Quelle Nummer 115
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.06 : KINDERBUECHER
SOKRATES D. SPATZ/ALLE MEINE BLAETTER/SABINE U.PUPPE
KURT HOCK/SIGRID HEUCK/IRMGARD LUCHT/JOSEF GUGGENMOS/
KURT MUEHLENHAUPT
HOCK/HEUCK: SOKRATES DER SPATZ, ANNETTE BETZ VERLAG,
MUENCHEN 1971, BILDERBUCH, KEINE SEITENZAEHLUNG,
VOLLSTAENDIG AUFGENOMMEN.
LUCHT/GUGGENMOS: ALLE MEINE BLAETTER...FRIEDRICH
MIDDELHAUVE VERLG, KOELN 1970, KEINE SEITENZAEHLUNG
VOLLSTAENDIG AUFGENOMMEN.
MUEHLENHAUPT: SABINE UND IHRE PUPPE, PARABEL VERLAG
MUENCHEN 1971, KEINE SEITENZAEHLUNG, VON TITELSEITE
AN 8 SEITEN AUFGENOMMEN.
001 SOKRATES der Spatz. In einem grossen Dorf lebte
002 ein kleiner Spatz mit Namen Sokrates. Das war ein pfiffiger
003 Geselle mit einer sehr lauten Stimme. Heute jedoch hatte er sich
004 in einem blühenden Apfelbaumchen versteckt und blinzelte traurig in
005 die Sonne. Er wollte das Singen erlernen, aber er brachte nichts
006 als ein zaghaftes " Tschilp " aus seiner Kehle. Als es dunkel
007 war, verliess er leise und heimlich den Garten. Nur die kleinen
008 Apfelblüten zitterten, als die Nacht seine kurzen schwirrenden
009 Flügelschläge verschluckte. Lange flog Sokrates dahin, bis er
010 in den Wald kam. Die Bäume sahen aus wie eingewurzelte Riesen,
011 die den Mond verfinsterten. Sokrates setzte sich auf einen Ast,
012 steckte das Köpfchen unter den Flügel und schlief bis zum
013 nächsten Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als ihn
014 eine dicke Ente aus dem Schlummer weckte. Sie quakte auf dem
015 nahen Teich herum. Ringsum wuchs Schilf, und graugrüne
016 Frösche sprangen mit lautem Platschen ins Wasser Als Sokrates
017 sein morgendliches Bad nahm, näherte sie sich schnatternd dem
018 Ufer. Neugierig wollte er wissen, was sie da sänge. " Mein
019 Lied ist schwierig ", sagte die Ente. " Ich muss mir Mut
020 machen, bevor ich den Dingen auf den Grund gehe. " Darauf
021 quakte sie noch einmal, steckte den Kopf ins Wasser, stocherte
022 mit ihrem breiten Schnabel im feuchten Uferschlick herum und reckte
023 ihren kurzen Schwanz in die Höhe. Jetzt, da sie weder hören
024 noch sehen konnte, sprang der Fuchs aus dem Gebüsch und schnappte
025 sie. Ausser ein paar Federn blieb nicht mehr von ihr übrig. Die
026 nahm der Wind und blies sie hurtig über den Teich aufs freie Feld
027 hinaus. Sokrates flog ihnen nach. Im Feld sass die Lerche auf
028 einem Stein. Als Sokrates zu ihr hinflatterte, erhob sie sich
029 jubilierend. " Wie schön du singst ", sagte Sokrates. " Wie
030 machst du das? " " Ich entfliehe der Erde ", tirilierte die
031 Lerche. " Je höher ich steige, desto leichter werde ich und
032 desto feiner klingt mein Lied. " Darauf flog sie in den Himmel
033 und war bald nicht mehr zu sehen. Sokrates kratzte sich mit dem
034 linken Füsschen am Kopf und dachte nach. Als er sich erheben
035 wollte wie die Lerche und dabei einen Triller versuchte, purzelte
036 er durch die Luft und fiel auf die Erde zurück. Schnell flog
037 Sokrates zu einer Kastanie und schlüpfte in ein Astloch. Hier
038 im Dunkeln fühlte er sich geborgen und konnte sich schämen, ohne
039 dass ihm jemand zusah. Auf einmal ertönte ein zartes Pfeifen,
040 das in ein dunkles Flöten überging. Das klang so fein, dass
041 Sokrates sein Köpfchen herausstreckte und einen grossen gelben
042 Vogel mit pechschwarzen Flügeln erblickte. " Wie schön du
043 singst ", sagte Sokrates. " Wie machst du das? " " Das ist
044 kein Geheimnis ", antwortete der Pirol. " Du musst dich
045 loslösen vom Ast, den Kopf heben, tief Atem holen und alles,
046 was in deiner Brust ist, nach draussen rufen. Die Haltung ist
047 wichtig. Du musst im Licht stehen, wenn du singst. " Da schoss
048 der Falke wie ein schwarzer Blitz aus dem Himmel, streckte seine
049 langen Krallen aus und erdolchte ihn. Sokrates zitterte, denn der
050 Falke hatte auch ihn in seinem Astloch erspäht. Er kam dicht an
051 das Versteck heran, und der kleine Spatz sah nur noch das
052 schreckliche gelbgeränderte Auge. Da fürchtete er sich sehr.
