Quelle Nummer 102

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE

INGEBORG BACHMANN
MALINA
FRANKFURT 1971
S. 234-241 SUHRKAMP


001  Es ist vor dem Schwarzen Meer, und ich weiß, daß die
002  Donau ins Schwarze Meer münden muß. Ich werde münden wie sie.
003  Ich bin alle Ufer gut hinuntergekommen, aber vor dem Delta sehe
004  ich, halb vom Wasser bedeckt, einen feisten Körper, ich kann
005  aber nicht ausweichen und bis in die Mitte des Flusses waten, weil
006  der Fluß hier zu tief und zu weit ist und voller Wirbel. Mein
007  Vater hat sich vor der Mündung im Wasser versteckt, er ist ein
008  riesiges Krokodil, mit müden herabhängenden Augen, das mich
009  nicht vorbeilassen wird. Es gibt jetzt keine Krokodile mehr am
010  Nil, man hat das letzte an die Donau gebracht. Mein Vater
011  öffnet manchmal ein wenig die Augen, es sieht aus, als läge er
012  nur träge da, als wartete er auf nichts, aber er wartet natürlich
013  auf mich, er hat gewußt, daß ich heimkehren will, daß es für
014  mich die Rettung ist. Das Krokodil öffnet manchmal schmachtend
015  den großen Rachen, es hängen die Fetzen, Fleischfetzen von
016  anderen Frauen darin, und mir fallen die Namen aller Frauen ein,
017  die es zerrissen hat, es schwimmt altes Blut auf dem Wasser, aber
018  auch frisches Blut; ich weiß nicht, wie hungrig mein Vater
019  heute ist. Neben ihm sehe ich plötzlich ein kleines Krokodil
020  liegen, er hat jetzt ein zu ihm passendes Krokodil gefunden. Das
021  kleine Krokodil funkelt aber mit den Augen und ist nicht träge,
022  es schwimmt auf mich zu und will mich, mit falscher Freundlichkeit,
023  auf die rechte und auf die linke Wange küssen. Bevor es mich
024  küssen kann, schreie ich: Du bist ein Krokodil! Gehen Sie
025  zurück zu Ihrem Krokodil, ihr gehört doch zueinander, ihr seid
026  ja Krokodile! Denn ich habe Melanie sofort erkannt, die wieder
027  scheinheilig ihre Augen halb zufallen läßt und nicht mehr funkelt
028  mit ihren Menschenaugen. Mein Vater schreit zurück: Sag das
029  noch einmal! Aber ich sage es nicht noch einmal, obwohl ich es
030  sagen sollte, weil er es befiehlt. Ich habe nur die Wahl, von
031  ihm zerrissen zu werden oder in den Fluß zu gehen, wo er am
032  tiefsten ist. Ich bin vor dem Schwarzen Meer im Rachen meines
033  Vaters verschwunden. Ins Schwarze Meer sind aber drei
034  Blutstropfen von mir, meine letzten, gemündet. Mein Vater
035  kommt ins Zimmer, er pfeift und singt, er steht da in den
036  Pyjamahosen, ich hasse ihn, ich kann ihn nicht ansehen, ich mache
037  mich zu schaffen an meinem Koffer. Bitte zieh dir doch etwas an,
038  sage ich, zieh dir etwas anderes an! Denn er trägt einen Pyjama,
039  den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe, er trägt ihn
040  absichtlich, und ich möchte ihm den Pyjama herunterreißen, aber
041  plötzlich fällt mir etwas ein, und ich sage beiläufig: Ach,
042  nur du bist es! Ich fange zu tanzen an, ich tanze einen Walzer
043  ganz allein, und mein Vater sieht mir etwas überrascht zu, denn
044  auf dem Bett liegt sein kleines Krokodil, das Samt und Seide
045  anhat, und er fängt an, sein Testament für Samt und Seide zu
046  machen, er schreibt es auf einen großen Bogen und sagt: Du
047  wirst nichts bekommen, hörst du, denn du tanzt ja! Ich tanze
048  wirklich, didam dadam, ich tanze durch alle Räume und fange an,
049  mich auf dem Teppich zu drehen, den er mir nicht wegziehen kann
050  unter den Füßen, es ist der Teppich aus Krieg und Frieden.
