Quelle Nummer 111
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE
PETER HANDKE
DIE ANGST DES TORMANNS BEIM ELFMETER
FRANKFURT 1970, S. 94-102, SUHRKAMP VERLAG
001 Als Bloch hereinkam, zählte der Beamte Münzen, wickelte
002 sie in Rollen ein und spannte Gummiringe um die Rollen. Bloch
003 legte den Geldschein auf die Barriere. Daneben stand eine
004 Spieluhr; erst auf den zweiten Blick erkannte Bloch, daß es
005 sich um eine Sparbüchse für einen wohltätigen Zweck handelte.
006 Der Beamte schaute auf, zählte aber weiter. Bloch schob den
007 Schein unaufgefordert unter die Glasscheibe durch auf die andere
008 Seite. Der Beamte stapelte die Rollen in einer Reihe neben sich
009 auf. Bloch bückte sich und blies den Geldschein auf den Tisch
010 des Beamten, und der Beamte entfaltete den Schein, glättete ihn
011 mit der Handkante und befühlte ihn mit den Fingerspitzen. Bloch
012 sah, daß die Fingerspitzen ziemlich schwarz waren. Aus dem
013 Hinterzimmer kam ein zweiter Beamter; um etwas bezeugen zu
014 können dachte Bloch. Er bat, die Wechselmünzen - es war
015 nicht einmal ein Schein darunter - in ein Papiersäckchen zu
016 stecken, und schob die Münzen unter der Glasscheibe zurück.
