Quelle Nummer 068
Rubrik 08 : GESELLSCHAFT Unterrubrik 08.12 : VERBRECHEN
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001 Der Fall Bartsch - und kein Ende. Heute
002 vor einem Jahr beschloß der Bundesgerichtshof: " Jürgen
003 Bartsch (24) muß noch einmal vor Gericht. Um zu prüfen, ob
004 er ein brutaler Mörder - oder ein Kranker ist. " Jetzt
005 beschlossen die 4 Väter der Bartsch-Opfer: " Dieser
006 Unmensch darf nie wieder auf freien Fuß! Wir wollen alles tun,
007 um das zu verhindern. " Bild am Sonntag berichtet hier
008 über die Tragödie dieser Väter und ihrer Familien. Über die
009 Hintergründe des neuen Prozesses. Und über Jürgen Bartsch
010 heute: Der Angeklagte springt erregt auf, hebt
011 beschwörend die Arme. " Herr Richter, Sie können mich doch
012 nicht einfach ins Gefängnis stecken ", ruft er in den Saal,
013 " mein Kind ist verschwunden. Ich muß es doch suchen! Haben Sie
014 denn kein Verständnis dafür? " Der Amtsrichter in Moers
015 (Niederrhein) zuckt nur mit den Schultern. Er kann dem Mann
016 nicht helfen: Er muß den Bergmann Rudolf Fuchs (44) aus
017 Gelsenkirchen-Resse nach den Buchstaben des Gesetzes
018 verurteilen, so wie jeden anderen Verkehrssünder auch. Neunmal
019 war der einschlägig vorbestrafte Rudolf Fuchs ohne Führerschein
020 am Steuer eines Autos erwischt worden. Das Urteil: 19 Monate
021 Gefängnis. Fuchs ist verzweifelt. Vergeblich versucht er ein
022 letztes Mal, die kalte, seelenlose Maschinerie der Justiz
023 anzuhalten, als er beteuert: " Ich bin doch nur deshalb gefahren,
024 weil ich meinen Sohn suchte. Wissen Sie denn nicht, wie das
025 ist, wenn zu Hause eine weinende Frau sitzt (...). Wenn man selbst
026 Tag und Nacht keine Ruhe findet? " Niemand erhört ihn.
027 Weder er noch der Richter ahnen in diesem Augenblick, daß der
028 13jährige Peter Fuchs, dem die nächtlichen Fahrten des Vaters
029 gegolten haben, in einem alten Luftschutzstollen liegt. Ermordet.
030 Verstümmelt. Vierzehn Tage später weiß es jeder! Am
031 21.Juni 1966 wird in der rheinischen Kleinstadt Langenberg ein
032 " höflicher, netter Junge " festgenommen, der als sadistischer
033 Massenmörder in die Kriminalgeschichte eingeht. Es ist der
034 19jährige Metzgergeselle und Amateurzauberer Jürgen Bartsch.
035 Nur wenige Schritte von der Wohnung seiner Adoptiveltern
036 entfernt, hat die Polizei die Leichen von vier kleinen Jungen
037 entdeckt, von Klaus Jung (8), Ulrich Kahlweiß (11),
038 Manfred Graßmann (11) und von Peter Fuchs (13). Der
039 düstere, 200 Meter lange Stollen gleicht einem gespenstischen
040 Filmatelier, als die Leichen der Kinder im Licht riesiger
041 Scheinwerfer abtransportiert werden. Während Bartsch nach
042 einer dreiwöchigen Verhandlung von der Jugendkammer des
043 Wuppertaler Landgerichts zu lebenslanger Gefängnishaft verurteilt
044 wird, sitzt Vater Fuchs in einer Zelle des Gefängnisses in
045 Wiedenbrück und büßt seine Verkehrsstrafe. Das Bartsch
046 -Urteil erfährt er aus der Zeitung. Und abermals muß er
047 erkennen, daß er von dem Behördenapparat der Justiz kein
048 Mitgefühl erwarten kann: Die (Abb.) Anstaltsleitung weigert sich,
049 dem Mann, der dem Mörder seines Jungen ins Gesicht sehen wollte,
050 auch nur für einen Tag Urlaub zu gewähren. Diesen Jürgen
051 Bartsch, der am 5.August 1965 mit einem Blick erkannte, daß
052 sich der kleine Peter Fuchs auf der Rückfahrt von seiner Tante
053 in Essen verlaufen hatte, und ihn mit in seine " Höhle "
054 schleppte, kennt der inhaftierte Vater nur aus der Zeitung.
