Quelle Nummer 146

Rubrik 15 : GEOGRAPHIE   Unterrubrik 15.21 : TOURISMUS

HAUPTSTAEDTE
ANONYMUS
DIE HAUPTSTAEDTE EUROPAS (S.5 7 "EUROPAS HAUPT-
STAEDTE: EINHEIT IN DER VIELFALT" VON GEORG STEFAN
TROLLER)
BERTELSMANN-VERLAG, GUETERSLOH 1970, S.5-18


001  Europas Hauptstädte: Einheit in der Vielfalt.
002  Entgegen einer heute verbreiteten Ansicht, daß eine Stadt nichts
003  weiter bedeutet als eine Wohnmaschine und daß die Stadt, die am
004  reibungslosten funktioniert, auch die beste sei, sehen wir in
005  diesem Buch 31 große und zum Teil berühmte Städte, die ihre
006  Einwohner so ziemlich glücklich machen und die doch wesentlich mehr
007  sind als bloße Wohnmaschinen. In jeder dieser Hauptstädte
008  Europas hat sich der Charakter eines Volkes ausdrückt, und haben
009  sich - mit einigem Glück - seine Ideale verwirklicht. Diese
010  Städte sind gewachsen aufgrund des instinktiven Genies ihrer
011  Völker. Auch die großen Städtebauer, die in einigen von ihnen
012  am Werk waren, wurden letztlich getragen von diesen unbewußten
013  Wunschvorstellungen der Masse. So sehr man die individuelle
014  Leistung eines Michelangelo, eines Hildebrand, Wren, Mansart,
015  ja sogar noch die des Baron Haussmann schätzen muß, was wären
016  sie ohne diesen Instinkt ihrer Städte bewohner, deren anonymen
017  Auftrag sie am Ende erfüllten? So wollten die Römer
018  ihr Rom, so die Pariser ihr Paris! Und dieser
019  Instinkt konnte ja auch durchaus selbständig schöpferisch sein -
020  wie in der Wiener Innenstadt, den Pariser Arbeitervororten, der
021  Londoner City, den Amsterdamer Grachten, dem Basarviertel
022  Istanbuls oder der Prager Altstadt. Macht die scheinbare
023  Planlosigkeit, die Stückelei, das kunterbunte Durcheinander
024  vieler dieser Viertel sie etwa unbewohnbar oder häßlich? Aber
025  nein! Was aus rein praktischen Gründen (des Platzmangels, des
026  Schutzes, der Wärme) so und nicht anders gebaut werden konnte,
027  erweist sich wunderbarerweise als schön, ja schöner vielleicht
028  für manche als das Monumentale, Großräumige späterer
029  Straßenschöpfer. Oder besser: ist es nicht vielmehr gerade die
030  Verquickung zwischen dem unbewuß Enstandenen und dem bewußt
031  Ausgedachten, was die großen europäischen städte so anziehend
032  macht? Die konstruierten Kathedralen, umgeben von ihrem
033  mittelalterlichen Winkelwerk (...) der Hradschin mit dem
034  Alchimistengäßchen zu seinen Füßen (...) die Pariser Place de
035  Vosges im Zentrum des alten Marais-Viertels (...) das gebaute
036  inmitten des Gewachsenen - gerade solche Wiedersprüchlichkeiten
037  ergeben das faszinierende Fluidum der europäischen Städte:
