kurtisanen, die den Fremden zu Willen
198  waren. Die Kälte kroch von ihren Füßen aufwärts zu den
199  Hüften; ihr Körper zog sich zusammen, wurde steif. Sie
200  preßte die Ellbogen gegen die Rippen, ihre Arme verkrampften
201  sich, der Fächer fiel ihr aus den Fingern. Sie versuchte sich
202  zu erinnern, sich den Ablauf des Abends ins Gedächtnis
203  zurückzurufen von dem Moment an, als sie dem Kago entstiegen war
204  und die Hand, die sich ihr entgegen streckte, ergriffen hatte eine
205  dickliche, feuchte Hand, die aus einer dunklen Stoffröhre ragte.
206  Der Gobanjosi hatte nicht gelogen, ein schlechter Geruch
207  strömte von dem Mann aus. Es war Stürlers Sekretär, wie sie
208  später erfuhr. Im Saal war es sehr hell von vielen Lichtern,
209  und überall waren unförmige Dinge aufgestellt. Itose san, Oii
210  san und sie selbst standen im Licht wie Kabukischauspieler, und
211  die Fremden starrten sie aus ihren runden Gespensteraugen an.

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