017 Der Beamte steckte die Münzen, nicht anders, als er früher die
018 Rollen gestapelt hatte, in ein Papiersäckchen und schob das
019 Säckchen wieder zu Bloch. Bloch stellte sich vor, wie man,
020 wenn alle Leute verlangten, ihr Geld in Säckchen zu stecken,
021 auf die Dauer die Sparkasse ruinieren könnte; ebenso könnte man
022 es mit allen anderen Einkäufen machen: vielleicht würde der
023 Verschleiß von Verpackungsmaterial nach und nach die Geschäfte
024 zum Konkurs zwingen? Jedenfalls war es angenehm, sich das
025 vorzustellen. In einem Papiergeschäft kaufte sich Bloch eine
026 Wanderkarte von der Gegend; er ließ sie gut einwickeln, kaufte
027 sich einen Bleistift dazu; ließ den Bleistift in ein
028 Papiersäckchen stecken. Mit der Rolle in der Hand ging er
029 weiter; er kam sich jetzt harmloser vor als früher mit leeren
030 Händen. Er setzte sich, schon außerhalb des Ortes, wo er eine
031 Übersicht über die Umgebung hatte, auf eine Bank und verglich
032 mit dem Bleistift die Einzelheiten auf der Karte mit den
033 Einzelheiten in der Landschaft vor ihm. Zeichenerklärung:
034 diese Kreise bedeuteten einen Laubwald, diese Dreiecke einen
035 Nadelwald, und wenn man von der Karte aufschaute, überraschte es
036 einen, daß es zutraf. Dort drüben mußte das Gelände sumpfig
037 sein; dort drüben mußte ein Bildstock sein; dort drüben
038 mußte ein Bahnübergang sein. Wenn man diese Landstraße
039 entlangging, mußte man hier über eine Brücke gehen, mußte dann
040 auf einen Güterweg kommen, mußte dann eine starke Steigung
041 hinaufgehen, wo schon oben jemand stehen konnte, mußte also von
042 diesem Weg abbiegen und über dieses Feld laufen, mußte auf
043 diesen Wald zulaufen, zum Glück ein Nadelwald, aber es konnten
044 schon aus dem Wald heraus ein paar einem entgegenkommen, so daß
045 man also einen Haken schlagen mußte und diesen Abhang hinunter auf
046 dieses Gehöft zulief, mußte an diesem Schuppen vorbeilaufen,
047 lief dann diesen Bach entlang, mußte an dieser Stelle
048 hinüberspringen, weil hier ein Jeep auf einen zukommen konnte,
049 rannte dann im Zickzack über die Ackerparzelle, schlüpfte durch
050 diesen lebenden Zaun auf die Straße, wo gerade ein Lastwagen
051 vorbeikam, den man anhielt, worauf man in Sicherheit war. Bloch
052 stockte. " Wenn es sich um einen Mord handelt, macht man eben
053 Gedankensprünge ", hatte er in einem Film jemanden sagen hören.
054 Er war erleichtert, als er auf der Karte ein Viereck fand, das
055 er in der Landschaft nicht wiederfand: das Haus, das dort stehen
056 mußte, stand nicht da, und die Straße, die an dieser Stelle
057 eine Kurve machte, verlief in Wirklichkeit geradeaus. Es kam
058 Bloch vor, als ob ihm diese Nichtübereinstimmung behilflich sein
059 könnte. Er beobachtete auf einem Feld einen Hund, der auf einen
060 Mann zulief; dann bermerkte er, daß er nicht mehr den Hund
061 beobachtete, sondern den Mann, der sich bewegte wie jemand, der
062 einem andern in den Weg treten will. Jetzt sah er hinter dem Mann
063 ein Kind stehen; und er bemerkte, daß er nicht den Mann und den
064 Hund beobachtete, wir man es gewohnt gewesen wäre, sondern das
065 Kind, das von weitem zu zappeln schien; aber dann merkte er,
066 daß es das Geschrei des Kindes war, was ihm ein Gezappel
067 vormachte. Inzwischen hatte der Mann den Hund schon am Halsband
068 gepackt, und alle drei, Hund, Mann und Kind, waren in eine
069 Richtung weitergegangen. " Wem hat das gegolten? " dachte
070 Bloch. Vor ihm auf der Erde ein anderes Bild: Ameisen, die
071 sich einem Brotbrösel näherten. Er bemerkte, daß er wieder
072 nicht die Ameisen beobachtete, sondern umgekehrt die Fliege, die
073 auf dem Brotkrumen saß. Buchstäblich war alles, was er sah,
074 auffällig. Die Bilder kamen einem nicht natürlich vor, sondern
075 so, als seien sie extra für einen gemacht worden. Sie dienten zu
076 etwas. Wenn man sie ansah, sprangen sie einem buchstäblich in die
077 Augen. " Wie Rufzeichen ", dachte Bloch. Wie Befehle!
078 Wenn er die Augen zumachte und nach einiger Zeit wieder hinschaute,
079 kam einem buchstäblich alles verändert vor. Die Ausschnitte,
080 die man sah, schienen an den Rändern zu flimmern und zu zittern.
081 Aus dem Sitzen war Bloch, ohne richtig aufzustehen, gleich
082 weggegangen. Nach einiger Zeit blieb er stehen, fiel dann aus dem
083 Stand sofort ins Laufen. Er trat schnell an, stoppte plötzlich
084 ab, wechselte die Richtung, lief gleichmäßig, wechselte jetzt
085 den Schritt, wechselte wieder den Schritt, stoppte, lief jetzt
086 rückwärts, drehte sich im Rückwärtslauf um, lief vorwärts
087 weiter, drehte sich wieder in den Rückwärtslauf um, ging
088 rückwärts, drehte sich in den Vorwärtslauf um, wechselte nach
089 einigen Schritten in den vollen Schnellauf über, stoppte scharf,
