Quelle Nummer 071

Rubrik 24 : BOTANIK   Unterrubrik 24.00 : BOTANIK

LIEBE UND HASS
IRENAEUS EIBL-EIBESFELD
MUENCHEN 1970, S. 112-119
VERHALTENSFORSCHUNG POPULAERWISSENSCHAFTLICH


001  Die Aggressionshemmung. Das Gebot " Du sollst
002  nicht töten " findet man in irgendeiner Form bei allen Völkern,
003  auch bei Kopfjägern und Kannibalen. Nirgends ist es generell
004  erlaubt, einen Mitmenschen zu töten. Das ist sicher schon aus
005  Zweckmäßigkeitserwägungen vernünftig; ein soziales
006  Zusammenleben von Menschen wäre ohne eine solche Regelung kaum
007  vorstellbar. Die interessante Frage ist jedoch, ob wir uns allein
008  verstandesmäßig zu diesem Gesetz bekennen oder ob wir darüber
009  hinaus auch angeborenen Neigungen folgen. Sollte letzteres
010  zutreffen, dann wird unsere Hoffnung auf ein friedliches
011  Zusammenleben sicher besser begründet sein, als wenn uns nur
012  Zwang und reine Vernunft zur Gesetzestreue bringen. Wir
013  erörterten bereits die Tatsache, daß bei verschiedenen Tieren
014  der Mord am Artgenossen durch Einhaltung bestimmter Kampfregeln
015  und durch das Vorhandensein angriffshemmender Mechanismen
016  verhindert wird. Viele Tiere können sich im Verlauf einer
017  Auseinandersetzung dem Artgenossen unterwerfen. Ihre
018  Demutsgebärden hemmen einen weiteren Angriff. Diese
019  " moralanalogen " Verhaltensweisen (Lorenz) sind den Tieren
020  angeboren. Auch wir Menschen verfügen über ein reiches
021  Repertoire an Beschwichtigungsgebärden und
022  Demutsgebärden. Die meisten sind uns angeboren. So weinen und
023  klagen Menschen in den verschiedensten Kulturen in prinzipiell
024  gleicher Weise, und zwar nicht nur mit den gleichen Gebärden,
025  sondern auch mit den gleichen Klagelauten. Daß auch taubblind
026  geborene Kinder weinen, erwähnte ich schon. Auch in jenen
027  Gesten der Unterwerfung, die kulturell ausgestaltet werden,
028  stecken angeborene Elemente. So macht man sich kleiner, wenn man
029  sich unterwirft. Im einzelnen kann das durch Fußfall, Kniefall
030  oder durch eine Verbeugung geschehen. Hilflosigkeit, Schwäche
031  und kindliches Verhalten erregen ebenfalls Mitleid. Unser
032  wichtigstes freundliches Signal ist das Lächeln. Mit dieser
033  angeborenen Verhaltensweise sind wir in der Lage, uns mit völlig
034  Unbekannten anzufreunden. Ein Lächeln entwaffnet. Erst
035  kürzlich las ich von einem amerikanischen Sergeanten, der sich
036  plötzlich zwei Vietcong-Soldaten gegenüber fand. Sein
037  Gewehr versagte, und da lächelte er, was seine Gegner hemmte.
038  Mißtrauen und Angst ließen den angebahnten Kontakt jedoch sofort
039  wieder ersterben. Der Amerikaner lud durch und tötete seine
040  Gegner. Kypselos, der spätere Tyrann von Korinth, entging der
041  Sage zufolge als Säugling seinen Häschern, weil er sie
042  anlächelte. Zudem wirken die Kindchenmerkmale (siehe
043  Kindchenschema, S. 34) an sich schon beschwichtigend. Es
044  gibt zwar genügend verbürgte Berichte von Gewalttätigkeiten
045  wehrlosen Kindern gegenüber, doch werden solche Vorkommnisse von
046  den Chronisten stets als etwas Außergewöhnliches und
047  Schreckliches bezeichnet. Es ist bezeichnend, daß alle Welt
048  sich über das Massaker von Song My empört, während sie das
049  anonyme Morden einer weit größeren Zahl von Zivilisten durch
050  Bombenabwürfe relativ ruhig zur Kenntnis nimmt. Die Vorstellung,
051  daß jemand Frauen und Kinder erschießt, ist zu allen Zeiten
052  schrecklich gewesen und empört das Empfinden. Wieso Derartiges
053  dennoch passieren kann, werden wir im Folgenden erörtern. Da ein
054  Kind allein durch seine Erscheinung Aggressionen hemmt, benützt
055  man den Appell über das Kind recht häufig zur Beschwichtigung.
