Quelle Nummer 097

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE

EINZELAKKORD
KARL MARTELL (PSEUDONYM)
EINZELAKKORD, S. 17-21
PETER FISCHER, GUENTHER HINZ, GERD HERGEN LUEBBEN,
HEINRICH PAHL (HRSG.)
IHR ABER TRAGT DAS RISIKO, REPORTAGEN AUS DER
ARBEITSWELT, HAMBURG 1971


001  Karl Martell (Pseudonym). 44 Jahre,
002  Oberschule ohne Abitur, Soldat, Kriegsgefangenschaft, keine
003  Berufsausbildung. Nach dem Krieg Dolmetscher, Kontorist,
004  Übersetzer und Wachmann bei verschiedenen amerikanischen
005  Dienststellen, zuletzt bei der US-Luftwaffe in Erding/
006  Oberbayern. Diese Stelle verloren wegen zu linker Einstellung
007  (auf Intervention des CIC). Da ich ohne Beruf war, habe ich
008  mich vom Arbeitsamt auf Metallarbeiter umschulen lassen. Januar
009  bis Mai 1960 Metallarbeiter bei Mayer *und Sohn in Ingolstadt,
010  Mai 1960 bis Juni 1962 Bandführer bei Telefunken in Ingolstadt
011  (Fertigung von Kanalschaltern und UHF-Tunern), Juni
012  1962 bis jetzt Maschinenarbeiter in der Bohrerei/Fräserei der
013  Fa. Motomak GmbH, Ingolstadt. Einzelakkord.
014  Ich arbeite in einem mittleren Betrieb mit sechshundert
015  Beschäftigten. Vor zweiundzwanzig Jahren waren es noch
016  fünfundzwanzig Mann und eine Lohnbuchalterin, dann wurden es
017  vierzig, schließlich fünfundsiebzig, und jedes Jahr wuchs der
018  Betrieb um einige Maschinen und einige Beschäftigte. Es wurde
019  immer wieder angebaut, bis der Betrieb seine heutige, wieder nur
020  vorläufige Größe erreichte. Schon wieder wird ein Gebäude
021  angebaut, diesmal ein dreistöckiges. Wenn es fertig ist, wird
022  der Betrieb kein mittlerer Betrieb mehr sein. Jetzt ist er es
023  noch. Das heißt aber nicht, daß er ein mittelständischer
024  Betrieb ist. Er ist nur ein Glied in einer Kette vieler solcher
025  mittlerer Betriebe. Diese Kette nennt sich zu Recht Konzern.
026  Der Konzern verfügt über zwölf Betriebe in Deutschland, drei
027  in Belgien und einen in Argentinien. Unser Betrieb gehört nicht
028  mehr dem ursprünglichen Besitzer, dem, der damals sich und
029  sechsundzwanzig Mitarbeiter abmühte, aber es geht ihm noch immer
030  gut. Er ist mit fünfzehn Prozent am Gewinn beteiligt.
031  Fünfzehn Prozent von sechshundert sind neunzig. Er kassiert,
032  was neunzig Beschäftigte für ihn erarbeiten, und braucht sich
033  weiter um nichts zu kümmern. Unser Betrieb produziert die
034  kleineren Teile für größere Firmen, Innenringe, Außenringe,
035  Anlaufscheiben, Kurbelwellen, Rollenbolzen,
036  Verschlußscheiben und anderes Kroppzeug, dessen Produktion sich
037  für die Großen nicht lohnt und das sie sich lieber zuliefern
038  lassen. Auch, was der Betrieb als Eigenproduktion bezeichnet,
039  Ölpumpenstöcke, Kugellager und Schwingförderer, dient als
040  Bauelelment für fremde Motoren und Maschinen. Unser Betrieb
041  ist ein Zulieferbetrieb und der Konzern ein Zulieferkonzern. Ich
042  arbeite als Akkordarbeiter in der Bohrerei/Fräserei unseres
043  Betriebes. Wir haben Einzelakkord, jeder ist nur für seinen
044  Arbeitsgang verantwortlich. Auf diesem Arbeitsgang hat er eine
045  bestimmte Stückzeit, die er einhalten muß, damit er im Akkord
046  bleibt. Er darf dreiunddreißig Prozent darüber produzieren und
047  verrechnen. Schafft er weniger, bekommt er weniger Geld,
048  verrechnet er mehr als dreiunddreißig Prozent, kommt der
049  Zeitnehmer und haut die Zeit herunter. Gruppenakkord oder
050  Fließbandarbeit gibt es bei uns nicht. Die Arbeitsgänge sind zu
051  verschieden in ihrer Dauer. Bis auf einige wenige neue sind die
052  Maschinen von minderer Qualität. Manche stammen noch aus der
053  Zeit vor dem Krieg, andere aus der Zeit kurz danach. Sie werden
054  immer wieder repariert und zusammengeflickt und ab und zu
055  generalüberholt und frisch lackiert. Wir haben viele frisch
056  lackierte Maschinen in unserem Betrieb. Auch meine Maschine ist
057  frisch lackiert. Es ist eine Räummaschine, neun Meter lang.