090 setzte sich auf einen Randstein und lief sofort aus dem Sitzen
091 weiter. Als er dann stehenblieb und wieder weiterging, schienen
092 sich die Bilder von den Rändern her einzutrüben; schließlich
093 waren sie bis auf einen Kreis in der Mitte eingeschwärzt. " Wie
094 wenn jemand im Film durch ein Fernrohr schaut ", dachte er. Er
095 wischte sich den Schweiß an den Beinen mit der Hose ab. Er ging
096 an einem Keller vorbei, in dem die Teeblätter, weil die Tür
097 zum Keller halb offenstand, eigenartig schimmerten. " Wie
098 Kartoffeln ", dachte Bloch. Selbstverständlich, das Haus vor
099 ihm war einstöckig, die Fensterläden waren festgehakt, auf den
100 Dachzieglen lag Moos (auch so ein Wort!), die Tür war
101 geschlossen, darüber stand: Volksschule, hinten im
102 Garten hackte jemand Holz, es mußte der Schuldiener sein,
103 richtig, und vor der Schule stand natürlich ein lebender Zaun,
104 ja, es stimmte, es fehlte nichts, nicht einmal der Schwamm unter
105 der Tafel drinnen im finsteren Schulzimmer und die Schachtel mit
106 den Kreidestücken daneben, nicht einmal die Halbkreise draußen
107 an den Mauern unter den Fenstern, zu denen es eine
108 Zeichenerklärung gab, die bestätigte, daß es sich um
109 Fensterhakenschrammen handelte; es war überhaupt, als bekäme
110 man von allem, was man sah oder hörte, bestätigt, daß es aufs
111 Wort stimmte. Der Deckel der Kohlenkiste im Schulzimmer war
112 aufgeklappt, in der Kiste konnte man (ein Aprilscherz!) den
113 Stiel der Kohlenschaufel sehen, dazu den Fußboden mit den
114 breiten Brettern, der in den Ritzen vom Aufwaschen noch feucht
115 war, nicht zu vergessen die Landkarte an der Wand, das
116 Waschbecken neben der Tafel und die Maisblätter auf dem
117 Fensterbrett: eine einzige schlechte Nachahmung! Auf diese
118 Aprilscherze würde er nicht hereinfallen. Es war, als ob er
119 immer weitere Kreise zog. Er hatte den Blitzableiter neben der
120 Tür vergessen, und jetzt kam er ihn wie ein Stichwort vor. Er
121 sollte anfangen. Er half sich, indem er an der Schule vorbei
122 hinten in den Hof ging und mit dem Schuldiener in der Holzhütte
123 redete. Holzhütte, Schuldiener, Hof: Stichworte. Er
124 schaute zu, wie der Schuldiener ein Holzscheit auf den Hackklotz
125 stellte, wie er mit der Axt ausholte. Er redete vom Hof aus
126 dazwischen, der Schuldiener hielt inne, antwortete, und als er
127 dann auf das Scheit schlug, fiel es zur Seite, bevor er es
128 getroffen hatte, und er schlug in den Hackklotz hinein, daß es
129 staubte. Der noch nicht zerkleinerte Holzstoß im Hintergrund
130 brach zusammen. Wieder so ein Stichwort! Aber es folgte nicht
131 mehr darauf, als daß er den Schuldiener in die halbdunkle
132 Holzhütte hinein fragte, ob es denn für alle Schulklassen nur
133 dieses eine Schulzimmer gebe, und daß der Schuldiener antwortete,
134 für alle Schulklassen gebe es nur dieses eine Schulzimmer.
135 Kein Wunder, daß die Kinder beim Schulaustritt noch nicht
136 einmal reden gelernt hätten, sagte der Schuldiener plötzlich,
137 indem er das Beil in den Hackklotz schlug und aus der Hütte trat:
138 nicht einmal einen einzigen Satz könnten sie zu Ende sprechen,
139 sie redeten miteinander fast nur in einzelnen Wörtern, ungefragt
140 überhaupt nicht, und was sie lernten, sei nur Merkstoff, den sie
141 auswendig heruntersagten; darüber hinaus seien sie zu ganzen
142 Sätzen unfähig. " Eigentlich sind alle mehr oder weniger
143 sprechbehindert ', sagte der Schuldiener. Was sollte das heißen?
144 Was bezweckte der Schuldiener damit? Was hatte das mit ihm zu
145 tun. Nichts? Ja, warum tat aber dann der Schuldiener, als
146 hätte es mit ihm zu tun? Bloch hätte antworten sollen, aber er
147 ließ sich nicht darauf ein. Wenn er einmal anfing, mußte er
148 weiterreden. So ging er noch ein wenig auf dem Hof herum, half
149 dem Schuldiener, die Holzscheite einzusammeln, die beim Hacken
150 aus der Hütte herausgeflogen waren, war dann nach und nach
151 unauffällig zurück auf die Straße geraten, konnte sich
152 unbehelligt entfernen. Er kam am Sportplatz vorbei. Es war nach
153 Arbeitsschluß, und die Fußballer trainierten. Der Boden war
154 so feucht, daß die Tropfen aus dem Gras sprühten, wenn ein
155 Spieler den Ball trat. Bloch schaute eine Zeitlang zu, es
156 dämmerte, und er ging weiter. In der Gaststatte am Bahnhof aß
157 er eine Frikadelle und trank ein paar Gläser Bier. Auf dem
158 Bahnsteig draußen setzte er sich auf eine Bank. Ein Mädchen
159 mit hohen Stöckelschuhen ging im Kies auf und ab. In der
160 Fahrdienstleitung läutete das Telefon. Ein Beamter stand in der
161 Tür und rauchte. Aus dem Warteraum kam jemand heraus und blieb
162 gleich stehen. Wieder rasselte es in der Fahrdienstleitung, und
163 man hörte lautes Reden, wie wenn jemand ins Telefon redete.
