Quelle Nummer 160

Rubrik 26 : MEDIZIN   Unterrubrik 26.02 : FACHWISSENSCHAFTLICH

ERNAEHRUNGSWISS.
HEINZ SCHOLZ
VITAMINE BAUEN UNS AUF
ENTDECKUNG, ZUSAMMENSETZNG UND BIOLOGISCHE FUNKTION
DER VITAMINE SOWIE IHRE ROLLE IN DER ERNAEHRUNG
HUMBOLDT-TASCHENBUCHVERLAG 1971, S. 116-123


001  Infolge ihres niedrigen Vitamin E-Gehaltes kann die
002  Kartoffel auch bei einer mengenmäßigen Überlegenheit in der
003  Gesamtkost nicht wesentlich zur Deckung des E-Bedarfes
004  beitragen, was ebenfalls für Fisch, Fleisch und Eier gilt.
005  interessante Ergebnisse erzielte C. Engel bei der Untersuchung
006  der holländischen Tageskost: Der überwiegende Teil des
007  Vitamins E stammt aus Brot und Gemüse. Um den Gehalt an
008  Vitamin E in 400 g Brot zu erreichen, wären umgerechnet 5 *vm 6
009  Kilogramm Kartoffeln oder 840 g Käse notwendig. Erwähnenswert
010  ist, daß reichlicher Milchgenuß doch einen Teil des täglichen
011  Bedarfes zu decken vermag. Für Schulkinder sei deshalb als
012  Schulfrühstück Milch, Vollkornbrot und Kanäckebrot
013  sehr zu empfehlen. Mangelerscheinungen. Sie zeigen sich in
014  erster Linie am Bindegewebe, an der Leber und der Muskulatur.
015  Füttert man Ratten mit gereinigten, künstlich vitaminfrei
016  gemachten Nahrungsmitteln, denen man die Vitamine A, B, C,
017  D zusetzt, so bringen sie nur tote Junge zur Welt; diese
018  Störung kann schon durch eine einmalige Tocopherolzugabe von 3 mg
019  beseitigt werden. Beim männlichen Tier führt die E-
020  Avitaminose zum Schwund der Hoden mit Zurückbildung des
021  Keimepithels, Verlust der Samenbildung und damit Sterilität.
022  Vitamin E ist also für die Fortpflanzung der Tiere ein
023  unentbehrlicher Faktor. Bei verschiedenen Tierarten, z.B.
024  Huhn, Ratte, Schaf, Hund, Affe, verursacht ein E-
025  Mangel Entartungen des gesamten glatten und quergestreiften
026  Muskelapparates einschließlich Herzmuskel. Ratten zeigten z *bp
027  B. nach längerer E-Entbehrung Muskelschwäche,
028  Lähmungserscheinungen und Krampferscheinungen,
029  unsicheren Gang, eingeschränkte Beweglichkeit, Muskelsteife.
030  Die Erkennung einer eigentlichen Vitamin-E-Avitaminose
031  bereitet beim Menschen noch Schwierigkeiten.
032  Langzeituntersuchungen bei Patienten mit Fettresorptionsstörungen
033  brachten folgende Ergebnisse. Ein Vitamin-E-Mangel
034  tritt bei diesen Kranken in drei Stadien auf. Nach einer
035  Latenzperiode von mindestens neun Monaten kommt es zu einem Abfall
036  des Vitamin-E-Gehaltes im Blut unter dem Normalwert, im
037  zweiten Stadium zeigen die roten Blutkörperchen eine herabgesetzte
038  osmotische Resistenz gegenüber Wasserstoffsuperoxid. Zwischen
039  Vitamin-E-Spiegel und Hämolysegrad besteht eine sichere
040  Wechselbeziehung. Im dritten Stadium entstehen braune Pigmente
041  in der Darmmuskulatur. Andere Forscher beobachteten bei Mangel
042  an Vitamin E beim Erwachsenen Hautverfärbungen (gelblich-
043  bräunliche), Zirrhose der Gallenblase und Kreatinurie (=
044  Auftreten von Kreatin im Harn, Stoffwechselstörung). Kinder
045  erhielten Fettstühle, dabei bestand Neigung zu einem
046  Blutkörperchenzerfall (Hämolyse). Alle Erscheinungen ließen
047  sich durch Vitamin-E-Gaben heilen. Funktionen und
048  Wirkungen. Folgende Funktionen werden den Tocopherolen
049  zugeschrieben: Vitamin E hemmt Oxidationen, es schützt die
050  ungesättigten Fettsäuren des Organismus von der Oxidation.