053 " Was tust du hier in diesem Loch, du Wicht? " fragte der Falke.
054 Sokrates öffnete seinen Schnabel, doch er konnte vor lauter
055 Angst kaum sprechen. " Ich möchte das Singen erlernen ",
056 piepste er schliesslich. " Wozu singen ", krächzte der Falke.
057 " Vögel, die schön singen, hören nichts mehr. Der Gesang
058 verschliesst ihre Ohren. Sieh diesen hier, wie bunt er ist und
059 wie schön er sang. " " Warum hast du ihn dann getötet? "
060 fragte Sokrates. " Weil ich Hunger habe ", sagte der Falke.
061 " Ich töte nur, weil ich Hunger habe, aber ich töte nicht mehr,
062 als ich fressen kann. Komm nur heraus, ich tu dir nichts. "
063 " So tötest du keine Spatzen? " " Oh doch, wenn ich euch
064 erwische. Aber ihr könnt nicht singen, seid unauffällig, flinck
065 und wachsam. " Damit breitete der Falke seine kräftigen
066 Schwingen aus und nahm den Pirol mit sich fort, der wie ein
067 vergilbtes Blatt in seinen Klauen baumelte. Als Sokrates seine
068 Angst überwunden hatte, und das dauerte eine Weile, hüpfte er
069 ins Freie. Dort setzte er sich auf einen dicken Ast, plusterte
070 sich auf, blinzelte in die Morgensonne und tschilpte einmal laut
071 und kräftig. Aber jetzt verspürte er Hunger und flog in den
072 nahen Park. Dort pickte der Pfau in den Blumenbeeten, und der
073 kleine Spatz liess sich neben ihm nieder. " Wie schön du bist ",
074 sagte Sokrates und schluckte ein Samenkorn hinunter. " Ach ja ",
075 kreichste der Pfau und spreizte sich. Er zog seinen Schwanz
076 wie eine Schleppe hinter sich her. " Schönheit ", kreischte
077 der Pfau, " beherrscht alles. " Er reckte sein bekröntes
078 Haupt. " Aber wenn du erst meinen Gesang hörst, bleibt dir
079 dein Lied in der Kehle stecken. " Dabei drehte er seinen langen
080 Hals und stiess einen jämmerlichen Schrei aus. Erschreckt flog
081 Sokrates davon. " Bewundere mich ", kreischte der Pfau hinter
082 ihm her. Aber das hörte der Spatz nicht mehr. Am Ende des
083 Parks setzte er sich auf einen Lattenzaun und wartete auf den
084 Abend. Da fing ein kleiner unscheinbarer Vogel in seiner Nähe
085 zu singen an. Es klang so schön, als habe die untergegangene
086 Sonne ihre Stimme auf der Erde zurückgelassen. Mitten in einem
087 Triller brach der Gesang plötzlich ab. " Wer bist du? "
088 fragte Sokrates. " Ich bin die Nachtigall ", antwortete der
089 kleine Vogel. Wie schön du singst ", sagte Sokrates. " Wie
090 machst du das? " " Ich singe eingach ", zwitscherte die
091 Nachtigall. " Ich singe, was mein Herz singt. Aber ich bin
092 schon zu lange in einem Käfig, mein Lied ist eingesperrt, es
093 fehlt etwas daran. " " Dein Lied ist wunderschön ", sagte
094 Sokrates. " Du hast soviel, kannst du mir nicht eine Winzigkeit
095 davon geben? " " O ja, ich gebe dir den letzten Triller. Er
096 sitzt mir so unnütz in der Kehle. " Und Sokrates nahm den
097 Triller, diesen kleinen Jauchzer, und flog mit ihm voller Freude
098 zurück in sein Apfelbäumchen. Müde von der langen Reise
099 steckte er sein Köpfchen unter den linken Flügel und schlief bis
100 zum nächsten Morgen. In aller Früh probierte er den Triller
101 der Nachtigall. Aber sonderbar, die anderen Vögel, die aus
102 ihrem Schlaf erwachten, schienen ihn nicht zu hören, sondern
103 machten sich lustig über den Spatz. Das jedoch störte Sokrates
104 nicht mehr. Er selbst wusste es ja und das genügte ihm. Und wenn