164 Inzwischen war es dunkel geworden. Es war ziemlich still. Man
165 sah, wie hier und dort jemand an einer Zigarette zog. Ein
166 Wasserhahn wurde stark aufgedreht und gleich wieder abgedreht. Als
167 sei jemand erschrocken! Weiter weg im Finstern redeten welche;
168 man hörte helle Laute, wie im Halbschlaf: a, i. Jemand rief:
169 Au! Es war nicht zu erkennen, ob ein Mann oder eine Frau
170 gerufen hatte. Ganz weit weg hörte man jemanden ganz deutlich
171 sagen: " Sie sehen sehr abgekämpft aus! " Zwischen den
172 Schienen sah man ebenso deutlich einen Bahnarbeiter stehen, der
173 sich den Kopf kratzte. Bloch glaubte zu schlafen. Mam konnte
174 einen Zug einfahren sehen. Man sah zu, wie ein paar Leute
175 ausstiegen, als seien sie unschlüssig, ob sie aussteigen sollten.
176 Zuletzt stieg ein Betrunkener heraus und schlug heftig die Tür zu.
177 Man sah, wie der Beamte auf dem Bahnsteig mit der Taschenlampe
178 ein Zeichen gab und wie der Zug wieder abfuhr. Im Wartezimmer
179 schaute Bloch den Fahrplan an. An diesem Tag fuhr kein Zug mehr
180 durch. Immerhin war es inzwischen so spät, daß man ins Kino
181 gehen konnte. Im Kinovorraum saßen schon einige. Bloch setzte
182 sich dazu, die Kinokarte in der Hand. Es kamen immer mehr. Es
183 war angenehm, die vielen Geräusche zu hören. Bloch ging vors
184 Kino, stellte sich irgendwo dazu, ging dann ins Kino hinein. In
185 dem Film schoß jemand mit dem Gewehr auf einen Mann, der mit dem
186 Rücken zu ihn weit weg an einem Lagerfeuer saß. Nichts geschah;
187 der Mann fiel nicht um, blieb sitzen, schaute nicht einmal,
188 wer geschossen hatte. Einige Zeit verging. Dann sank der Mann
189 langsam zur Seite und blieb regungslos liegen. Immer diese alten
190 Gewehre, sagte der Schütze zu seinem Begleiter: keine
191 Durchschlagskraft. In Wirklichkeit war aber der Mann schon
192 vorher tot am Feuer gesessen. Nach dem Film fuhr Bloch mit zwei
193 Burschen im Auto zur Grenze hinaus. Ein Stein schlug unten
194 gegen das Auto; Bloch, der hinten saß wurde wieder aufmerksam.
195 Da gerade Zahltag gewesen war, fand er in dem Wirtshaus keinen
196 freien Tisch mehr. Er setzte sich irgendwo dazu. Die Pächterin
197 kam und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er verstand und
198 bestellte Schnaps für alle, die am Tisch saßen. Er legte zum
199 Zahlen einen zusammengefalteten Schein auf den Tisch. Jemand
200 neben ihm faltete den Schein auf und sagte, es könnte ja in dem
201 Schein noch ein andrer Schein versteckt sein. Bloch sagte: Und
202 wenn? und faltete den Schein wieder zusammen. Der Bursche
203 faltete den Schein auf und schob einen Aschenbecher darüber.
204 Bloch griff in den Aschenbecher und warf dem Burschen von unten
205 herauf die Stummel in das Gesicht. Jemand zog ihm hinten den
206 Stuhl weg, so daß er unter den Tisch rutschte. Bloch sprang auf
207 und hatte schon dem Burschen, der ihm den Stuhl weggezogen hatte,
208 mit dem Unterarm gegen die Brust geschlagen. Der Bursche fiel
209 gegen die Wand und stöhnte laut, weil er keine Luft bekam. Ein
210 paar drehten Bloch die Arme auf den Rücken und stießen ihn zur
211 Tür hinaus. Er fiel nicht einmal, taumelte nur und lief gleich
212 wieder hinein. Er schlug nach dem Burschen, der ihm den Schein
213 aufgefaltet hatte.
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