055 " Ich mußte meine Strafe voll abbrummen. Meine Familie lebte
056 während dieser Zeit von der Wohlfahrt. Ihr ging es mehr als
057 schlecht ", erzählte Rudolf Fuchs Bild am Sonntag
058 in einem Essener Hotel. Er hatte sich dort in der letzten
059 Woche zum erstenmal nach der Verhaftung von Jürgen Bartsch mit
060 den Vätern der anderen Bartsch-Opfer zu einem Gespräch
061 getroffen. Neben der Trauer um den Tod ihrer Kinder ist bei
062 diesen Vätern Bitterkeit zurückgeblieben. Sie können nicht
063 verstehen, daß sich bis heute niemand um sie gekümmert hat. Die
064 Verbrechen an ihren Kindern haben sie alle in Schwierigkeiten und
065 finanzielle Sorgen gestürzt. " Wir haben bisher keinen Pfennig
066 Entschädigung erhalten ", sagen sie, " selbst die
067 Beerdigungskosten mußten wir aus eigener Tasche bezahlen. "
068 Sie wissen, daß niemand sie für den Verlust ihrer Kinder
069 entschädigen kann, aber sie wollen wenigstens einen Teil ihrer
070 materiellen Aufwendungen ersetzt haben. Darum gründeten sie einen
071 ungewöhnlichen " Klub " - eine Interessengemeinschaft der
072 Familien der Bartsch-Opfer. Der Essener Rechtsanwalt
073 Herwart Kleine soll sie als Nebenkläger beim zweiten Prozeß
074 gegen Bartsch vor dem Düsseldorfer Landgericht vertreten.
075 Sicher, sie fordern Entschädigung - Geld für die ungewollten
076 Ausgaben, die ihnen durch die Morde an ihren Söhnen aufgebürdet
077 worden sind. Sie wollen aber mehr. Sie wollen erreichen, daß
078 anderen Eltern ihr Schicksal erspart bleibt. Daß die
079 Öffentlichkeit, die Polizei und andere staatliche und karitative
080 Institutionen mit mehr Aufmerksamkeit Hinweise und kleinste
081 Verdachtsmomente ernster nehmen. (Siehe auch unseren
082 Kommentar auf Seite 26: " Achtet auf die Signale! ")
083 Es ist selbstverständlich, daß sie sich über den zweiten
084 Prozeß gegen Jürgen Bartsch wundern. Sie können nicht
085 begreifen, warum sich so viele Leute bemühen, Bartsch von seinem
086 Trieb, von dem " bösen Tier " in ihm, wie er es selbst nennt,
087 zu befreien. " Er hat uns zuviel Leid gebracht ", sagt der
088 Maurerpolier Hermann Jung (47). Er und seine Frau Hannelore
089 (45) sahen ihr Kind zuletzt am 31.März 1962. An diesem
090 Tag durfte das vierte Kind der Jungs, der achtjährige Klaus,
091 zur Essener Frühjahrskirmes gehen. In der Nähe des
092 Rummelplatzes wurde er von Jürgen Bartsch angesprochen. Es
093 regnete. Nur wenige Leute waren auf der Straße. " Ich bin
094 Detektiv ", log Bartsch dem Kleinen vor, " hier hast du 20
095 Mark. Ich brauche dich als Zeugen. " Ahnungslos ging
096 Klaus Jung mit. Während die Eltern ihren Sohn suchten, schlug
097 Bartsch in der Langenberger Höhle auf den (Abb.) kleinen Jungen ein,
098 der voller Angst und Entsetzen schrie: " Mutti, Mutti,
099 jetzt bin ich tot! " Vier Jahre lang lebten die Jungs in
100 der Ungewißheit über das Schicksal ihres Kindes. " Meine
101 Frau ist vor Aufregung krank geworden. Sie mußte lange Zeit ins
102 Krankenhaus: Zucker. Das alles hat eine Menge Geld gekostet ",
103 erzählt Hermann Jung. In finanzielle Schwierigkeiten
104 geriet auch Vater Grassmann (50), ein einfacher Mann, für den
105 heute der Kauf von zwei Schachteln filterloser Zigaretten schon
106 fast ein Luxus ist. Er war damals schon krank, aber das
107 Verbrechen an seinem Sohn hat ihn noch kränker gemacht. Sein
108 Sohn Manfred war am 8.Mai 1965 zusammen mit seinen Brüdern
109 zur Kirmes gegangen. Den Brüdern schenkte Bartsch Freikarten
110 für den Autoscooter. So hatte er freies Spiel: Er konnte den
111 blonden Jungen ungehindert weglocken. Während die Eltern weinend
112 zu Hause saßen, während ein holländischer Hellseher seine
113 Hilfe anbot und während Hundertschaften von Polizisten das
114 Ruhrgebiet durchkämmten, lag Manfred Grassmann bereits ermordet
115 im Langenberger Todesstollen. " Kommst du jetzt hinter
116 Gitter? " Das waren die letzten Worte des Jungen, als
117 Bartsch in sexueller Erregung auf ihn einschlug und ihn grausam
118 tötete. Als man den Jungen fand, konnte er nicht sofort
119 identifiziert werden. Die Leiche mußte ins gerichtsmedizinische
120 (Abb.) Institut nach Düsseldorf gebracht werden. " Selbst
121 diese Überführungskosten mußte ich bezahlen ", beklagt sich
122 Vater Grassmann. 3000 Mark hat ihn der Tod seines Sohnes
123 gekostet. " Geliehen habe ich sie mir - und abgezahlt ",
124 erklärt er, " Woche für Woche, Monat für Monat. Die ganze
125 Familie mußte unter dieser Belastung leiden. Ist doch klar (...)! "
126 Seine Frau Gertrud (48) arbeitet heute noch jeden Tag
127 drei Stunden, um die Haushaltskasse etwas aufzubessern. " Wir
128 sind doch alle nicht mit Reichtümern gesegnet ", sagt der
129 inzwischen pensionierte Zollbeamte Otto Kahlweiß (65).