051  Mein Vater ruft nach meiner Lina: Ziehen Sie ihr doch
052  den Teppich weg! Aber Lina hat Ausgang, und ich lache, tanze
053  und rufe plötzlich: Ivan! Es ist unsere Musik, ist jetzt ein
054  Walzer für Ivan, immer wieder für Ivan, es ist die Rettung,
055  denn mein Vater hat Ivans Namen nie gehört, er hat mich nie
056  tanzen gesehen, er weiß nicht mehr, was er machen soll, man kann
057  mir den Teppich nicht wegziehen, man kann mich nicht aufhalten bei
058  den schnellen Umdrehungen in diesem wirbelnden Tanz, ich rufe
059  Ivan, aber er muß nicht kommen, muß mich nicht halten, denn mit
060  einer Stimme, die noch nie jemand gehabt hat, mit der Sternstimme,
061  der siderischen Stimme, erzeuge ich den Namen Ivan und seine
062  Allgegenwart. Mein Vater ist außer sich, er schreit empört:
063  Diese Wahnsinnige soll endlich aufhören oder verschwinden, sie
064  soll sofort verschwinden, sonst wacht mein kleines Krokodil auf!
065  Tanzend nähere ich mich dem Krokodil, ich ziehe ihm mein
066  gestohlenes Hemd aus Sibirien und meine Briefe nach Ungarn weg,
067  ziehe ihm, was mir gehört, aus seinem schläfrigen, gefährlichen
068  Rachen, auch den Schlüssel möchte ich wiederhaben, und ich will
069  schon lachen, ihn von dem Krokodilszahn nehmen und weitertanzen,
070  aber mein Vater nimmt mir den Schlüssel. Er nimmt mir, zu allem
071  anderen, auch noch den Schlüssel, es ist der einzige Schlüssel!
072  Mir bleibt die Stimme weg, ich kann nicht mehr rufen: Ivan,
073  so hilf mir doch, er will mich töten! An dem größten Zahn von
074  dem Krokodil hängt noch ein Brief von mir, kein sibirischer
075  Brief, kein ungarischer Brief, ich sehe mit Entsetzen, an wen
076  dieser Brief gerichtet ist, denn ich kann den Anfang lesen:
077  Mein geliebter Vater, du hast mir das Herz gebrochen. Krakkrak
078  gebrochen damidam meines gebrochen mein Vater krak krak rrrak
079  dadidam Ivan, ich will Ivan, ich meine Ivan, ich liebe Ivan,
080  mein geliebter Vater. Mein Vater sagt: Schafft dieses Weib
081  fort! Mein Kind, das jetzt etwa vier oder fünf Jahre alt ist,
082  kommt zu mir, ich erkenne es sofort, weil es mir ähnlich sieht.
083  Wir sehen in einen Spiegel und vergewissern uns. Der kleine sagt
084  leise zu mir, mein Vater werde heiraten, diese Masseuse, die so
085  schön, aber aufdringlich sei. Er möchte deswegen nicht mehr bei
086  meinem Vater bleiben. Wir sind in einer großen Wohnung bei
087  Fremden, in einem Zimmer höre ich meinen Vater mit einigen
088  Leuten sprechen, es ist eine gute Gelegenheit, und ich
089  beschließe, ganz plötzlich, das Kind zu mir zu nehmen, obwohl
090  es bei mir sicher auch nicht gerne bleibt, da mein Leben so
091  ungeordnet ist, da ich noch keine Wohnung habe, weil ich erst den
092  Obdachlosenverein verlassen muß, den Rettungsdienst und die
093  Suchmannschaft bezahlen muß, und ich habe kein Geld, aber ich
094  halte das Kind fest an mich gedrückt und verspreche ihm, alles zu
095  tun. Der Kleine scheint einverstanden, wir versichern einander,
096  daß wir beisammenbleiben müssen, ich weiß, daß ich von nun an
097  um das Kind kämpfen werde, da mein Vater kein Recht auf unser
098  Kind hat, ich verstehe mich selber nicht mehr, denn er hat ja kein
099  Recht, ich nehme jetzt das Kind an der Hand und will sofort zu
100  ihm gehen, aber dazwischen sind andere Zimmer. Mein Kind hat
101  noch keinen Namen, ich fühle, daß es namenlos ist wie die
102  Ungeborenen, ich muß ihm bald einen Namen geben und meinen Namen
103  dazu, ich schlage ihm flüsternd vor: Animus. Das Kind möchte
104  keinen Namen, aber es versteht. In jedem Zimmer spielen sich die