058  Sie gilt als modern, weil sie hydraulisch arbeitet, ist es aber
059  nicht, denn sie arbeitet horizontal statt vertikal. Auf dieser
060  Maschine räume ich Keilnuten in Büchsen für Kugellager und
061  Gangschaltungen. Dies geschieht mit Hilfe einer Räumnadel,
062  einer Stange von einem Meter Länge und 3,5 cm Dicke. Sie
063  steckt in einem Zubringerschlitten. Auf diese Nadel werden zwei
064  Büchsen, 35 mm Durchmesser, 24 mm Länge und 3 mm Dicke,
065  hintereinander aufgeschoben. Ein Ruck am Hebel, der
066  Zubringerschlitten fährt vor und führt den Kopf der Nadel in die
067  Zugvorrichtung ein. Ein zweiter Ruck und die Zugvorrichtung
068  setzt sich in Bewegung. Die Sperre klinkt ein, die Nadel zieht
069  die Büchsen auf Anschlag und beginnt zu räumen. Die sanft
070  ansteigenden Zähne auf der Nadel fräsen Aussparungen in die
071  Wandung der Büchsen. Diese Aussparungen nennt man Keilnuten.
072  Jede Büchse erhält acht solcher Nuten, weshalb die Zahnkränze
073  auf der Nadel je acht Zähne haben. Bei den sechzig Zahnkränzen
074  auf der Nadel beträgt der Unterschied von einem Zahnkranz zum
075  anderen nur 3 hunderstel Millimeter. Dennoch steigt der Druck,
076  dem die Nadel ausgesetzt ist, auf vier Tonnen. Wenn die Nadel
077  stumpf ist, steigt er auf sechs. Dann kann es passieren, daß der
078  Kopf der Nadel abreißt. Der Gegendruck schleudert sie mit einem
079  Knall aus der Maschine. Deshalb muß ich stets auf den Druck
080  achten. Wenn er zu hoch wird, muß ich die Nadel zum Schleifen
081  geben. Die Nadel räumt die acht Nuten, und die letzten vier
082  Zahnkränze kalibrieren sie, bringen sie auf das vorgeschriebene
083  Maß. Toleranz plus-minus zweieinhalb hunderstel Millimeter.
084  Aber nicht nur das Maß ist wichtig, sondern auch die Glätte der
085  Nuten. Wenn man die Büchse gegen das Licht hält, müssen die
086  Nuten spiegeln und dürfen keinerlei Kratzer aufweisen. Um dies
087  zu erreichen, werden Büchsen und Nadeln während des
088  Arbeitsganges geschmiert. Aus einem dünnen Rohr fließt Öl auf
089  die Werkstücke und das Werkzeug. Da es nicht kühlt, sondern
090  nur schmiert, werden Büchsen und Nadel heiß, und stinkender
091  Öldampf hängt über dem Anschlag. Früher haben wir mit anderen
092  Ölen gearbeitet, Ratak und Slidolin. Beide Öle wurden mit
093  Wasser gemischt, so daß Büchsen und Nadel kalt blieben. Damit
094  ließ es sich gut arbeiten. Man wurde nicht so schmierig, und es
095  stank nicht so sehr. Dann kam jemand auf die Idee, die
096  Lebensdauer der Nadel zu verlängern. Seither verwenden wir
097  Garia A. Es wird nicht mit Wasser vermischt. Wir verwenden es
098  pur. Bei zwei Schichten im Tag verbrauchen wir zehn Liter Öl
099  täglich. Von den anderen, angenehmeren Ölen verbrauchten wir
100  keine zehn Liter in der Woche. Jetzt stinken mein Ablöser und
101  ich die ganze Woche nach Garia A. Dafür hat sich die
102  Lebensdauer der Nadel um fünf Prozent erhöht. Wenn die Nadel
