Quelle Nummer 107

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.05 : ABENTEUERROMAN

JOHANNES MARIO SIMMEL
UND JIMMY GING ZUM REGENBOGEN, S.676-682
MUENCHEN-ZUERICH 1970


001  Die Hausmeisterin des Gebäudes kohlmarkt 11 wohnte im
002  Erdgeschoß des Nebengebäudes. Sie war für zwei Häuser
003  zuständig. Am Montag, dem 27.Januar 1969, pünktlich um 21
004  Uhr, schaltete sie die Flurbeleuchtung beider Gebäude um, so
005  daß die Lampen in den Gängen und Stockwerken nun nicht mehr
006  ständig brannten, sondern nur jeweils sechzig Sekunden, wenn
007  jemand auf einen Lichtschalter drückte. Danach verschloß die
008  Hausmeisterin das alte, grüne Eingangstor von Nummer 11 und ging
009  schnell durch das Schneetreiben in das Nachbarhaus zurück, dessen
010  Eingang sie gleichfalls absperrte. Die ältere Frau begab sich
011  bald zu Bett. Zehn Minuten nach 21 Uhr standen zwei Männer vor
012  der Eingangstür zur Kanzlei der Rechtsanwälte Dr. Rudolf
013  Stein und Dr. Heinrich Weber. Sie trugen Filzpantoffel.
014  Ihre Schuhe steckten in den Manteltaschen. Es waren Jean
015  Mercier und der große, schlanke Anton Sirus, das legendäre
016  Vorbild aller Schränker Europas. Der Mann mit dem mächtigen
017  Kopf, den scharfen Augen des Chirurgen, den schönen kraftvollen
018  Händen des Operateurs, dieser leidenschaftliche Liebhaber und
019  Sammler französischer Impressionisten, hatte die letzten beiden
020  Stunden neben Mercier auf dem zugigen, eiskalten Dachboden des
021  Hauses gewartet, in dem nur Büros untergebracht waren. Das
022  Schloß der Tür zum Dachboden hatte der " Professor " mit zwei
023  Handbewegungen geöffnet. Der Mann aus Bremen war mit der
024  Mittagsmaschine gelandet und hatte den Nachmittag in einem
025  Hinterzimmer des Reisebüros " Bon Voyage " verbracht.
026  Getrennt waren sie dann hiergekommen. Bei der bevorstehenden
027  Unternehmung mußte Mercier dabei sein, denn nur er konnte
028  feststellen, was in dem großen Tresor des Dr. Stein für ihn
029  und seine Auftraggeber von Wert war. Zitternd vor Kälte hielt
030  er eine Taschenlampe, deren Lichtkreis auf das Yale-Schloß
031  der Kanzleitür gerichtet war. Der " Professor " arbeitete mit
032  zwei Drähten, die Mercier an jene erinnerten, welche man durch
033  Rouladen steckt. Die Drähte hatten allerdings an ihren vorderen
034  Enden spitze Zacken und Verformungen. Sirus schien ein Mann
035  ohne Nerven zu sein. Neben sich, auf dem Boden, hatte er eine
036  große Koffertasche gestellt, wie sie früher von Ärzten benutzt
037  wurde. Nach sechs Minuten schnappte das Yale-Schloß auf.
038  Für das Türschloß brauchte der Professor vier Minuten. Sie
039  traten in die dunkle Kanzlei ein. Anton Sirus schloß die Tür
040  und versperrte die Schlösser wieder. Er versicherte sich, daß
041  die Vorhänge in sämtlichen Büros ordentlich geschlossen waren
042  - lautlos huschte er von Zimmer zu Zimmer -, dann erklomm er
043  im Sekretariat einen Stuhl und öffnete ein schwarzes Kästchen,
044  das hinter einem Aktenschrank verborgen war. Der Professor hatte
045  es trotzdem sofort gefunden. Mit wenigen Handgriffen schaltete er
046  eine Alarmanlage aus. Nun ging er neben Mercier in das Büro Dr.