105 man ein besonders feines Ohr hat, so kann man den Anfang jenes
106 Trillers erkennen. Freilich, man muss geduldig sein und lange
107 zuhören. Alle meine Blätter (...). Die Blätter auf den
108 Büschen und Bäumen, was können sie erzählen? Es gibt dicke,
109 rauhe Blätter, das Haselblatt ist so eins. Das Birkenblatt
110 ist zart. Das Erlenblatt gehört zu den rundlichen, derben. Das
111 Weidenblatt ist das schlankste von allen. Jedes Blatt ist anders.
112 Doch eines ist allen Blättern gemeinsam. Dort, wo sie aus der
113 Knospe geschlüpft sind, dort bleiben sie sitzen am Zweig. Darum
114 lieben die Blätter den Wind. Er gibt sich mit ihnen ab, er
115 spielt mit ihnen. Er trägt Nachricht von Baum zu Baum, von
116 Busch zu Busch. Da sind die Vögel anders, lauter. Sie achten
117 nicht auf die leise Sprache der Blätter. Die Vögel rufen und
118 lärmen in den Zweigen. Sie alle haben viel gesehen, der
119 Laubsänger und der Rotschwanz, der Neuntöter und der
120 Fliegenschnäpper, die Turteltaube, der Wendehals, der Kuckuck,
121 der Pirol. Sie waren weit. Sie können viel erzählen. In
122 den Berichten der Vögel klingen prächtige, fremdartige Wörter:
123 Sizilien, Mittelmeer, Nil, Abessinien, Kongo, Sudan,
124 Elefanten, Gazellen, Giraffen (...) " Ich bin dem Krokodil
125 mitten durch den aufgerissenen Rachen geflogen ", schreit der
126 Spatz dazwischen. " Du? " rufen die anderen. " Warst du
127 denn überhaupt fort? " War er auch nicht in Afrika, der
128 Spatz, so kennt er doch hier weit und breit jeden Zaun und jeden
129 Schuppen, jeden Hund und jeden weggeworfenen Topf. Die
130 Blätter waren nirgendwo. Im Park steht der Ginkgo-Baum.
131 Seine Vorfahren stammen aus Japan. Japan ist weit. Aber die
132 Ginkgo-Blätter, die aussehen, als seien sie aus zweien
133 zusammengewachsen, was wissen sie von Japan? Keines von ihnen
134 hat je eine Reise gemacht, nicht einmal so weit wie ein Heu-
135 Pferd springt. Die Vögel mit ihren flinken Flügeln kommen
136 überall hin. Aber einen Platz gibt es doch, von dem sagt kein
137 Vogel ein Wort. Das ist das Wasser. Wie es aussieht, dort
138 unten im Meer, das weiß kein Vogel. Nicht einer. Eines Tages
139 trägt der Wind eine geheime Absprache von Baum zu Baum, von
140 Busch zu Busch. Da lösen sie sich von ihren Zweigen:
141 Haselblatt und Holunderblatt, Rosenblatt und Erlenblatt,
142 Birkenblatt und Pappelblatt und wie sie alle heißen. Auch der
143 Ahornsame will mit. Am Straßenrand reißen sich Wegerich,
144 Huflattich und Löwenzahn los. Der Wind nimmt sie alle und
145 trägt sie zur Bucht. Die Blätter kommen zum Meer, sie tauchen
146 ein. Da geschieht es: Das Meer verwandelt sie und macht sie zu
147 Geschöpfen des Wassers. Das Löwenzahnblatt wird zum Fischleib,
148 das Ginkgo-Blatt wird zum Fischschwanz. Fische, herrliche
149 Fische, wie es sie nie gegeben hat, schwimmen in der Bucht. Ein
150 Löwenzahn-Ginkgo-Fisch trifft einen Löwenzahn-
151 Ginkgo-Fisch. Sie legen Eier, wie Fische tun. Aus den
152 Eiern schlüpfen Löwenzahn-Ginkgo-Fischlein. Schön
153 ist es hier unten im Meer. Aber da sitzt einer im Kahn, der
154 beugt sich übers Wasser und schaut. Er schaut und schaut, und
155 die Augen fallen ihm fast aus dem Kopf. Was sieht er? Fische,
156 wie sie noch keiner gesehen hat. Er wird sie fangen, er wird sie
157 auf den Markt tragen, und alle werden kommen und staunen.
