Quelle Nummer 153

Rubrik 12 : BILDENDE   Unterrubrik 12.02 : BUECHER

BALLETT
KLAUS GEITEL
EIN BALLETT IN DEUTSCHLAND
ECON VERLAG, DUESSELDORF-WIEN 1971, S. 11-15


001  Der König und die Königing liegen sich in den Armen, ihre
002  Kronen verzahnen sich. Wange an Wange entschlummern sie
003  hoheitsvoll. Rings um sie her sinkt der Hofstaat in niedlichen
004  Gruppen nieder. Feen treiben Gärtnerinnen und Gärtner lieblich
005  zuhauf. Die ihren Händen entfallenden Girlanden zeichnen
006  Schattenmuster auf den Boden. Der Koch in ragender weißer
007  Mütze zieht den Küchenjungen am Ohr und schwingt drohend die
008  Kelle. In manchen revolutionären Inszenierungen mag es
009  neuerdings auch umgekehrt sein. Doch was verschlägt's:
010  Rankenwerk schlingt sich vom Schnürboden herab, Portalschleier
011  nebeln nieder und hüllen das liebe Dornröschen ein, das -
012  hingestreckt in den Armen der Umstehenden - dem Kuß des
013  Prinzen entgegendämmert, der es erwecken wird aus
014  vielhundertjährigem Schlaf. Der Vorhang fällt langsam und innig.
015  Gesetzt aber nun den Fall, er höbe sich gar nicht wieder oder
016  der kußfreudige Prinz bliebe aus, das schlafende Ballett schliefe
017  weiter und weiter: wem in Deutschland würde es ernstlich fehlen?
018  Dem Publikum? Den Opernhäusern? Dem Intendant? Dem
019  Kunstbetrieb? Sehr schnell würde man sich darauf einigen, daß
020  schließlich ein altes Sprichwort besage, wer schlafe, sündige
021  nicht, und daß es sogar gefährlich sei, schlafende Hunde zu
022  wecken. Prinzen mit Kußmund bekämen Hausverbot, und wie einst
023  der Gebrauch von Spindeln wäre hinfort der Besitz von Weckuhren
024  streng untersagt. Ein Aufatmen durchzöge die Theaterkanzleien:
025  das Ballett schläft. Und statt auf ihnen zu tanzen, ginge man in
026  Zukunft auf Zehenspitzen, um es nur ja nicht zu stören.
027  Fünfundzwanzig Jahre nach seiner eher zwangsweisen Einbürgerung
028  auf den deutschen Bühnen ist das Ballett auf den meisten noch
029  immer ein Fremdling, eine beinahe exotisch anmutende Sonderbarkeit
030  - und zwar eine ebenso unverständliche wie anspruchsvolle dazu.
031  Ein Fremdkörper - jung, schlank und mitunter auch hübsch,
032  aber eben doch einer, mit dem sich nur mühsam und nach unendlichen
033  Päppelstrapazen Staat machen läßt. Eine ganz und gar unsichere
034  Sache, sperrig trotz der gewalkten Glieder, schwer manipulierbar,
035  rätselhaft. Man weis nie recht, woran man mit dem Ballett ist,
036  dieser Spezialität, aus fremden Landen frisch auf den Tisch
037  gekommen, die ständig ferner Köche bedarf, die sich
038  Choreographen oder Ballettmeister nennen, in vielen Zungen reden
039  und sich nur selten einig sind. Was gut ist oder was schlecht, was
040  zukunftsträchtig oder reaktionär ist im Ballett, läßt sich von
041  den meisten kaum unterscheiden. Natürlich hat man sich eine
042  Namenliste angelegt und kann nun ein bisschen Starfetischismus
043  treiben. Wie aber der durchschlagende Erfolg zu erzielen ist,
044  worauf er gründet, das weiß man nicht. Man betreibt Ballett
045  für den Tag, für die Stunde. Dieses Kalkül aber verschlägt
046  nicht. Das Ballett rechnet in Jahrzehnten. Und seine Wunder
047  lassen sich nicht kommandieren. Das Ballett in Deutschland war
048  kaum einen Augenblick unabhängig vom Ausland. Es hielt seinen
049  Einzug mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, die sich
050  unter der Hand als Ballettnationen entpuppten. Rußland,
051  Amerika, England und Frankreich, fasziniert von der Idee einer
052  geistigen Umerziehung des besetzten Landes, schickten als
053  Sendboten künstlerischer Herrlichkeit Ballettensembles in das
054  niedergeworfene Reich: Solisten des Bolschoi-Balletts, das
055  englische Sadler's Wells-Ensemble, das später zum Royal
056  Ballett gefürstet wurde, das New York City Center Ballett und
057  das Ballett Theatre, aus Paris die Ballets des Champs-
058  Elys‚es. Sie tanzten durch die besetzten Zonen und
059  durchlichteten das Alltagsgrau des Nachkriegselends in den