130 " Hätte man uns nicht wenigstens die reinen materiellen Aufwendungen
131 ersetzen können? " Sein Sohn Ulrich fiel dem " Teufel von
132 Langenberg " am 14.August 1965 in die Hände. Der
133 aufgeweckte Junge wurde sein letztes Opfer. An ihm ließ er sich
134 am grausamsten aus. Auch den kleinen Ulrich lockte er mit seiner
135 Detektiv-Geschichte und einem 50-Mark-Schein an sich.
136 Der Elfjährige willigte ein, erklärte aber: " Um 19.
137 30 Uhr muß ich wieder zu Hause sein! " Doch er sollte nie mehr
138 heimkommen. Bartsch fuhr ihn mit dem Lieferwagen seines Vaters
139 zum Langenberger Todesstollen und ermordete ihn dort. Schon
140 während der Fahrt hatte er mit einem griffbereiten Hammer auf sein
141 Opfer, das neben ihm im Führerhaus lag, eingeschlagen " und
142 dabei beinahe einen Unfall gebaut " (so Bartsch). Hannelore
143 Kahlweiß (51) wurde nach dem Verschwinden ihres einzigen Sohnes
144 schwer herzkrank. Die Ärzte glauben nicht mehr an eine Heilung.
145 Jeden Monat benötigt sie für 60 Mark Medikamente. Freunde,
146 Bekannte und Arbeitskollegen der vier Väter sind davon
147 überzeugt, daß die Familien der Opfer nicht nur finanzielle
148 Aufwendungen hatten, sondern an dem Tod der Kinder auch riesige
149 Summen verdient haben. Noch heute sprechen sie von hohen
150 Illustrierten-Honoraren, die angeblich für Fotos der
151 getöteten Kinder gezahlt wurden. " Alles Quatsch ", sagt
152 Vater Kahlweiß, " was wir dafür bekommen haben, das ging über
153 einen Hundertmarkschein nicht hinaus. " Die vier Väter
154 sprechen zwar ruhig und sachlich über all das Geschehene, aber sie
155 geraten in Zorn, wenn die Sprache auf den neuen Prozeß kommt.
156 Sie befürchten vor allem eins: daß Bartsch später in eine
157 Heilanstalt und Pflegeanstalt übersiedelt, aus der er
158 eines Tages als geheilt entlassen werden könnte. Sie meinen:
159 " Dieser Unhold kann seine schwere Schuld nur in einem sicheren
160 Gefängnis büßen! " Fast täglich werden sie in dieser
161 Meinung bestärkt. Von Menschen, die ihnen selbst heute noch,
162 drei Jahre nach dem Prozeß, schreiben. In diesen Briefen
163 heißt es: " Wir bedauern mit Ihnen, daß der ganze Prozeß
164 noch einmal aufgerollt wird. Der Gedanke, daß diese Bestie
165 vielleicht noch einmal auf die Menschheit losgelassen wird, läßt
166 uns gruseln. " (Eine Hausgemeinschaft aus Münster). " Ich
167 habe immer Heimweh gehabt, aber heute bin ich froh, nicht mehr in
168 einem Land leben zu müssen, wo das Tier Bartsch wie ein Mensch
169 behandelt wird (...) ". (Eine deutsche Auswanderin aus Kanada).