038  Einheit in der Vielfalt, Gradliniges durch Krummes aufgefangen,
039  Großangelegtes durch Verschachteltes intim gemacht und Gewaltiges
040  durch Biederes, Alltägliches erst eigentlich erhöht und
041  geheiligt. Diese Verbindung von Gegensätzlichkeiten hinzunehmen,
042  zu lieben, zu verdauen, ja in ihr geradezu das Spiegelbild des
043  Lebens zu sehen, ist einer der großen Beiträge der europäischen
044  Zivilisation. Wer in solchen Städten aufwuchs, der bekam nicht
045  nur das unersetzliche Gefühl der Verwurzelung mit, der
046  Dazugehörigkeit zu dem ganz spezifisch gemischten Aroma seiner
047  Stadt - sondern darüber hinaus ein Gespür für das, was unser
048  Leben eigentlich ist, nämlich " gemischt ". Gemischt aus
049  Erhabenem und Lächerlichem, Komik und Tragik, Geschäft und
050  Träumerei. Mitsamt den unzähligen Nuancen, die dazwischen
051  liegen. Denn in Europas Hauptstädten trat man schon mit einem
052  Gefühl für die Nuance ins Leben! Ohne das irgendwas davon
053  hätte gelehrt oder aufgepfropft werden müssen, nahm man
054  automatisch den Charakter seiner Stadt an. Je spezifischer,
055  unverwechselbarer der Charakter der Stadt, um so eigentümlicher
056  auch der ihrer Bürger, und dementsprechend noch konzentrierter der
057  ihrer Politiker, Künstler und Gelehrten. Wobei es natürlich
058  oft passierte, daß die avantgardistischsten Pariser, die
059  hintergründigsten Wiener, die unternehmungslustigsten Londoner
060  oder die kessesten Berliner gar nicht von dort stammten, sondern
061  aus der Provinz in die Städte eingewandert waren, deren
062  Charakter sie dann um so bewußter empfingen, auskosten und
063  verkörperten. Die europäische Hauptstadt hat sich von je
064  Aufgaben gestellt, die über das Arbeitszentrum,
065  Verwaltungszentrum, und Industriezentrum hinausreichten.
066  Die hat immer danach gestrebt, die Kristallisation ihres Landes
067  zu sein, den Idealtypus des Volkes herauszufiltiren, seine
068  äußersten Möglichkeiten zu verwirklichen. Die Potenz des
069  Hinterlandes wurde von ihr gesteigert und geschärft, eine
070  menschliche Landschaft von solcher Eigenart und Vielfalt
071  geschaffen, daß ihr Relief manchenorts die faktische Zerstörung
072  der Stadt um Generationen überdauert. Dieser Prozess der
073  Selbstverwirklichung unserer Städte hat vor etwa einem
074  Jahrhundert zu einem großen Anlauf angesetzt, der dann in den
075  Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seinen vorläufigen Höhepunkt
076  erreichte. Die turbulenten Umwälzungen seither haben nicht allle
077  Städte gleich gut überstanden. In manchen haben Bomben oder
078  politische Umstände dafür gesorgt, daß der eigenständige
079  Charakter sich verdünnte, in anderen waren es ideenlose
080  und instinktlose Urbanisten. Obwohl, wie ich meine, der Reiz
081  der modernen Großstadt gerade auf dem Nebeneinander inkongruenter
082  Teile beruht, versucht man jetzt, mit einer alles niederwalzenden
083  Nivellierung eine künstliche Einheitlichkeit zu schaffen, deren
084  innere Leere man durch Gigantismus kaschieren muß. Ist das die
085  Zunkunft der europäischen Hauptstädte? Werden bald unsere
086  Stadtkerne lebenslose museale Überbleibsel sein, in denen die
087  Außenbewohner sonntags spazieren gehen? Man kann es nicht
088  glauben. Die Vitalität, der Einfallsreichtum, die
089  Gestaltungsfreude unserer Zeit sprechen dagegen, aber auch unsere
090  zunehmende Unzufriedenheit mit dem genormten Konsum als
091  Lebensinhalt. Man kann sich farbenfrohe neue Städte vorstellen,
092  in denen das in der Vergangenheit Gewachsene seine organische
093  Fortsetzung findet - festliche, freudige und hoffentlich auch
094  etwas verspielte Gebilde, hervorgegangen aus der Sehnsucht ihrer
095  Bürger nach höherem Ausdruck ihrer Besonderheiten. Daran nicht
096  glauben, heißt Europa abschreiben und die Vielfalt der Formen,
097  zu der es stets fähig war. Wenn man heutzutage viel in der Welt
098  herumkommt, merkt man, wie die Kulturen miteinander verschmelzen,
099  und das ist natürlich ein Fortschritt auf dem Weg zum friedlichen
100  Nebeneinander und Miteinander. Aber andererseits sieht
101  man auch, daß das Beste, das die Menschen hervorbringen, auf
102  dem beruht, was ihnen an jedem Ort spezifisch und eigentümlich ist.
103  Wer das verleugnet oder dessen verlustig geht, der findet sich
104  früher oder später in einem luftleeren Raum. Nun, von allen
105  Orten die ich kenne, sind es am meisten die europäischen
106  Hauptstädte, die ihren Bewohnern jenen soliden Grund geben, der
107  unerläßlich ist als Ausgangspunkt schöpferischer Leistung.
108  Darum sehe ich das vorliegende Buch nicht so sehr als Aufforderung
109  zu schönen Reisen oder als ihren Ersatz, auch nicht als ein
110  Museum städtebaulicher Kostbarkeiten, sondern als einen Ruf,
111  der uns in Erinnerung bringt, woher wir kommen und wer wir sind.