060  Städten. Man strömte dem Ballett zu wie einer Offenbarung,
061  einem reinen Quell. Deutschlands eigener Beitrag zum Bühnentanz
062  schien dagegen verpestet. Der Ausdruckstanz der zwanziger Jahre,
063  den das Ausland als " German Dance " gefeiert hatte, war
064  krompromittiert. Ungeliebt und ungefördert vom
065  Nationalsoziallismus, sogar von ihm als kulturbolschewistisch
066  gegeißelt, hatte er sich dennoch im Rahmen der Berliner
067  Olympischen Spiele noch einmal ausgestellt und vor den Karren der
068  Kulturpropaganda spannen lassen. Später war er ins Martialische
069  übergewechselt oder ins Unverbindliche ausgewichen, ins Kauzige,
070  Sketchhafte, in die flott ausschwingende Nummer. Seine
071  rhythmischen Grundlagen wurden von blonden, vollbusigen Mädchen
072  usurpiert, die reifenschwingend " Glaube und Schönheit "
073  tänzerisch zu feiern vorgaben. Der Ausdruckstanz war zu
074  tänzerischen Spielen degeneriert. die Laban, Kurt Jooss, die
075  Wigman, Palucca und Kreutzberg sich nicht hatten träumen lassen.
076  Er war zum Alptraum geworden. Insgeheim aber hatte das Ballett
077  weiter seine strengen Formen gezüchtet, hatte im Bombenhagel
078  seine fünf Positionen geübt, war bei der Stange geblieben.
079  Nichts hatte es abbringen können von seinem Exercice, den
080  täglichen anderthalb Stunden, in denen die reine, von Tradition
081  geprägte Form, die ausgeglühte Technik die Oberhand gewann und
082  behilet über Sorgen und Nöte des Tages. Geschmeidig für die
083  Stunde Null, weltverloren und hingegeben einer ästhetischen
084  Anschauung, für die ein auswärts gedrehtes Bein, ein
085  gestreckter Fuß, ein aufgerichteter Hals, wachsend aus
086  herabfallenden Schultern, wichtiger war als eine Sondermeldung
087  über die Versenkung Tausender von Bruttoregistertonnen oder eine
088  Zuteilung von Bohnerwachs auf Abschnitt A, arbeitete sich das
089  Ballett einer ungewissen Zukunft entgegen. Inmitten des Todes
090  ringsum und des Niederbruchs strebte es Leichtigkeit an,
091  Schwerelosigkeit, Lebendigkeit. Es ließ sich nicht niederwerfen
092  in den Staub. Es hoffte auf künftige Tage. Wenn es je ein
093  Mirakel gab auf der deutschen Bühne, dann in das Bewußtsein des
094  Publikums, diese schimmernde Parade einer tanzenden Jugend,
095  deren Unschuld an den frisch aufgedeckten Verbrechen ihr aus dem
096  Gesicht leuchtete, die rein war, unbefangen und unbelastet,
097  gestählt nicht in Stahlgewittern, wohl aber durch Selbstzucht,
098  Energie und selbstauferlegte Askese. Niemals zuvor und nie wider
099  war das Prinzip Hoffnun zu annähernd so reiner und sinnlicher
100  Anschauung gebracht wie in diesen ersten Tagen des deutschen
101  Ballettts. Sein Ernst Bloch war eine Frau: Tatjana Gsovsky.
102  Sie hauste im Ungefähr, jedoch mit fester Adresse. Sie
103  erfand neu, was längst schon erfunden war, doch spitzte siees zu,
104  daß es nicht nur treffen, sondern auch haften konnte. Sie gab dem
105  deutschen Ballett Richtung, sie wies ihm das Ziel, sie schoß
106  ins Schwarze. Sie fesselte das Ballett an sich und das Publikum
107  an das Ballett. In früheren Jahrhunderten hätte man sie
108  sicherlich der Magie überführt und als Hexe verbrannt. Am 27.
109  Februar 1946, im Todeswinter, im zertrümmerten,
110  verhungernden Berlin hob sich zum ersten Male nach dem Kriege der
111  Vorhang über einem Ballettabend der Staatsoper in ihrem
112  Ausweichquartier, dem Admiralpalast. Auf dem Programm:
113  Glucks " Don Juan " - und dazu nun gleich das schwierigste,
114  schönste und unnahbarste aller Ballette, vor dem noch heute die
115  meisten Choreographen zurückschrecken: Ravels " Daphnis und
116  Chloe. " Den Daphnis tanzte Gert Reinholm. Im
117  abschließenden 'Bolero " Ravels aber stand Tatjana Gsovsky
118  selbst auf der Bühne, eine düstere Flamme, eine Tänzerin von
119  bannender Anziehungskraft, und sie warf ihren Zauber wie ein Netz
120  über das Publikum. Sie hielt es anderthalb Jahrzehnte gefangen.