105  übelsten Szenen ab, ich halte meinem Kind eine Hand vor die
106  Augen, denn ich habe im Klavierzimmer meinen Vater entdeckt, er
107  liegt unter dem Klavier mit einer jungen Frau, sie könnte diese
108  Masseuse sein, mein Vater hat ihr die Bluse aufgeknöpft und
109  zieht ihr den Büstenhalter aus, und ich fürchte, daß das Kind
110  trotzdem die Szene gesehen hat. Wir drängen uns durch die Gäste,
111  die alle Champanger trinken, in das nächste Zimmer, mein
112  Vater muß vollkommen betrunken sein, wie könnte er sonst das
113  Kind so vergessen. In dem anderen Zimmer, in dem wir Schutz
114  suchen, liegt eine Frau, auch auf dem Boden die mit einem
115  Revolver alle bedroht, ich errate, daß es ein gefährliches Fest
116  ist, ein Revolverfest, ich versuche auf die skurrilen Einfälle
117  der Frau einzugehen, sie zielt auf den Plafond, dann durch die
118  Tür auf meinen Vater, ich weiß nicht, ob sie es im Ernst oder
119  im Spaß tut, sie könnte diese Masseuse sein, denn plötzlich
120  fragt sie gemein, was ich hier zu suchen habe und wer dieser kleine
121  Bastard sei, und ich frage, während sie den Revolver auf mich
122  richtet, ob es nicht umgekehrt sei, ob nicht sie es sei, die
123  nichts hier zu suchen habe, sie aber fragt schrill zurück: Wer
124  ist dieser Bastard, der mir im Weg ist? In meiner Todesangst
125  weiß ich nicht, ob ich das Kind an mich reißen soll oder ob ich
126  es wegschicken soll, ich will rufen: Lauf, lauf! lauf weg von
127  hier! Denn die Frau spielt nicht mehr mit dem Revolver, sie
128  will uns beide aus dem Weg haben, es ist der 26.Jänner, und
129  ich reiß das Kind an mich, damit wir miteinander sterben, die
130  Frau überlegt einen Augenblick, dann zielt sie genau und
131  erschießt das Kind. Sie muß mich nicht mehr treffen. Mein
132  Vater hat ihr nur einen Schuß freigegeben. Während ich über
133  das Kind falle, läuten die Neujahrsglocken, und alle stoßen mit
134  den Champagnergläsern an, sie verschütten auch viele Gläser,
135  der Champagner rinnt über mich, seit der Neujahrsnacht, und ich
136  habe mein Kind nicht im Beisein meines Vaters begraben. Ich bin
137  ins Zeitalter der Stürze gekommen, die Nachbarn lassen manchmal
138  nachfragen, ob etwas passiert sei. Ich bin in ein kleines Grab
139  gefallen und habe mir den Kopf angeschlagen und die Arme ausgerenkt,
140  bis zum nächsten Sturz muß alles geheilt sein, und ich muß
141  diese Zeit in der Gruft zubringen, ich fürchte mich schon vor dem
142  nächsten sturz, aber ich weiß, da es eine Wahrsagung ist, daß
143  ich dreimal stürzen werde, ehe ich wieder aufstehen kann. Mein
144  Vater hat mich ins Gefängnis gebracht, ich bin nicht allzu
145  überrascht, denn ich kenne ja seine guten Verbindungen. Zuerst
146  hoffe ich, daß man mich gut behandeln und mich zumindest schreiben
147  lassen wird. Immerhin habe ich hier Zeit und bin vor seinen
148  Nachstellungen sicher. Ich könnte das Buch fertigschreiben, das
149  ich gefunden habe, schon vorher auf dem Weg zum Gfängnis, in
150  diesem Polizeiwagen habe ich einige Sätze im kreisenden Blaulicht
151  gesehen, zwischen den Bäumen hängend, in den Abflußwässern
152  schwimmend, von vielen Autoreifen in einen zu heißen Asphalt
153  gedrückt. Ich habe mir auch alle Sätze gemerkt, und andere sind
154  auch noch im Kopf geblieben, aber aus der früheren Zeit. Ich
155  werde durch lange Gänge geführt, man will ausprobieren, in
156  welche Zelle ich passe, aber dann stellt sich heraus, daß ich
157  keine Vergünstigungen bekomme. es gibt ein langes Hin und Her