112  Wir Europäer (...) (auch jenseits mancher Grenzflüsse und
113  Grenz pfähle). Wir Hauptstädter (...) (auch wenn wir aus
114  der Provinz stammen). Wir Madrilenen und Budapester,
115  Stockholmer und Dubliner (...) Wir haben aus diesen Städten etwas
116  gemacht, das uns Kraft gab, das uns ernährte, wovon wir zehren
117  konnten! Wir haben aus Holz und Stein und Ziegel und Beton
118  lebendige Gebilde geschaffen, gewiß teilweise unzureichend für
119  unsere modernen Notwendigkeiten, aber dennoch lebendig, und das
120  heißt bewahrenswert, fortsetzungswürdig! Europäer, hier sind
121  unsere Hauptstädte. Hier sind (...) wir! (Abb.) Amsterdam
122  Stadt der hundert Grachten. Seiner vilen Kanäle wegen hat
123  man Amsterdam ein " Venedig des Nordens " genannt. Wie hier
124  die berühmte Amstelbrücke, überspannen nicht weniger als 650
125  Brücken, viele davon krumm wie Katzenbuckel, die 100 als
126  " Grachten " bezeichneten Kanäle. In Amsterdam gibt es mehr
127  Brücken und mehr Kanäle als in Venedig. Wie Venedig ist
128  auch Amsterdam ein künstliches Gebilde. Menschlicher Fleiß und
129  Phantasie haben die Stadt dem nassen Element abgelistet. Wie die
130  Venezianer haben auch die Amsterdamer keinen festen Boden unter
131  den Füßen, sondern eine Moorschicht. Wer auf diesem Boden ein
132  Haus bauen will, muß seit eh und je zwanzig Meter lange
133  Baumstämme einrammen, bis auf eine tragfähige Sandschicht.
134  Auch das Fundament des Königlichen Schlosses auf dem Dam, im
135  Mittelpunkt der Stadt steht auf Pfählen. Jedes Schulkind weiß,
136  wie viele es sind. Es gibt dazu eine " Eselsbrücke ": Vor
137  die Tage des Jahres wird eine 1 gesetzt, dahinter eine 9. Das
138  macht 13659 Pfähle. Die erste Siedlung im Bereich des heutigen
139  Amsterdam entstand an der Amstel, einen kleinen Fluß. Sie gab
140  der Stadt auch den Namen. Lange Jahre wohnten nur ein paar
141  Fischer auf der Sandbank im sumpfigen Delta der Amstel. Im
142  Mittelalter erkannten tüchtige Kaufleute die grosartige Lage
143  Amsterdams als Drehscheibe des Warenverkehrs zwischen Übersee
144  und Europa und beschlossen, auf dem morastigen Boden eine Stadt
145  anzulegen. Ein Blick auf den Amsterdamer Stadtplan zeigt, mit
146  welcher mathematischen Präzision sie vorgingen. Die Kreise der
147  Grachten teilen die halbmondförmige Stadt in immer größere
148  Ringe ein. Die schönsten von ihnen sind die Herrengracht,
149  die Keizersgracht und die Prinsengracht. Hier
150  ließen sich die Reichsten und Vornehmsten nieder. Ihre schnell
151  verdienten Millionen investierten sie in prächtigen Herrenhäusern.
152  Amsterdams Innenstadt ist das schönste Spiegelbild des
153  " Gouden Eeuw ", des goldenen Zeitalters Hollands, als die
154  Bewohner der kleinen Nordseereplublik die bedeutendste Seefahrer
155  nation und Händlernation Europas waren. Auf den
156  Bildern der alten Meister sind sie in Öl verewigt, die reichen
157  Minjnheren von Amsterdam. Pfeifeschmauchend sitzen sie rosig und
158  schlau mit dicken Silberketten auf dem Bauch in ihren gemütlichen
159  Kachelstuben. Doch sie hatten ein weites Herz für die Kunst.
160  Die großen niederländischen Meister, Franz Hals, Vermeer,
161  Ruysdael, verdanken ihre Aufträge Amsterdamer Mäzenen. Der
162  Begijnhof, ein besonders romantischer Winkel, erinnert am
163  stärksten an das Amsterdam der holländischen Maler. Hinter den
164  mit Mullgardinen verhängten Fenstern sitzen noch heute alte
165  Mütterchen mit ihren traditionellen Käppchen und klöppeln -
166  wie auf einem Bild von Franz Hals. Amsterdam galt schon immer
167  als eine der tolerantesten Städte Europas. Heute ziehen seine
168  beiden fortschrittlichen und liberalen Universitäten Studenten aus
169  aller Welt magisch an. Zu Rembrandts Zeiten ließen sich
170  Tausende aus Spanien und Portugal vertriebene Juden in der Stadt
171  der Grachten nieder. Sie gaben ihrer neuen Heimatstadt auch einen
172  hebräischen Namen - Makum. Amsterdam wurde das " Jerusalem
173  des Nordens ". Rembrandt, ihr größter Sohn, hat in einem
174  Haus im Judenviertel gewohnt. Das Viertel gibt es immer noch.
175  Doch es wirkt leer und ausgestorben. Der Zweite Weltkrieg
176  zerstreute die Juden in alle Winde. Nur wenige kehrten zurück.