047  Steins, wo er die starke Schreibtischlampe anknipste und so
048  drehte, daß ihr Licht die matt glänzende Riesenwand des Tresors
049  traf. Die Männer zogen ihre Mäntel aus, Sirus auch seine
050  Jacke. In dem Büro war es sehr warm. Mercier setzte sich auf
051  einen Sessel vor dem Schreibtisch. Er trug, wie Sirus,
052  Handschuhe aus schwarzem Trauerflor. Der Professor hatte ihm ein
053  Paar mitgebracht. " So gibt es keine Fingerabdrücke. Ich
054  verwende nur Trauerflor, niemals Gummi. Man hat bei Gummi nicht
055  das nötige Gefühl in den Fingern. " Mecier sah schweigend zu,
056  wie der große Mann nun seine Koffertasche öffnete. Zuoberst lag
057  ein blütenweißer Chirugenmantel, den der Professor schnell über
058  den Kopf streifte. Zwei Gürtelschnüre band er im Rücken
059  zusammen. Er reichte Mercier einige Gazetücher. " Sie werden
060  mir von Zeit zu Zeit die Stirn abtupfen müssen. " Mercier
061  nickt nur. Er erinnerte sich, daß der Professor darum gebeten
062  hatte, nicht unnötig angesprochen zu werden. Der Franzose, der
063  das Haus seit Tagen beobachten ließ, wußte daß es hier keine
064  Männer der Wachgesellschaft und Schießgesellschaft gab.
065  Die Fenster von Steins Büro gingen zum Kohlmarkt hinaus (...)
066  Nun holte der Professor ein Stethoskop aus der großen Tasche und
067  hängte es sich um den Hals. Danach breitete er auf dem
068  Schreibtisch ein Tuch aus und legte auf dieses mindestens drei
069  Dutzend seltsam geformte, dünne und lange Stahlwerkzeuge. Das
070  Ganze sah aus wie ein chirurgisches Besteck. Der Professor nahm
071  eine kleine weiße Kappe und setzte sie auf. " Hält den
072  Schweiß der Kopfhaut zurück ", sagte Sirus. Er trat nun vor,
073  betrachtete den Tresor brütend wie einen Kranken auf dem
074  Operationstisch, wandte sich noch einmal um und nahm einen großen
075  Notizblock und einen Bleistift aus der Tasche. Die Aufgabe,
076  vor der Anton Sirus stand, war gewaltig - Mercier hatte eine
077  kurze Erklärung des Professors erhalten, während sie auf dem
078  eisigen Dachboden warteten, er wußte ungefähr Bescheid. Die
079  Tresorwand wies etwa in Brusthöhe ein verchromtes Steuerrad auf.
080  Über diesem befand sich, in Schulterhöhe, ein konischer Knopf
081  von knapp zehn Zentimetern Durchmesser, der etwa ebenso hoch und
082  an der Seitenwand mit Rillen überzogen war. Rund um diesen
083  abgeschnittenen Kegel war an der Tresorwand ein Dreiviertelkreis
084  aus Silber angebracht. Das Viertel links oben fehlte. In das
085  silberne Band waren Zahlen eingraviert. Die erste Zahl lautete
086  00. Dann folgten neun eingeritzte Striche und danach die Zahl 10.
087  Das ging so weiter rund um den Konus bis zu der Zahl 90. Sie
088  befand sich am Ende des Dreiviertelkreises. Der Konus besaß
089  einen aufgemalten kurzen schwarzen Strich. Er befand sich ganz
090  oben am Rande des Knopfes. " Nullnull, zehn, zwanzig,
091  dreißig und so weiter sind die Einrastpunkte für die Zahlen null,
092  eins, zwei, drei und so weiter ", hatte der Professor erklärt.
093  " Der Konus läßt sich nach rechts und nach links drehen,
094  normal und um etwa fünf Millimeter herausgezogen. Die
095  siebenstellige Kombination ist nun in unregelmäßiger Folge
096  zusammengesetzt aus Zahlen, die man durch Rechtsdrehen,
097  Linksdrehen, normales Drehen oder gezogenes Drehen des Konus
098  einrasten lassen muß. Kommt man dabei nur einen einzigen Strich
099  über die Zahlenmarke hinaus, dann sperrt sich augenblicklich das
100  Gesamtsystem, und alle Arbeit war umsonst. " " Was macht man
101  dann? " hatte Mercier gefragt. " Dann mußman die Sperre
102  wieder lösen. " " Wie? " " Indem man alle Bewegungen nach
103  rechts und nach links, normal oder gezogen, die man ausgeführt hat,
104  umgekehrt vornimmt, bis das Schloß im Leerlauf steht. "
105  " Das bedeutet, man muß sich jede einzelne Drehung genau merken! "
106  Darum ist es nötig, sich dauernd Notizen zu machen. Harmlos,
107  wenn man gleich zu Beginn einen Fehler begeht. Aber bei der
108  sechsten oder der siebenten Zahl bedeutet das schon arges Pech.