103  sich durch die beiden Büchsen hindurchgefräst hat, schaltet sich
104  der Vorschub aus. Ich muß dann die zwei heißen Büchsen vom
105  Nadelende ziehen und schnellstens in die Kiste mit den fertigen
106  Teilen legen, bevor ich mir an ihnen die Finger verbrenne. Dann
107  muß ich die ebenfalls heiße Anschlagbüchse herausziehen und die
108  Nadel zurückholen. Dazu lege ich den Hebel nach links um. Die
109  Maschine heult auf, der Zugschlitten schießt in die
110  Ausgangsstellung, schiebt das Nadelende in den Zubringerschlitten
111  und der zieht sie aus der nun geöffneten Schnappvorrichtung einen
112  halben Meter zurück, damit ich die nächsten zwei Büchsen auf
113  die Nadel schieben kann. Aber weil die Maschine nicht mehr die
114  Jüngste ist, hat sich an ihr verschiedenes gelockert und abgenutzt.
115  Sie heult beim Rücklauf wie ein verwundetes Tier. Der
116  Zugschlitten quietscht und schlägt am Anschlag an, was er gar
117  nicht soll. Fast gleichzeitig klatscht das Nadelende in die
118  Halterung des Zubringers, und selbst dieser schlägt lauter an als
119  er soll, wenn er das halbe Meter zurückgefahren ist. Die ganze,
120  neun Meter lange Maschine erzittert. Früher, als die Maschine
121  noch neu war in unserem Betrieb, träumte ich nächtelang von ihr.
122  Ich träumte nie, wie sie räumte, sondern immer nur vom
123  Aufheulen, Quietschen, Anschlagen, Aufklatschen und vom
124  letzten Bumm des Zubringers. Die Maschine kehrte nächtelang in
125  ihre Ausgangsstellung zurück, ohne sie je verlassen zu haben.
126  Auch jetzt träume ich noch davon, aber nur selten. Nach drei
127  Jahren gewöhnt man sich auch an diesen Lärm. Nach dem Bumm des
128  Zubringers ist der Arbeitsgang beendet. Zwei Büchsen sind
129  fertig, siebenundfünfzig Sekunden, null-Komma-
130  fünfundneunzig Minuten sind um. Schon sind die nächsten
131  Büchsen aufgeschoben, die Anschlagbuchse ist eingesetzt und der
132  Zubringer fährt vor. Wenn ich dran bleibe, weder Bier oder
133  Kaffee hole noch die Toilette im Keller aufsuchen muß, schaffe
134  ich hundertzwanzig Stück in der Stunde. Bei meiner Stückzeit
135  von null-Komma-siebzig oder zweiundvierzig Sekunden brauche
136  ich sechsundachtzig Stück, um im Akkord zu bleiben. Dann
137  verdiene ich vier Mark fünfzig. Will ich die dreiunddreißig
138  Prozent mehr erreichen, die ich verrechnen darf, brauche ich
139  hundertvierzehn-Komma-sechs Stück und verdiene dann sechs
140  Mark. Ich verdiene nicht immer sechs Mark. Der Arbeitsgang
141  läuft in immer gleichem Tempo ab. Er hat eine lange, durch
142  nichts zu beeinflussende Laufzeit. Man kann ihn nicht
143  beschleunigen. Bei anderen Arbeiten, solchen, die viele
144  Handgriffe beinhalten, kann man durch schnelleres Arbeiten Zeit
145  herausholen. An meiner Maschine kann man das nicht. Man kann
146  höchstens Zeit verlieren, nämlich dann, wenn etwas schief läuft.