056  Wollten zum Beispiel australische Eingeborene den Kontakt mit
057  Weißen aufnehmen, dann schoben zwei alte ranghohe Männer ein
058  kleines Kind vor sich her, auf dessen Schultern sie ihre Hände
059  legten. Sie verließen sich darauf, daß niemand einem kleinen
060  Kinde etwas antun würde. Wir werden dieses Prinzip noch durch
061  weitere Beispiele belegen. Es genügt hier festzuhalten, daß wir
062  Menschen, was die Aggressionshemmungen betrifft, keineswegs aus
063  der Reihe der höheren Wirbeltiere tanzen. Wir können mit
064  wenigen Signalen in Sekundenschnelle beschwichtigen. Es ist
065  geradezu verblüffend, wie rasch man durch ein Lächeln, durch
066  submisses Verhalten (oft mit vorgetäuschter Hilflosigkeit als
067  Kindchenappell) und mit einer gestammelten Entschuldigung einen
068  aufbrausenden Wütenden besänftigt. Die mitleiderregenden und
069  beschwichtigenden Appelle reichen nun nicht immer aus, einen Mord
070  an Artgenossen zu verhindern. Damit erhebt sich die Frage, warum
071  das so ist. Lorenz meint, wir seien nur gegen uns bekannte
072  Mitmenschen ausreichend angriffsgehemmt. Die Forderung, alle
073  unsere Menschenbrüder zu lieben, vermöge zwar unsere Vernunft
074  voll zu erfassen, aber so wie wir jetzt konstruiert sind, seien wir
075  nicht fähig, diese Forderung zu erfüllen. Das warme Gefühl
076  von Liebe und Freundschaft verbinde nur mit Einzelmenschen, und
077  daran würde auch der beste Wille nichts ändern. Damit bleibt
078  nach Lorenz nur die Hoffnung, daß sich unsere Nachkommen unter
079  dem Selektionsdruck genetisch wandeln und so die Fähigkeit
080  erlangen, alle Menschen ohne Ansehen der Person zu lieben. Der
081  heutige Mensch sei nicht gut genug für die Anforderung des
082  modernen Gesellschaftslebens. Das ist in der Tat der Eindruck,
083  den man gewinnt, wenn man die schonungslosen kriegerischen
084  Auseinandersetzungen der Völker erlebt. Sicher sind wir
085  anlagemäßig Fremden gegenüber weniger gehemmt. Jeder
086  Autofahrer weiß, wie leicht man sich über Fremde erregt, die
087  einen beim Verkehr behindern. Erst kürzlich erlebte ich, wie
088  mich ein Überholender schnitt. Ich setzte schon zum Schimpfen an,
089  da erkannte ich im Fahrer einen guten Bekannten von mir, und
090  gleich schwang meine Stimmung um, wir lächelten uns an, grüßten
091  freundlich, und mein Ärger war verflogen. Fremden gegenüber
092  sind wir weniger tolerant. Das ist eine uns angeborene Disposition,
093  die wir mit jenen geselligen Säugern teilen, die exklusive
094  Verbände bilden. Dazu gehören auch die meisten Affen der Alten
095  Welt. Bei all diesen Tieren führt jedoch die aggressive
096  Auseinandersetzung normalerweise nicht zum Mord. Obgleich
097  Gorillas, Schimpansen und Orangs über gewaltige Körperkräfte
098  und ein kräftiges Gebiß verfügen, ist bisher nur einmal
099  beschrieben worden, wie ein Gorilla-Mann einen anderen
100  erwürgte, und auch das sah der Berichterstatter nicht selbst,
101  sondern hörte es von einem Wildhüter. Meines Wissens hat sonst
102  kein Beobachter beschrieben, daß ein Menschenaffe einen anderen
103  in freier Wildbahn getötet hätte. Beim Menschen ist das ganz
104  anders. 25 Prozent aller männlichen Waika-Indianer kommen
105  nach neuesten Schätzungen bei kriegerischen Auseinandersetzungen
106  ums Leben. Und diese Tatsache erklärt sich nicht allein aus der
107  geringeren Hemmung Fremden gegenüber. Es kommen zwei weitere
108  Faktoren hinzu. Voraussetzung für das Wirksamwerden
109  beschwichtigender Demutsgebärden ist, daß der Angegriffene
110  genügend Zeit hat, die Signale der Unterwerfung zu senden, und
111  daß sein Gegner sie auch wahrnehmen kann. Diese Voraussetzungen
112  sind meist nicht mehr gegeben, wenn Menschen mit Waffen
113  aufeinander losgehen. Bereits mit der Erfindung des Faustkeils
114  konnte der Mensch seinen Gegner durch einen einzigen Schlag außer