109  " " O Gott. " " Sagen Sie noch nicht zu früh o Gott! Das
110  ist erst der Anfang. Hat man tatsächlich endlich die ganze
111  siebenstellige Kombination, dann öffnen sich nur die kleinen
112  Türchen an der Tresorwand, sie lassen sich beiseiteschwenken (...)
113  " Je ein solches Türchen aus Stahl, einen Zentimeter hoch,
114  drei Zentimeter breit und acht Zentimeter lang, befand sich über
115  dem Konus und unter dem chromblitzenden Steuerrad. " Hinter
116  diesen Türchen erblicken wir dann zweimal zwei Öffnungen, die in
117  den Tresor hineinführen. In je einer Öffnung steckt ein
118  Arretierschlüssel - zwanzig Zentimeter lang etwa. Diese
119  Arretierschlüssel lassen sich, wenn die Kombination eingestellt
120  ist, herausziehen. Nun muß man den Tresor oben und unten aber
121  auch noch aufsperren, die beiden Schlösser oben und unten öffnen.
122  " "Wie? " "Das werden sie schon sehen ", hatte der
123  Professor gesagt. " Sind auch sie gesichert, dann erst
124  kann man das Steuerrad bewegen! Durch eine Drehung heben sich
125  armdicke Stahlbolzen, die in der Decke, in der Seite und im
126  Boden der Tresorwand stecken, aus ihren Vertiefungen und gleiten
127  in die Panzerplatte zurück. Danach zieht man an dem Steuerrad,
128  und der Tresor öffnet sich. " " Und Sie glauben (...) Ich meine
129  (...) Das trauen Sie sich wirklich zu? " Anton Sirus hatte
130  Mercier nur stumm angesehen (...) Nun steckte er sich die
131  geschwungenen Bügel des Stethoskops in beide Ohren und preßte
132  den Gummipfropf am Ende des langen roten Schlauches dicht neben
133  den Konus und den Zahlenkreis. Er sagte dabei. " Von jetzt an
134  muß ich um absolute Ruhe bitten. " Mercier saß reglos. Er
135  wagte kaum zu atmen. Durch das Stethoskop, dachte er hört der
136  Professor nun, viele Male verstärkt, wie ein Arzt, er das
137  Herz oder die Lunge eines Patienten untersucht, alle Geräusche
138  in der Tresorwand, besonders bei dem Kombinationsschloß. Dem
139  Einrasten gehen gewiß solche Geräusche voraus. Sirus kennt die
140  Bedeutung jedes einzelnen. Er weiß, wann er auf dem rechten Weg
141  ist, wann Gefahr droht, wann er weiterdrehen kann, wann er
142  schnellstens zurückdrehen muß. Mercier starrte zu dem Professor
143  hinüber. Dessen edle, schlanke Finger hatten gegonnen, den
144  Konus zu bewegen, Millimeter um Millimeter gezogen, normal,
145  stockend, pausierend, vor und zurück, je nach den Geräuschen
146  zweifellos, die er über das Stethoskop empfing. Mercier fühlte,
147  wie seine Hände feucht wurden. Der Professor arbeitete
148  methodisch. Er hatte zuerst den Konus nach rechts gedreht, also
149  zur 10 und endlich bis zur 20. Nun drehte er nach links, zur 90
150  und zur 80. Immer wieder zögerte er, immer wieder korrigierte er.
151  Um Bruchteile von Millimetern bewegte der Konus sich unter
152  seinen Fingern. Ich hoffe, ich halte das durch, dachte Mercier.
153  Der Professor arbeitete ohne Anzeichen von Nervosität. Nach
154  26 Minuten drehte er sich plötzlich um und nahm die Bügel des
155  Stethoskop aus den Ohren. " Eingerastet ", sagte er
156  gleichmütig. " Die erste Zahl? " Mercier sprang auf. "
157  Nicht so laut! Es ist erst die erste Zahl, ja. Die 8. " "
158  Eine von sieben Zahlen haben wir schon! " Mercier war
159  plötzlich außer sich. " Mit etwas Glück (...) " Der Professor
160  hob eine Hand. Die Knöchel der anderen klopften auf den
161  Schreibtisch. " Sagen Sie dieses Wort nie wieder ", sprach er
162  streng. " Verzeihung ", stammelte Mercier. " Die erste Zahl
163  findet jeder Idiot. " Der Professor hob die Brauen über den
164  klaren Augen des scharfgeschnittenen Gesichts. " Wissen Sie was
165  die erste Zahl ist? " " Was? " " Der Eingang in das
166  Labyrinth, sonst nichts. " Sirus nickte versonnen. " Nun sind
167  wir im Irrgarten. " Er trat an den Schreibtisch, und in einer
168  eigenen Kurzschrift hielt er auf dem Block fest, mit welchen
169  Bewegungen des Konus er zu der ersten richtigen Zahl gekommen war.
170  Danach wandte er sich wieder dem Tresor zu. Seine Finger
171  ergriffen neuerdings den Einstellknopf und begannen ihn zu bewegen,
172  Millimeter um Millimeter (...) Daniel Steinfeld sagte: " Ich
173  sah Valerie zum letztenmal im Juli 1948. Da war ich in Wien bei
174  einem internationalen Treffen ehemaliger Widerstandskämpfer. Ich
175  habe ein paar Tage hier gelebt. " Der Neunundsechszigjährige
176  sah sich in dem großen Zimmer um, in dem er mit Irene und Manuel
177  saß. Daniel Steinfeld machte einen erschreckenden Eindruck.