158  zwischen verschiedenen Behörden. Mein Vater steckt dahinter, er
159  hat einen Teil der Akten verschwinden lassen, es verschwinden
160  immer mehr für mich günstige Akten, und zuletzt stellt sich
161  heraus, daß Schreiben für mich nicht zugelassen ist. ich bekomme
162  jetzt zwar eine Einzelzelle, wie ich es mir gewünscht habe im
163  geheimen, man schiebt auch einen Blechnapf mit Wasser herein, und
164  obwohl es zu schmutzig und finster ist in der Zelle, denke ich nur
165  an das Buch, ich bitte um Papier, ich trommle an die Tür, um
166  Papier, weil ich etwas schreiben muß. Es wird mir leichtfallen
167  in der Zelle, ich bedaure es nicht, hier gefangen zu sein, ich
168  finde mich sofort ab damit, nur rede ich dauernd auf die Leute ein,
169  die draußen vorübergehen und mich nicht verstehen, sie meinen,
170  ich protestiere und wehre mich gegen die Haft, während ich sagen
171  will, daß mir die Haft nichts ausmacht, aber ich möchte ein paar
172  Blätter Papier und einen Stift zum Schreiben. Ein Wärter
173  reißt die Tür auf und sagt: Daraus wird nichts, Sie dürfen
174  an Ihren Vater nicht schreiben! Er schlägt die Tür zu und mir
175  die Tür gegen den Kopf, obwohl ich schon schreie: Doch nicht
176  an meinen Vater, ich verspreche es nicht an meinen Vater! Mein
177  Vater hat für die Justiz verbreiten lassen, daß ich gefährlich
178  sei, weil ich wieder schreiben wolle an ihn. Es ist aber nicht
179  wahr, ich will nur den Satz vom Grunde schreiben. Ich bin
180  vernichtet und ich schütte deswegen auch noch den Blechnapf mit dem
181  Wasser um, denn lieber will ich verdursten, weil es nicht war ist,
182  und während ich verdurste und verdurste, umjubeln mich die
183  Sätze, sie werden immer zahlreicher. Einige sind nur zu sehen,
184  andere nur zu hören wie in der Gloriastraße, nach der ersten
185  Morphiuminjetion. In eine Ecke gekauert, ohne Wasser, weiß
186  ich, daß meine Sätze mich nicht verlassen und daß ich ein Recht
187  habe auf sie. Mein Vater schaut durch eine Luke, es sind nur
188  seine trüben Augen zu sehen, er möchte mir meine Sätze
189  abschauen und sie mir nehmen, aber im größten Durst, nach den
190  letzten Halluzinationen, weiß ich noch, daß er mich ohne Worte
191  sterben sieht, ich habe die Worte im Satz vom Grunde verborgen,
192  der vor meinem Vater für immer sicher und geheim ist, so sehr
193  halte ich den Atem an. Es hängt mir die Zunge weit heraus, er
194  kann aber kein Wort darauf lesen. Man durchsucht mich, weil ich
195  ohne Bewußtsein bin, man will mir den Mund befeuchten, die
196  Zunge nässen, damit die Sätze auf ihr zu finden sind, damit man
197  sie sicherstellen kann, aber dann findet man nur drei Steine neben
198  mir und weiß nicht, woher sie gekommen sind und was sie bedeuten.
199  Es sind drei harte, leuchtende Steine, die mir zugeworfen worden
200  sind von der höchsten Instanz, auf die auch mein Vater keinen
201  Einfluß hat, und ich allein weiß, welche Botschaft durch jeden
202  Stein kommt. Der erste rötliche Stein, in dem immerzu junge
203  Blitze zucken, der in die Zelle gefallen ist, vom Himmel, sagt:
204  Staunendleben. Der zweite blaue Stein, in dem alle Blaus
205  zucken, sagt: Schreiben im Staunen. Und ich halte schon den
206  dritten weißen strahlenden Stein in der Hand, dessen
207  Niederfallen niemand aufhalten konnte, auch mein Vater nicht,
208  aber da wird es so finster in der Zelle, daß die Botschaft von
209  dem dritten Stein nicht laut wird. Der Stein ist nicht mehr zu
210  sehen. Ich werde die letzte Botschaft nach meiner Befreiung
211  erfahren.

Zum Anfang dieser Seite