051  Vitamin E neutralisiert Vergiftungserscheinungen durch gewisse
052  Verbindungen, wie Kresolester, Tretrachlorkohlenstoff, Pyridin,
053  Natriumsulfit und gewisse Sulfonamide. Vitamin E gegen
054  eine Entartung der Nierenkanäle und wirkt auf die
055  Geschlechtsorgane bei Ratte und Meerschweinchen etc., wobei
056  die Eierstöcke weniger empfindlich sind als die Hoden, die
057  schwere, nicht heilbare Schädigungen aufweisen. Vitamin E
058  wirkt gegen die fortschreitenden Muskelernährungsstörung bei
059  Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen. Es treten bei Mangel
060  Kreatinurie und eine innere Verkalkung des Muskels auf. Das
061  Vitamin scheint bei gewissen Atmungsfermenten und am
062  Eiweißstoffwechsel beteiligt zu sein. Es schützt die roten
063  Blutkörperchen vor einer Auflösung. Vitamin E entfaltet
064  eine Schutzwirkung gegen Leberverfettung und Leberbrand (Schwein,
065  Meerschweinchen). Es ist beteiligt an der Anpassung des
066  Organismus an atmosphärische Luftdruckschwankungen und schützt
067  die Lunge gegen die Auswirkung eines Sauerstoffmangels und eines
068  Sauerstoffüberangebotes. Vitamin E wirkt auf die
069  Blutgefäße und den Herzmuskel ein. Diese Funktion ist sehr
070  umstritten, obwohl Vitamin E in der Behandlung von
071  Gefäßerkrankungen, Herzschäden und Durchblutungsstörungen
072  (so weist Dr. E. Szirmai von der Forschungsstelle für
073  Gerinnungsphysiologie Budapest bei täglichen Gaben von 50 mg *ya
074  -Tocopherol einen durchblutungsfördernden Effekt nach)
075  angewandt wird. Schon 1947 konnten Vogelsang und Shute
076  erhebliche Erfolge bei Herzkranzgefäßerkrankungen mit
077  Tocopherolen erzielen. Auch Dr. med. Horst Sachse weist
078  in einer Publikation auf die Arbeiten Shutes hin, der später
079  Angina-Pectoris-Patienten etwa 1 1 (math.Op.) 2 Jahre lang mit
080  ausreichenden Dosen von *ya-Tocopherol behandelt. Er erzielte
081  eine beträchtliche Besserung und z. T. vollständige
082  Behebung der Krankheitserscheinungen. Die Forscher beobachteten
083  länger als zwei Jahre über 3500 Patienten! Sie bestätigten
084  erneut ihre guten Erfahrungen mit Vitamin E bei Angina-
085  pectoris. Es scheinen gewisse Beziehungen dieses Vitamins zur
086  Hirnanhangdrüse zu bestehen. Vitamin E soll außerdem am
087  Wachstum beteiligt sein. Die Sauerstoffsparende Wirkung.
088  Vitamin E setzt den Grundumsatz herab und schützt, wie schon
089  erwähnt, leicht oxidierbare Vitamine, z. B. Vitamin A
090  und dessen Vorstufen im Darm und in den Geweben vor dem Eingehen
091  von Sauerstoffverbindungen. Es übt somit eine Sparwirkung aus,
092  indem die Verwertung des Vitamins im Organismus verbessert wird.