115  Gefecht setzen und ihm damit von vornherein jede Möglichkeit zur
116  Unterwerfung nehmen. Es ist sicher kein Zufall, daß wir mit dem
117  Auftreten der ersten Waffen auch die ersten eingeschlagenen
118  Menschenschädel finden: Von den Australopithecinen-
119  Schädeln, die Dart in Südafrika ausgrub, zeigten die meisten
120  Spuren von Gewalteinwirkung. Unsere angeborenen
121  Angriffshemmungen sind auf unsere biologische Ausstattung
122  abgestimmt. Wenn Menschen einander mit bloßen Händen angreifen,
123  dann kann sich schließlich einer unterwerfen und unser Mitleid
124  erregen. Mit der Erfindung der ersten Waffe änderte sich das
125  schlagartig, und wir dürfen annehmen, daß sich der Mensch damals
126  in einer ähnlichen Krisensituation befand wie wir im Zeitalter der
127  Atomwaffen. Es gelang unseren Vorfahren, sich anzupassen, aber
128  jede neue Waffe stellte sie von neuem vor das Problem, neue
129  kulturelle Kontrollen zu erfinden, und stets hinkte die
130  Entwicklung ritterlicher Verhaltensregeln der Waffentechnik nach.
131  Welche Schwierigkeiten neu eingeführte Waffen den Menschen
132  bereiten, erlebte ich kürzlich am oberen Orinoko. Die dort
133  ansässigen Waika-Indianer erhalten seit einigen Jahren über
134  die Missionen Haumesser (Macheten). In einem Dorf hatte
135  während meiner Anwesenheit ein Mann gerade mit der Machete seine
136  Frau verprügelt und ihr tiefe Schnitte an Schulter und Armen
137  zugefügt. Dann erst hatte er sich besonnen und die Frau zum
138  Verbinden zur nahen Mission gebracht, wobei er sie durchaus
139  sorgsam betreute. Solche Unfälle passieren des öfteren. Den
140  Waikas ist offenbar die Gefährlichkeit dieser Haumesser noch
141  nicht völlig ins Bewußtsein gedrungen. Sie benützen sie im
142  Affekt wie einen Prügel. Nie würden sie innerhalb ihrer Gruppe
143  ähnlich sorglos mit ihren Giftpfeilen umgehen. Eine Waffe
144  erlaubt es, leicht und schnell zu töten. Ja, beim Zielen auf
145  Distanz ist sich ein Schütze im allgemeinen gar nicht bewußt,
146  daß er im Begriff ist, einen Mitmenschen zu töten. Er zielt
147  auf einen dunklen Fleck im Gelände und krümmt dabei nur einen
148  Finger. Daß dies für den Mitmenschen so ungeheure Folgen hat,
149  vermag sein Gefühl nicht zu begreifen. Und wollte man von einem
150  Bomberpiloten verlangen, seine Opfer einzeln zu töten, er wäre
151  über diese Zumutung empört. Insofern hat die technische
152  Entwicklung unsere angeborenen Hemmungen überlistet, und wir
153  müssen dies mit unserer Einsicht verstandesmäßig kompensieren,
154  wenn wir als Art überleben wollen. Aber die Hemmungen, und das
155  wollen wir nicht vergessen, sind vorhanden. Uns sind die Appelle
156  und die angeborene Fähigkeit zum Mitleid als stammesgeschichtliche
157  Anpassung gegeben. Vielleicht noch schwerer als die Erfindung der
158  Waffen wiegt die Fähigkeit des Menschen, seinen Gegner zu
159  verteufeln. Menschen können sich dank ihres hochentwickelten
160  Intellekts einreden, daß ihre Gegner keine Menschen, sondern
161  bestenfalls Tiere oder höchst gefährliche Unmenschen seien;
162  solches " Ungeziefer " darf man, ja muß man töten. Die
163  brasilianischen Mundurucu-Indianer teilen die Welt in sich und
164  in " Pariwat " - alle übrigen - ein. Diese anderen gelten
165  als Jagdwild, und man spricht auch von ihnen wie von Tieren
166  (Murphy). Auf Java gebraucht man für menschlich und
167  Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe das gleiche Wort. Eine
168  Untersuchung amerikanischer Kriegs-Comics ergab, daß selbst
169  die Todesschreie und Entsetzensschreie der Amerikaner
170  anders dargestellt wurden als jene der Gegner. Und damit die
171  Krieger nicht über den Kontakt mit ihren Feinden schließlich
172  doch erkennen, daß es sich hier um Mitmenschen handelt, erläßt
173  man strenge Non-Fraternisations-Gesetze, die den Kontakt
174  mit den Feinden auch nach ihrer Unterwerfung unterbinden sollen.