170 Während so die Wogen der Erregung vor dem neuen Bartsch-
171 Prozeß schon hochgehen, versuchen Wissenschaftler, das
172 " Phänomen Jürgen Bartsch " zu enträtseln. Welche
173 Aufgaben sind ihnen gestellt? Welche neuen Erkenntnisse können
174 ihre Untersuchungen bringen? Und wie werden sie sich auf die
175 Zukunft des jungen Massenmörders auswirken? Achtet auf
176 die Signale! Was wir alle aus dem Fall Bartsch lernen
177 können. Soll Jürgen Bartsch, der
178 " Teufel von Langenberg ", als Moerder den Rest seines Lebens im
179 Zuchthaus verbringen - oder soll er als Kranker in eine
180 Heilanstalt eingewiesen werden? Um diese Frage geht es beim
181 neuen Bartsch-Prozeß. alle Mütter und Väter, die
182 um ihre Kinder bangen, ist die Antwort auf eine andere Frage
183 weitaus wichtiger: Welche Lehren können wir aus dem Fall
184 Bartsch ziehen, damit wir in Zukunft etwas sicherer leben, damit
185 wir uns besser vor Triebverbrechern schützen können? Als
186 ich den kürzlich verstorbenen Sexual-Professor Dr. Giese
187 danach fragte, lautete seine Antwort: " Wir können nichts
188 dagegen tun. Wir müssen Triebverbrecher wie ein Naturereignis
189 über uns ergehen lassen. Gegen einen Orkan hilft ja auch kein
190 Schirm (...) ". Bei allem Respekt vor diesem - auch von mir
191 geschätzten - Professor: Ich halte seine Meinung, die
192 übrigens auch von einigen anderen Wissenschaftlern geteilt wird,
193 nicht nur für bedenklich, für eine leichtfertige Kapitulation vor
194 jenen blutigen Schauerstücken, die sich immer wieder in unseren
195 Straßen, Parks, Kellern und Wäldern abspielen - ich halte
196 diese Meinung schlichtweg für falsch. Denn: Wer die
197 Lebensläufe der meisten " großen " Triebverbrecher analysiert,
198 der muß feststellen, daß es in ihrem Leben immer wieder Phasen
199 gegeben hat, wo sie sich frühzeitig verrieten - wo die ersten
200 Signale erkennbar waren: Achtung, hier wächst ein Sadist, ein
201 Außenseiter mit einem gefährlichen Hang zur Grausamkeit heran!
202 Das war so bei Peter Kürten und Fritz Haarmann, den
203 " klassischen " Lustmördern der zwanziger Jahre. Und das war so
204 bei Jürgen Bartsch. Mit acht Jahren schürt er die Angst
205 seiner Mitschüler, wenn es gewittert: " Der nächste Schlag
206 ist ein Blitz, der hier einschlägt! " Mit zwölf Jahren
207 schreibt sein Heimleiter Pater P. über ihn: " Jürgen
208 quält die anderen häufig. Beim Balgen schnürt er ihnen die
209 Luft ab, bis sie blau anlaufen. " Mit 13 Jahren stößt er auf
210 einem Bahndamm seinen besten Freund vor einen heranfahrenden Zug.
211 Bartsch: " Er sollte überfahren und getötet werden! " Doch
212 der Mordanschlag mißlingt. Mit 14 Jahren fällt er im Wald
213 über einen Spielkameraden her. Er schlägt auf ihn ein, reißt
214 ihm die Kleider vom Leibe und vergeht sich an ihm. Mit 15 Jahren
215 kommt es zum ersten Vorfall in dem berüchtigten Luftschutzbunker
216 in Langenberg: Er schlägt einen Jungen halb ohnmächtig und
217 befiehlt ihm, sich auszuziehen. In Todesangst kann sein Opfer
218 flüchten. Mit 16 Jahren zwingt er mit einer Schreckschußpistole
219 einen Dreizehnjährigen, mit ihm in den Bus nach Langenberg zu
220 steigen. In der Höhle will er sein Opfer töten - doch ihm
221 wird vor Aufregung übel (...). Viele alarmierende Signale also,
222 die auf den sich entwickelnden Sexual-Sadisten hinweisen.
223 Aber: Diese Signale gehen ins Leere, werden nicht erkannt.
224 Alles wird von den Eltern vertuscht. Damit die Sache nicht an
225 die " große Glocke " gehängt wird, zahlt Mutter Bartsch
226 einmal an die Eltern eines mißhandelten Jungen 20 Mark
227 " Schmerzensgeld ". Andere Nachbarn nehmen die Vorfälle nicht
228 ernst. Als sich dann endlich der Vater eines gefolterten Jungen
229 ein Herz faßt und Strafanzeige gegen Jürgen Bartsch erstattet,
230 da wird das Ermittlungsverfahren kurzerhand mangels Beweises
231 eingestellt.
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