121  Sie wurde zur Galionsfigur des Balletts in Deutschland. Aus
122  ihrer Schule quollen Talente in Fülle hervor und trugen den Ruf
123  dieser Schule weit durch die Lande. Die Autorität über das
124  Ballett, die heute John Cranko, wenn auch nicht unbestritten,
125  genießt, übte damals die Gsovsky unbezweifelt und unangefochten.
126  Ihre Popularität kannte in der deutschen Ballettwelt keinen
127  Vergleich. Das Interesse strömte ihr zu, ihre Premieren waren
128  ein Treffpunkt des noch kümmerlich mondänen., intellektuell aber
129  höchst beherzten Berlins. Ihre labyrinthische Zimmerschlucht
130  neben ihrem Ballettstudio sammelte auf Kisten und Kästen junge
131  Künstler zu endlosen nächtlichen Debatten. Ballett schien allen
132  als die neue, die erlösende Kunst, voller Zukunft und
133  Schönheit: eine Formwelt, geschaffen, die reale Welt aus den
134  Angeln zu heben. Die Gsovsky stellte das alte Diaghilew-
135  Repertoire in neuen Fassungen vor: " Petruschka ", " Geist
136  der Rose ", " Nachmittag eines Fauns ", " Der Zauberladen
137  ". Hindemiths " Noblissima Visione " und Beethovens " Die
138  Geschöpfe des Prometheus " kamen hinzu. Dann wurden die ersten
139  abendfüllenden Werke erarbeitet: Prokofieffs " Romeo und
140  Julia ", Tschaikowskys " Dornröschen ", der " Don Quixote
141  " von Leo Spies. Den Abgesang der ersten Aera Sovsky bildete
142  ein kleines handloses Ballett von unendlicher Süße und
143  Zärtlichkeit: die " Hohe Schule ", getanzt zu Thema und
144  Variation aus Tschaikowskys Suite Nr. 3. Dieses erste
145  Ensemble der Gsovsky wußte zu tanzen und hatte Charakter. Es
146  kitzelte bravourös die Sinne, zeigte sich technisch glänzend in
147  Form, mehr noch aber nahm es durch seinen Corpsgeist gefangen,
148  durch darstellerische Intelligenz, durch jungen Elan, durch die
149  schlanke Hoheit, mit der es sich präsentierte - Tugenden, die
150  sich erst viel später und an anderem Ort wieder zusammenfanden.