158 Heinrich, werden sie sagen, andere haben größere Fische
159 gefangen, aber Fische, so schön wie die deinen, hat keiner aus
160 dem Meer geholt. Noch in hundert Jahren wird man von dir und
161 deinen Fischen reden! Heinrich, werden sie sagen, was hast du
162 für Glück gehabt! Er versteht sein Handwerk, der Heinrich,
163 er ist lange genug Fischer gewesen. Er wirft sein Netz aus, er
164 zieht es vorsichtig ein. Da hat er sie im Netz, die Wunderfische
165 in der Bucht. Er hebt das Netz aus dem Wasser, er hält seine
166 Beute ans Licht. Da werden seine Augen starr. " Aber ",
167 ruft er, " was ist das? Da meine ich, einen großen Fang zu
168 tun. Und was fische ich aus dem Meer? Blätter, ganz
169 gewöhnliche Blätter! " Aber dann schaut er noch einmal und
170 denkt: Blätter, ja Blätter, aber wenn man sie so anschaut,
171 die Blätter - jedes ist anders, jedes ist schön! Sabine
172 und ihre Puppe. Sabine hatte keine Puppe und so ging sie zu
173 ihrem Freund, dem Maler, der wohnte in Rixdorf. " Ich habe
174 keine Puppe ", sagte sie. Der Maler wußte Rat. Er suchte
175 sich ein passendes Stück Holz und begann eine Puppe zu schnitzen.
176 Das war nicht einfach. Er drehte und wendete das Stück Holz,
177 schnitt hie und da tief hinein, bis langsam die Puppe zu erkennen
178 war. Sabine, die dem Maler zusah, war ganz aufgeregt. Der
179 Maler arbeitete am Gesicht der Puppe. " Au! " sagte die
180 Puppe, " das tut ja weh. " " Ich werde dich lieb haben ",
181 sagte Sabine " und du sollst mich auch lieb haben. " " Ich will
182 ein grünes Kleid haben ", sagte die Puppe. " Ich werde dich
183 lieb haben ", sagte Sabine. " Schon gut, " sagte die Puppe, "
184 aber vergiß das grüne Kleid nicht. " So unterhielten sie
185 sich, während der Maler aus roter Wolle eine Perücke für die
186 Puppe machte. " Soll sie blaue Augen haben? " fragte er
187 Sabine. " Nein, grüne ", sagte Sabine, " sie soll ja
188 anders sein als alle anderen Puppen. Sie soll grüne Augen haben
189 und ein grünes Kleid. " Als die Puppe beinahe fertig war,
190 sagte der Maler, daß ihr Gesicht vielleicht etwas dumm geraten
191 wäre. " Das finde ich nicht, " sagte Sabine. " Ich mag sie
192 so. " Dann nahm der Maler grüne Farbe und pinselte der Puppe
193 das gewünschte Kleid an. (Abb.) Und so sah die Puppe aus, als sie
194 fertig war. Als sich Sabine mit ihrer Puppe auf den Heimweg
195 machte, wunderte sie sich, daß sich nicht alle nach ihr umsahen.
196 Nur auf dem Spielplatz wurde sie gleich von Kindern umringt. "
197 Das soll eine Puppe sein? " sagten die einen. " Du trägst ja
198 bloß ein Stück Holz spazieren ", sagten die anderen. " Meine
199 Puppe kann aber sprechen ", sagte Sabine. Die Kinder lachten
200 sie nur aus. Sabine drückte ihre Puppe an sich. Sie wollte
201 keinen mehr sehen, wollte allein sein mit ihrer Puppe, und lief
202 schnell nach Haus. Sabines Mutter hatte keinen Mann, der zum
203 Haushalt beitragen konnte. Aber darunter sollte Sabine nicht
204 leiden. So sparte und sparte sie, um für Sabine eine besonders
205 teure Puppe kaufen zu können. Und gerade an diesem Tag, als
206 Sabine beim Maler war und nun eine Puppe besaß, hatte die
207 Mutter die notwendigen DM 63,50 zusammen.
Zum Anfang dieser Seite