178  Sein Anzug hing schlotternd an der großen Gestalt. Gelblich
179  spannte sich die Haut über die Knochen des hageren Gesichtes mit
180  den blutleeren Lippen und den eingefallenen Wangen. Gelblich
181  waren auch die müden Augen und die Haut des kahlen, mit braunen
182  Pigmentflecken übersäten Kopfes. Gelblich waren die knochigen
183  Finger. Daniel Steinfeld sprach immer noch mit einem Wiener
184  Akzent. Der " Chopin-Expreß ", der ihm nach Wien
185  gebracht hatte, war mit vielstündiger Verspätung erst um 15 Uhr
186  45 auf dem Ostbahnhof eingetroffen. " Was ist mit Valerie?
187  " hatte der alte Mann sofort nach der Begrüßung gefragt. Sie
188  hatten es ihm erzählt, in Manuels Wagen, auf der Fahrt vom
189  Bahnhof in die Gentzgasse. Schweigend hörte Daniel Steinfeld
190  alles an, die Augen geschlossen, so daß man glauben konnte, er
191  sei vor Erschöpfung eingeschlafen. Doch er schlief nicht. Ohne
192  die Augen zu öffnen, stellte er von Zeit zu Zeit Fragen, wenn
193  er nicht gleich die Funktion von Personen oder gewisse
194  Zusammenhänge verstand, nickte dann und lauschte weiter. Er
195  zeigte weder Entsetzen noch Abscheu oder Furcht. Als Irene die
196  letzten Worte ihres Berichtes gesprochen hatte, murmelte er, in
197  die Ecke des Fonds gerückt, die Hände in den Taschen, den
198  Hut tief in der Stirn, frierend und leise: " Gott hat gegeben,
199  Gott hat genommen. " Sie luden Steinfelds Gepäck - zwei
200  Koffer - aus und fuhren mit dem alten Mann in dem Aufzug, der
201  ruckte, ächzte und wackelte, zur Wohnung hinauf. Heinz' Zimmer
202  war für ihn hergerichtet worden. Steinfeld sagte, er sei etwas
203  müde und würde gern ein wenig schlafen. Er schlief bis halb neun
204  Uhr abends, tief und fest. Manuel und Irene, die heute nicht in
205  die Apotheke gegangen war, saßen in dem gr0ßen Zimmer, sprachen
206  leise miteinander und warteten geduldig, bis Steinfeld,
207  entschuldigend lächelnd, wieder auftauchte. " Ich war doch viel
208  müder als ich gedacht habe (...) " Sie aßen im Speisezimmer -
209  Steinfeld erhielt eine Diätmahlzeit, die Irene entsprechend
210  schriftlichen Anweisungen eines polnischen Arztes zubereitet hatte.
211  Nach dem Abendbrot kehrten sie in das Wohnzimmer zurück. Hier
212  tranken sie Tee. Tee durfte Steinfeld trinken, es war seine
213  ganze Freude. Und während er, die Tasse haltend, von Zeit zu
214  Zeit einen Schluck schlürfend, zusammengekauert dasas, das
215  Gespenst eines Mannes, der dies zeigte sein Anzug, einst stark
216  und kräftig gewesen war, hatte er zu erzählen begonnen (...) " (...)
217  1948, ja, im Juli (...) Schlecht hat sie ausgesehen, die Valerie,
218  elend schlecht. Wie eine alte Frau. Und sie war doch noch gar
219  nicht alt! Einmal war sie ein so schönes Mädchen gewesen!
220  Aber nun lebte sie tief versunken in ihrem Schmerz. Alles hat sie
221  mir erzählt, damals (...) daß der Paul gestorben ist in London,
222  ganz knapp vor Kriegsende noch, an inneren Blutungen (...) Es war
223  auch für mich ein großer Schock, obwohl wir uns nicht gut
224  verstanden haben, der Paul und ich (...) " "Warum eigentlich nicht,
225  Onkel Daniel? " " Nenn mich Daniel, Irene, bitte. " "
226  Gerne (...) " " Ja, warum nicht? Wir haben uns nie verstanden,
227  schon als Kinder nicht. Immer haben wir uns geprügelt und
228  gestritten.

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