151  Hier aber waren sie gleich zu Beginn ein Bündnis eingegangen,
152  waren mit glücklicher Hand und sicherem Blick für individuelle
153  Qualitäten herbeiengagiert und einer gemeinsamen Zcuht und
154  Aufzucht unterworfen worden. Der Stilwille der Gsovsky formte
155  das Ensemble zu einem Instrument von geschmeidigem
156  Ausdrucksreichtum. Und sie wußte auf ihm betörend zu spielen.
157  Sehr schnell wurde Natascha Trofimowa die Lieblings-
158  Ballerina Berlins, sein Dornröschen, seine Julia: eine
159  Tänzerin von lächelnder Holdheit, eine Mädchenfrau, weich und
160  warmherzig, eine Ballerina der gerundeten Linien. Gert Reinholm,
161  der junge Nobelmann und Romantiker des Ensembles, beherrschte
162  die Bühne und das Parkett mit seiner lichten Grandezza, einem
163  biegsamen Naturell, das mühelos einschwang in die geforderte helle
164  Pathetik. Ihm auf den Fersen Peter van Dyk und Rainer
165  Köchermann mit ihrer jubilierenden Technik, ihrer federnden
166  Sprungkraft und ihrer Stilsicherheit. Enise Laumers schmerzliche
167  Linie prägte sich ein, ihre Sensibilität, ihre Kantilene. In
168  Maria Fris tanzte jeder Nerv. Bis an den Rand der Hysterie
169  wußte sie ihre Rollen zu treiben, um dann auf der erzeugten
170  Spannung, leicht und gelöst tanzend, dahinzusegeln. Ein
171  Ensemble - wie geschaffen, zusammenzubleiben. Gleich auf
172  Anhieb schien eine Truppe dem Status eines Nationalballettes nah.
173  Die Hoffnung wurde gefällt: das Ensemble zerstob in alle vier
174  Winde. Das immer stärkere Auseinanderklaffen der geteilten
175  Stadt entzog ihm die Möglichkeit zur ungestörten Fortsetzung der
176  erfolgreich begonnenen Arbeit. Man muß diese Situation klar
177  sehen, um die Entwicklung des Balletts in Deutschland zu
178  verstehen, die alles andere als eine kontinuierliche ist: ein
179  unentwegtes Abbrechen und Neubeginnen, ein Resignieren und Sich
180  -Aufraffen, ein Abschiednehmen und Wiederfinden. Natürlich
181  gab es auch Ausnahmen von der traurigen Regel.In Wuppertal
182  gelang es Erich Walter im Zusammenwirken mit Heinrich Wendel,
183  ein Ensemble aufzubauen, das sich wie eine schöne Konstante in
184  der Erscheinungen Flucht ausnahm. Wuppertal wurde für viele
185  Jahre zu einer Oase des Balletts. Noch überraschender freilich
186  war, daß sie nicht als Fata Morgana enthüllte. Das
187  Wuppertaler Team, nach Düsseldorf-Duisburg übergesiedelt,
188  setzte seine Konzeption auch dort durch, spann den Faden weiter,
189  in die Zukunft hinein. Darüber ist an anderer Stelle dieses
190  Buches ausführlich zu lesen. Angemerkt sei hier nur, wie
191  erschreckend wenig sich das Ballett in Deutschland auf das
192  Wuppertaler Vorbild besann. Die Geschichte des
193  Nachkriegsballetts in Deutschland ist eine Geschichte ohne
194  Zentrum, ohne festen Handlungsablauf: nichts anderes als eine
195  Suite von Tableaus, die einmal mehr Hoffnung machen und einmal
196  weniger. Es ist die Geschichte sporadischer Erfolge und vieler
197  Niederlagen. Selten nur hat man de dem Ballett Zeit und Mittel
198  gegeben, sich irgendwo fest anzusiedeln und sich Tradition
199  anzumästen, sich ein kennerisches Publikum zu erobern und das
200  Verständnis zu züchten, das notwendig ist, um in die Zukunft
201  wirken zu können. Statt dessen trieb man das Ballett mit der
202  Peitsche zum schnelleren Erfolg. Jede Premiere eine
203  Existenzfrage. Das Ballett tanzte um das eigene Überleben, und
204  bis heute ist es noch nicht gesichert. Eine Caprice kann es
205  auslösen von heute auf morgen. Die Situation des Balletts in
206  Deutschland ist verzweifelt wie eh und je. Mit dem Fortgang der
207  Gsovsky aus Ost-Berlin endet die heroische Idylle der
208  Gründerjahre des deutschen Balletts. Der Kulturförderalismus
209  gewinnt an Macht. Wo alles zur Konzentration drängen müßte,
210  um der neuen Kunstform des Balletts jenen Rückhalt zu geben, den
211  es braucht, um sich und das Interesse zu konsolidieren, werden die
212  sowieso schon mediokren Möglichkeiten zerspellt und verzettelt an
213  ein irriges Viel-zu-viel. Jedem Städtchen seine
214  Ballettcompagnie: Die Sylphiden sind unter uns; Abraxas steht
215  vor den Toren. Berlin spiegelt in größtem Rahmen Chancen und
216  Miseren der künstlerischen und organisatorischen Ballettarbeit in
217  Deutschland. Darin behält es seeine Schlüsselposition bei.
218  Was sich in diesen Jahren in Berlin vollzieht, findet fast
219  überall im Lande seine bitteren Repliken. Die Gsovsky ändert
220  ihren künstlerischen Kurs, es lockt sie zu ambitionierten
221  Experimenten. Noch längst ist der Boden, auf dem das Ballett
222  siedelt, verläßlich bestellt, da reizt sie der frühe
223  Avantgardismus. Sie verbündet sich mit Boris Blacher mit Hans
224  Werner Henze, mit Luigi Nono, mit Gieselher Klebe. Sie
225  choreographiert sich durch die Weltliteratur: von " Hamlet " zu
226  Gerhard Hauptmann " Bahnwärter Thiel ", der unter dem
227  Ballett-Titel " Signale " herauskommt. " Tristan und
228  Isolde " wird choreographisch neugeschaffen und Wedekinds " Lulu
229  "-Tragödien, die den Titel " Memagerie " erhalten. "
230  Der Mohr von Venedig ", Dostojewskys " Idiot " und sein "
231  Raskolnikoff " werden zu Ballett-Libretti benutzt wie auch
232  die selige " Kameliendame " des Herrn Dumas. In einer Kette
233  von Kurzschlüssen flammen choreographische Visionen bildhaft
234  zusammen. Das ergibt gleißende Momente, Initialzündungen des
235  Verständnisses, doch gleich darauf verpuffen sie wieder:
236  Ballett-Dramaturgie - aus dem Handgelenk herausgeschleudert.

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