175  Der gewaltige Aufwand einer Kriegspropaganda wäre sicher nicht
176  notwendig, wäre der Mensch nicht im Grunde kontaktbereit und bis
177  zu einem gewissen Grade gegen jeden Mitmenschen angriffsgehemmt.
178  Die Bereitschaft, ein Band zum Nächsten zu knüpfen, ist in
179  der Tat so groß, daß immer die " Gefahr " besteht, zwei
180  feindliche Gruppen könnten sich anfreunden, wenn sie einander nur
181  lange und nahe genug gegenüberliegen. Im Ersten Weltkrieg waren
182  die Schützengräben der Westfront einander so nahe, daß
183  Franzosen und Deutsche bei monatelangem Stillstand der Front
184  nicht umhin konnten, im Gegner menschliche Eigenschaften zu
185  entdecken, und allein die Einsicht, daß der da drüben eigentlich
186  auch hungrig ist und unter den Nöten des Alltags ebenso leidet,
187  war genug, um die Truppen zu " demoralisieren ". War es dann so
188  weit, daß sie Zigaretten austauschten, dann war es für die
189  Generalität Zeit, die Truppen auszuwechseln. In diesen
190  Fällen genügte also offensichtlich die Erkenntnis, daß andere
191  eben auch Menschen sind, um die Angriffsbereitschaft zu hemmen und
192  die Bereitschaft, ein Band zu stiften, zu wecken. Für die
193  Angriffshemmung ist also die individualisierte Bindung keineswegs
194  Voraussetzung, sie fördert sie allerdings erheblich. Die
195  Verteufelung besteht nicht allein darin, daß man den Gegner zum
196  Unmenschen stempelt, sondern vielmehr auch in der Erweckung von
197  Angst und Mißtrauen. Und Angst verschließt, wie jeder
198  Reisende weiß, die Türen. Naturvölker sind Fremden
199  gegenüber oft nur aus Angst aggressiv. Besucht man solche
200  Menschen mit einer größeren Gruppe, dann muß man schon sehr
201  deutlich die friedliche Absicht bekunden. Ja, bei den aggressiven
202  Waikas wird Freundschaftsbesuch von Dorf zu Dorf nur dann
203  gestattet, wenn die Besucher auch Frauen und Kinder mitbringen.
204  Auf meinen zahlreichen Reisen zu Naturvölkern war ich sehr oft
205  allein, und nie ist mir jemand feindlich entgegengetreten. Allein
206  löste ich nie Angst, sondern nur freundliche Neugier aus, und
207  das gab mir Gelegenheit, mich mit diesen Menschen über das
208  Lächeln und mit Hilfe anderer bandstiftender Verhaltensweisen
209  anzufreunden. Die große Bedeutung, die der Kriegspropaganda
210  beigemessen wird, zeigt, wie stark die Menschen an sich zum
211  friedlichen Kontakt neigen. Und ist ein solcher Kontakt zwischen
212  Menschen einmal hergestellt, dann bestehen starke
213  Angriffshemmungen. Schon Darwin meinte, daß es eine
214  entscheidende Aufgabe des zivilisierten Menschen sei, über die
215  Kleingruppenverbundenheit hinaus die Sympathiegefühle, die ihn
216  mit seinen Bekannten verbinden, auf alle Menschen auszudehnen:
217  " Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleinere
218  Stämme zu größeren Gemeinschaften vereingit werden, so wird das
219  einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, daß es seine
220  sozialen Instinkte und Sympathien auf alle Glieder derselben
221  Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt
222  sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch
223  eine künstliche Grenze, welche ihn abhält seine Sympathien auf
224  alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehenen ". Unsere
225  Erörterung hat gezeigt, daß wir auch Unbekannten gegenüber mit
226  Angriffshemmungen ausgerüstet sind, sofern wir nicht Barrieren
227  errichten, die Kontakte verhindern, und Waffen einsetzen, die
228  uns vom Gegner so distanzieren, daß wir seine menschlichen
229  Reaktionen nicht wahrnehmen können. In der Tatsache, daß diese
230  Angrisshemmungen nicht erst als kultureller Überbau geschaffen
231  werden, liegt unsere großse Hoffnung. Wäre es nicht so, eine
232  mitleidlose Kultur könnte sich nur allzuleicht etablieren - es
233  gäbe ja keine verbindlichen Normen.

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