147  Wenn zum Beispiel eine Büchse nicht maßgerecht gedreht ist,
148  kann man sie nicht auf die Nadel schieben. Bis man das feststellt,
149  verliert man Zeit. Etwa fünf Prozent der Büchsen sind
150  mangelhaft und müssen nachgedreht werden. Aber nicht nur
151  Getränkeholen, mangelhafte Büchsen und unaufschiebbare
152  Bedürfnisse werfen einen zurück. Da sind noch andere Ursachen,
153  die an der Maschine selber liegen. Ständig lockert sich der
154  Schalthebel oder der Anschlag. Sie müssen nachgezogen werden.
155  Alle zwei Stunden muß ich den Korb, in den die Späne fallen,
156  ausleeren. Vergesse ich es, verstopfen die Späne den Abfluß
157  und das Öl läuft über. Dann muß ich Sägespäne holen und die
158  Bescherung aufräumen. Zuweilen funktioniert die Hydraulik nicht
159  richtig, die Sperre der Zugvorrichtung schnappt nicht ein und die
160  Maschine läuft leer durch. Manchmal bewegt sich der Zubringer im
161  Zeitlupentempo vor und zurück. Dagegen kann man gar nichts machen,
162  höchstens beten, daß es nicht zu oft passiert. Die Stückzeit
163  ist einfach zu knapp, denn schließlich geht auch einmal täglich
164  das Öl aus. Es wird zu viel davon verspritzt und anderweitig
165  vergeudet. Dann muß ich Öl holen und das wirft mich um
166  mindestens zwanzig Minuten zurück. Wann dieser Zeitpunkt
167  eintritt, ist nie genau vorherzusehen, mall trifft es meinen
168  Ablöser, mal mich. Wenn es soweit ist, füllt der Meister
169  einen Entnahmeschein über 10 Liter Garia A aus. Mit diesem
170  Schein trabe ich in den Keller zur Lageristin, damit sie mit mir
171  ins Öllager geht. Aber das geht nicht so schnell. Sie beendet
172  grundsätzlich erst einmal die Arbeit, mit der sie sich gerade
173  befaßt, auch wenn diese Arbeit nicht gerade eilig ist. Dann
174  prüft sie den Entnahmeschein, läßt mich unterschreiben und
175  heftet ihn ab. Im Öllager muß ich erst einmal das Faß mit dem
176  Garia A finden, es befindet sich selten am gleichen Ort wie beim
177  letzten Mal, und auch gleich eine Kanne, in die ich es abfüllen
178  könnte. Manchmal muß man recht lange nach einer Kanne suchen,
179  weil gerade alle Kannen irgendwo unterwegs sind. Wenn ich Pech
180  habe, ist das Faß leer und ein neues noch nicht aufgebockt. Dann
181  muß ich Hilfe herbeiholen, einen von den Schlossern, die im
182  Keller ihre Werkstatt haben, und das volle 200-Liter-
183  Faß aufbocken und anzapfen. Man kann das Öl auch aus dem vollen
184  Faß in das leere, aufgebockte umpumpen, wenn die Pumpe gerade
185  zur Hand ist. Bisher habe ich sechsmal ein leeres Faß
186  vorgefunden, aber nur einmal war die Pumpe zur Hand. Im
187  Öllager sind drei sogenannte Ölscheiche beschäftigt, aber die
188  haben keine Zeit. Sie müßen an die dreihundert Maschinen
189  abschmieren, Ölwechsel machen, Hydrauliköl auffüllen,
190  verbrauchte Kühlmittel absaugen und die Behälter reinigen, den
191  Kompressor pflegen, die Preßluftleitungen entwässern und vieles
192  mehr. Wenn ich auf die warten müßte, bliebe meine Maschine
193  einige Stunden stehen. Also muß ich alles selber machen. Wenn
194  es gut geht, verliere ich zwanzig Minuten. Oft auch mehr. Diese
195  Zeit kann ich nicht mehr einholen. Nicht mit dem vorgeschriebenen
196  Vorschub. Wenn ich sechs Mark verdienen will, muß ich den
197  Vorschub höher stellen. Ich stelle ihn von einem Meter pro
198  Minute auf eins-Komma-zwei. Wenn ich dranbleibe, die
199  Nadel nicht abreißt und die Flanken der Nuten nicht rauh werden,
200  schaffe ich jetzt hundertfünfzig Stück in der Stunde. Nach zwei
201  Stunden habe ich den Rückstand eingeholt. Nach einer weiteren
202  Stunde bin ich eine Viertelstunde im voraus, und die brauche ich,
203  um bei Schichtende die Maschine zu reinigen. Ich muß sie von
204  Spänen säubern, den Spänekorb ausleeren, den Abfluß
205  durchbürsten, den Fußboden rund um die Maschine mit
206  Sägespänen bestreuen, warten, bis sie das rundum verspritzte
207  Öl eingesaugt haben, zusammenkehren und den Arbeitstisch neben
208  der Maschine sowie Meßuhr und Meßdorn blankwischen. Ich muß
209  auch noch von der Kontrolle die Stückzahl in die Laufkarte und in
210  meinen Akkordschein eintragen lassen, denn davon hängt mein
211  Verdienst ab. Die Stückzahl ist die Fessel, die mich an die
212  Maschine kettet und die Peitsche, die mich antreibt. Wenn ich
213  den Vorschub nicht höher stelle, schaffe ich die Stückzahl nicht,
214  aber es ist strengstens verboten, den Vorschub höher zu stellen.
215  Die Kontrolleure, die Einsteller und die Meister müssen
216  darauf achten, daß keiner den Vorschub höher stellt, doch sie
217  merken es nicht oder sie drücken sämtliche Augen zu, solange
218  Maß und Qualität der Werkstücke stimmen.

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