177  Amsterdams jüdische Bürger machten die Stadt auch zu einem der
178  Diamantenzentren auf der Welt. In einer Amsterdamer Schleiferei
179  wurden die englischen Kronjuwelen verarbeitet, erhielt der
180  " Kohinoor " den letzten Schliff. Wer will, kann heute noch
181  zusehen, wie die Rohdiamanten gesägt, geschliffen und mit
182  Facetten versehen werden. Spinoza, der große jüdische
183  Religionsphilosoph, war ein Amsterdamer Diamantenschleifer. Er
184  blieb seinen Steinen auch treu, als ihm die Heidelberger
185  Universität einen Lehrstuhl anbot. Doch auf die goldenen
186  Jahrhunderte folgte der Niedergang. Allmählich versandete die
187  Zuidersee, das " Friesische Meer ", das Hollands Hauptstadt
188  mit der See verband. Inzwischen verwandelte sie sich durch die
189  großartige Anstrengung einer ganzen Nation in Land, das das
190  übervölkerte Holland so dringend braucht. Damals aber bedeutete
191  ihr Versanden Amsterdams Ruin. Erst Ende des letzten
192  Jahrhunderts erwachte die Stadt wieder zum Leben. Durch den
193  Nordseekanal bekam sie einen neuen Zugang zur See. (Abb.) Handel
194  und Wandel florieren heute in Amsterdam wie einst. Dafür gibt es
195  tausend andere ungelöste Fragen. Der Amsterdamer Boden ist nie
196  zur Ruhe gekommen, er lebt und bewegt sich. Seine Bewegungen
197  übertragen sich auf die Fundamente der Häuser in der Altstadt,
198  die teilweise vier Meter unter dem Wasserspiegel liegt. Die
199  Straßen sind zu schmal und zu eng für die Bedürfnisse einer
200  modernen Großstadt. Hinter der Romantik der Backsteinfassaden
201  und alten Ulmen, die sich in den Grachten spiegeln, lauert der
202  Verfall. Viele Häuser werden nur durch Stützbalken wie mit
203  Krücken aufrecht erhalten. 5000 Gebäude stehen unter
204  Denkmalschutz. Aber die Behörden sind machtlos, wenn ein
205  Privatmann das renovierungsbedürftige Haus so verkommen läßt,
206  dass es abgerissen werden muß und an seiner Stelle ein seelenloser
207  Neubau entsteht. Die Amsterdamer kämpfen verzweifelt um ihre
208  schöne Stadt. Selbst die Tatsache, daß sie in den engen
209  Straßen weitgehend auf Autos verzichten müssen, nehmen sie mit
210  Humor hin. Sie sind Radfahrer aus Leidenschaft. Vor den
211  Büros und Geschäften parken sie in Sechserreihen. Die 500000
212  Amsterdamer Fahrräder sind eine harte Nuß für die Polizei der
213  Hauptstadt. Sie weiß nicht mehr wohin mit den vielen verlassenen
214  Rädern. Die Bewohner der " Stadt der 1000 Inseln " sind sich
215  einig, daß bald etwas zur Rettung von Amsterdam geschehen muß.
216  Einstweilen steht nur noch nicht fest, wer das bezahlen soll. So
217  kommt es, daß die Stadt eigentlich nur zweimal im Jahr den
218  märchenhaften Bildern der großen Maler gleicht: im Frühling,
219  wenn Blumen und Grün das Stadtbild zu verzaubern beginnen, und
220  im Winter, wenn die Grachten zufrieren und groß und klein auf
221  Schlittschuhen über die Kanäle laufen. Andorra Stadt
222  hinter den Bergen. In der Bergeinsamkeit der Pyrenäen
223  liegt die " Hauptstadt " eines Landes, in dem die verworrenste
224  Historie Tatsache ist. Andorra la Vella, " Hauptdorf " des
225  Zwergstaates Andorra, ist nicht mit architektonischen Reizen
226  gesegnet - aber es hat mancherlei zu bieten, was man im 20.
227  Jahrhundert kaum für möglich hält. Ein paar Dutzend Wohn
228  häuser und Geschäftshäuser, viele Andenkenshops, ein
229  Marktplatz so groß wie eine Sandkiste, ein altersgebücktes
230  Kirchlein - viel mehr gibt es in Andorra nicht zu sehen. Aber
231  auf seinen 462 qkm Fläche beherbergt das Liliputländchen noch
232  heute so viele Absonderlichkeiten, daß man ganze Doktorarbeiten
233  damit füllem könnte. Der riesengroße Schlüssel zu all diesen
234  Kuriositäten wiegt drei Pfund. Mit ihm wird an jedem Morgen das
235  wichtigste Haus von Andorra aufgeschlossen. Obwohl an der
236  " Casa de la Vall " ein windschiefes Türmchen klebt, hat sie
237  große Ähnlichkeit mit einer Scheune.

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