093  Dies ist folgendermaßen erklärbar: In den Muskelzellen werden
094  die Kohlehydrate und Fette mit Hilfe von Sauerstoff unter
095  Gewinnung von Energie " verbrannt ". Das Vitamin E greift in
096  diesen Prozeß ein, indem es den im Organismus vorhandenen
097  Sauerstoff rationell verwertet. Es kommt zu einer Einschränkung
098  der Ermüdung und Verbesserung der Erholungsfähigkeit. Nach
099  Frey hemmen die Tocopherole die Muskelermüdung und senken den
100  Grundumsatz durch Verringerung des Sauerstoffverbrauchs bei
101  gleicher Leistung. So sollen nach Angaben von Cureton
102  Spitzenathleten nach Gaben von Weizenkeimextrakten enorme
103  Leistungen erzielt haben. Interessant sind die Versuche, die der
104  Wiener Universitätsprofessor L. Prokop über die Wirkung von
105  natürlichem Vitamin E auf Sauerstoffverbrauch und
106  Sauerstoffschuld anstellte. Er stellte fest, daß durch Gaben
107  von Vitamin E (1 mg pro kg Körpergewicht) in Form von
108  Weizenkeimvollextrakten (Granoton (Sigle)) eine deutliche
109  Verminderung des Sauerstoffschuld nach Belastung auftritt.
110  Vitamin B und Vitamin E. Oski, Meyerson, Barnes und
111  Williams (Philadelphia) konnten bei 26 Patienten mit chronischen
112  Leberparenchymschäden eine Wechselbeziehung zwischen dem
113  Serumgehalt an B und Vitamin E feststellen. Nach den
114  Versuchsergebnissen kann angenommen werden, daß Vitamin E für
115  die Verwertung des Vitamins B im Körper von Bedeutung ist.
116  Möglicherweise beeinflußt Vitamin E auch den Transport des B
117  durch die Zellmembranen. Die genannten Forscher erwähnen in
118  einer Publikation im Jahr 1966 u. a. noch, daß es bei einem
119  E-Mangel zu einer extrazellulären Anhäufung von Vitamin B
120  kommt, während gleichzeitig intrazellulär ein Vitamin B Defizit
121  besteht. Fettsäuren bei Frühgeborenen. New Yorker
122  Wissenschaftler (Hassan, Hashim, Sebrell, Itallie)
123  berichteten 1966 über Untersuchungen an 16 Frühgeborenen über
124  Wechselbeziehungen zwischen E-Bedarf und dem Gehalt der
125  Nahrung an hochungesättigten Fettsäuren. Die Frühgeborenen
126  wurden in folgenden drei Gruppen aufgeteilt: Gruppe 1, 6
127  Säuglinge: der Fettanteil bestand hier ausschließlich in
128  polyensäurereichem Baumwollsaatöl. Gruppe 2, 5 Säuglinge:
129  wie bei Gruppe 1 zusätzlich 60 mg Vitamin E pro Tag. Gruppe 3,
130  5 Säuglinge: diese Gruppe erhielt Pflanzenöle mit
131  niedrigerem Gehalt an ungesättigten Fettsäuren. Nach 4
132  wöchiger Versuchsdauer betrugen die Vitamin E-Blutwerte bei
133  Gruppe 1 0,08 mg %, bei Gruppe 2 0,79 mg und bei
134  Gruppe 3 0,3 mg %. Auffallend bei 1 und 3 sind die
135  niedrigen Vitamin-E-Blutspiegel. Es traten bei diesen
136  auch Ödeme, Reizbarkeit, Hautveränderungen und ein
137  pahtologisches Blutbild auf. Durch die Verabreichung von täglich
138  25 bis 60 mg Vitamin E verschwanden die genannten Erscheinungen
139  innerhalb von wenigen Tagen. Säuglinge der Gruppe 2 blieben
140  gesund. Aus diesen Ergebnissen kann man ersehen, daß
141  Frühgeborene auf eine polyensäurereiche Kost besonders
142  empfindlich mit einer Steigerung ihres Vitamin-E-Bedarfes
143  reagieren. Medizinische Anwendung. Vitamin E wirkt
144  günstig bei Herzstörungen und Kreislaufstörungen,
145  Sterilität (wenn nicht durch anatomische Veränderungen bedingt),
146  Neigung zu Frühgeburten, Bindegewebsschädigungen,
147  Muskelrheumatismus, Arteriosklerose, akuten Leberschäden,
148  leichten Fällen von Zuckerkrankheit, Bluterkrankheit,
149  Verletzungen, Verbrennungen, Augenleiden usw.. In der
150  Kinderheilkunde wird Vitamin E verabreicht zur Steigerung des
151  Appetits, des Körpergewichtes und zur Besserung der
152  Muskelfunktion. Prof. Beckmann, Freiburg, erzielte durch
153  Vitamin E von 12,5-25 mg täglich bei Säuglingen eine
154  Gewichtszunahme. Nach Dr. E. Jülich können mangelhaftes
155  Wachstum und Blutarmut schlecht ernährter Kinder und
156  Frühgeborenen durch Vitamin-E-Gaben behoben werden.
157  Bei Masern, Keuchhusten, Ziegenpeter und Grippe konnte eine
158  Besserung des Allgemeinbefindens beobachtet werden. Nach
159  Siedentopf und Krüger wirken hohe Gaben von Vitamin E auf
160  Gefäßerkrankungen, im besonderen auf Unterschenkelgeschwüre
161  (Ulcus crusis). Die wirksamen therapeutischen Dosen betragen ein
162  Vielfaches des Tagesbedarfes. Es werden empfohlen: (Abb.)
163  Vergiftungserscheinungen sind bisher nicht bekannt geworden. Es
164  wurden sogar Tagesmengen bis zu 3 g Vitamin E über 100 Tage ohne
165  besondere Nebenerscheinungen vertragen. Vitamin K gegen
166  Blutungen. Bevor der Kopenhagener Wissenschaftler Dam seine
167  aufsehenerregende Versuche begann (1930), wurden vor allem
168  Adelsfamilien durch das Auftreten der Bluterkrankheit
169  (Hämophilie) beunruhigt. Nach H. M. Böttcher gab es vor
170  dem Ersten Weltkrieg in Deutschland dreiundfünfzig
171  Bluterfamilien mit zweihundertfünfundachtzig Blutern. Der
172  bekannteste Bluterfall außerhalb Deutschlands wurde aus Rußland
173  berichtet. Der junge Zarewitsch, der russische Kronprinz, war
174  von diesem Leiden befallen. Bei diesen Blutern ist bekanntlich
175  die Blutgerinnung stark verzögert oder unmöglich. Bei der
176  geringsten Verletzung kann die Wunde stundenlang bluten. Man
177  machte die Beobachtung, daß die Töchter einer solchen
178  Bluterfamilie selbst niemals erkranken, können jedoch die ihnen
179  mitgebene Anlage auf ihre männlichen Kinder, die dann Bluter
180  sind, übertragen. Die Söhne solcher Bluter bleiben von dem
181  Leiden frei. - Sollte hier ebenfalls ein Vitamin eine Rolle
182  spielen? Dam entdeckt den Blutgerinnungsfaktor. Dam
183  begann sein e Versuche über Fettstoffwechsel 1930. Er fütterte
184  Küken mit einer Kost, die fettfrei war und beobachtete nach
185  einigen Wochen Blutungen in der Haut und den Schleimhäuten des
186  Verdauungssystems. Er vermutete, daß hier ein Wirkstoff, der
187  im Fett enthalten ist, ausgewaschen wurde. Er fütterte Küken
188  abwechselnd mit Weizenkeimöl und Lebertran, aber der Zustand
189  änderte sich nicht. Er versuchte es schließlich mit Grünfutter
190  und tatsächlich trat ein Erfolg ein. Er nannte den Stoff
191  Vitamin K. Andere Forscher, Berkeley, Almquist, Stokstad
192  kommen ebenfalls zu dem Schluß, daß in Gras und grünen
193  Blättern ein fettlöslicher Stoff enthalten ist, der Blutungen
194  zum Stillstand bringt. Bald stellen die Forscher fest, daß
195  Blutungen bei fettarmer Kost nur bei Vögeln auftreten, während
196  bei Mäusen, Ratten, Meerschweinchen und anderen Säugetieren
197  keine Blutungen beobachtet werden. Dieses Phänomen konnte
198  später geklärt werden. Bald erkennen die Wissenschaftler, daß
199  das Vitamin K bei der Bildung des Prothrombins verantwortlich ist.
200  Unterdessen arbeitet Dam weiter. Er stellt 1937 fest, daß das
201  Vitamin K von den Kolibakterien im Darm gebildet wird. Bei
202  Experimenten an Studenten, die eine ähnliche Kost erhielten wie
203  die Küken, beobachtet man Vitamin K im Kot. Nun wissen die
204  Forscher, daß das Vitamin auch bei Menschen im Darm gebildet
205  wird ein Vitamin-K-Mangel kann auftreten, wenn zuwenig
206  oder überhaupt keine Galle in den Darm gelangt. Das
207  fettlösliche Vitamin kann dann vom Darm nicht aufgenommen werden.
208  Kurz zurück zur Bluterkrankheit. Früher vermutete man, daß
209  bei Blutern Vitamin K nicht vorhanden sei. Im Laufe der Zeit
210  entdeckte man mehrere Faktoren (Globuline, Faktoren 8, 9 10),
211  die bei Fehlen die Bluterkrankheit auslösen.

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