Quelle Nummer 063
Rubrik 07 : POLITIK Unterrubrik 07.02 : TAGESPOLITIK
TISCHREDE DES BUNDESKANZLERS IM PALAIS DES MINISTER-
RATES , S. 30-34, 7.12.1970
WILLY BRANDT
AUS: DER VERTRAG ZWISCHEN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCH-
LAND UND DER VOLKSREPUBLIK POLEN, HRSG. PRESSE-UND
INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG, BUNDESDRUCKEREI
BONN 122835 12. 70
TISCHREDE DES BUNDESKANZLERS AUF SCHLO0SS WILANOW,
S. 34-38, 7.12.1970
WILLY BRANDT
STATEMENT DES BUNDESKANZLERS VOR DER INTERNATIONALEN
PRESSE IM HOTEL EUROPEJSKI IN WARSCHAU, 8.12.1970,
S. 40-42
WILLY BRANDT
001 Tischrede des Bundeskanzlers. Herr Ministerpräsident,
002 Herr Erster Sekretär, verehrte Anwesende! Zugleich im
003 Namen von Außenminister Scheel und der Damen und Herren, die
004 uns begleiten, danke ich Ihnen für die freundlichen Worte, mit
005 denen Sie uns begrüßt haben. Ich bin davon überzeugt, daß wir
006 mit dem Vertrag den rechten Schritt zur rechten Zeit getan haben.
007 Ich glaube, wir alle, die wir heute beisammen sind, haben das
008 Gefühl, daß dieser 7.Dezember 1970 ein besonderer Tag für
009 unsere beiden Völker ist. Mit der Unterzeichnung des Vertrages
010 haben wir es unternommen, einen Schlußstrich zu setzen und
011 gleichzeitig das Zeichen zu geben für einen Anfang. Sie, Herr
012 Ministerpräsident, haben in offener und ernster Weise von den
013 Empfindungen gesprochen, die Sie und Ihre Landsleute heute
014 bewegen. Sie haben Anspruch darauf, daß auch ich nicht
015 diplomatisiere. Dies ist auch für meine Landsleute und mich ein
016 Tag, an dem schmerzliche Erinnerungen wachgerufen werden - an
017 das unsagbare Leid, das Ihrem Volk zugefügt wurde; aber auch
018 an schwere Opfer, die mein Volk hat bringen müssen. Dies ist
019 also kein Tag, an dem wir uns unbeschwert begegnen können. Wir
020 stehen erst am Beginn eines neuen Verhältnisses. Der Vertrag,
021 den wir gerade unterzeichnet haben, handelt ehrlicherweise von den
022 " Grundlagen der Normalisierung ". Es hat in der
023 zurückliegenden Zeit nicht an Versuchen gefehlt, die Beziehungen
024 zwischen unseren beiden Staaten neu zu begründen. Zu ernsthaften
025 Verhandlungen kam es, nachdem Wladyslaw Gomulka und ich in den
026 letzten zwei Jahren mit freimütigen öffentlichen Erklärungen
027 aufeinander zugegangen waren. So haben wir von beiden Seiten eine
028 Entwicklung gefördert, die - davon bin ich überzeugt - für
029 das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern segensreich sein
030 soll, die keinem anderen Staat schaden wird und die den Frieden in
031 Europa dauerhaft machen kann. Durch die erfolgreichen Arbeiten
032 der Delegationen unserer beiden Länder wurde dieser Besuch
033 möglich. Ich möchte - zugleich im Namen meiner Freunde
034 Scheel und Duckwitz und für deren Mitarbeiter - Herrn
035 Außenminister Jedrychowski, Herrn Vizeminister Winiewicz und
036 allen Mitgliedern der polnischen Delegation danken für ihren
037 Anteil an den Bemühungen, die die Lösung der schwierigen
038 Probleme vorangebracht haben. Zur Normalisierung gehört nicht
039 nur, aber doch auch die Form. Mit Genugtuung möchte ich unsere
040 Vereinbarung bestätigen, volle diplomatische Beziehungen
041 unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrages zwischen unseren
042 beiden Staaten aufzunehmen. Die Politik meiner Regierung
043 erstrebt eine wirksame Entspannung in Europa, vor allem in der
044 Mitte Europas. Dazu war der Vertrag von Moskau, den Sie
045 erwähnt haben, Herr Ministerpräsident, ein Meilenstein. Dazu
046 ist ein entscheidender Meilenstein der heute unterzeichnete in
047 Warschau. Dazu gehört weiter ein Vertrag mit der CSSR.
048 Dazu gehört die vertraglich verbindliche Regelung der Beziehungen
049 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Aber dies
050 alles wäre unvollständig, wenn es nicht eine Vereinbarung zur
051 Verbesserung der Situation in und um Berlin gibt, nachdem es -
052 davon könnte ich aus eigener Erfahrung ein Lied singen - immer
053 wieder Spannungen in und um Berlin gegeben hat. Ich betrachte
054 diese im Einzelnen unterschiedlichen Verträge und Vereinbarungen
055 politisch gesehen als eine Einheit, in der jeder einzelne Teil
056 seinen unverwechselbaren und unentbehrlichen Platz hat. Es wird
057 keine Verzögerung bedeuten, wenn wir nach der Arbeit an diesen
058 Verträgen uns mit um so größerer Energie den Fragen der
059 europäischen Sicherheit zuwenden können, der Reduzierung der
060 Rüstungslasten, der ausgewogenen Verminderung der
061 Truppenstärken und der ökonomischen Zusammenarbeit. Dies wird
062 mehr als eine Konferenz beschäftigen. In jahrhundertealter
063 Nachbarschaft sind Deutsche und Polen ihren Weg durch die
064 Geschichte gegangen. Es war ein schwieriger Weg, und die Jahre
065 nach 1939 waren ohne Vergleich seine dunkelste Strecke. Nichts
066 wird dies auslöschen können. Und doch hoffe ich, daß wir,
067 gestützt auf die Lehren der Geschichte, wieder werden stärker
068 anknüpfen können an den doch auch langen Prozeß der gegenseitigen
069 Befruchtung, des Nehmens und des Gebens zum beiderseitigen
070 Nutzen. Herr Ministerpräsident, verehrte Anwesende, ich weiß,
071 daß wir nicht durch den heutigen Akt die Gräben zuschütten
072 können, die so brutal aufgerissen worden sind. Und ich weiß auch,
073 daß Verständigung und gar Aussöhnung nicht von den
074 Staatsmännern verfügt werden kann, sondern in den Herzen der
075 Menschen selbst auf beiden Seiten heranreifen muß. Ich hoffe,
076 daß der Vertrag sich als die Brücke tragfähig erweist, die
077 unsere Staaten verbindet und über die unsere Völker zueinander
078 gelangen können, damit sie sich begegnen, sich verstehen lernen
079 und damit sie in der Mitte Europas ein Beispiel geben für den
080 Abbau der Gegensätze zwischen Ost und West. Meine Regierung
081 geht aus von dem, was ist. Sie nimmt die Ergebnisse der
082 Geschichte an; Gewissen und Einsicht führen uns zu
083 Schlußfolgerungen, ohne die wir nicht hierher gekommen wären.
084 Aber niemand wird von mir erwarten, daß ich in politischer,
085 rechtlicher und moralischer Hinsicht mehr übernehme, als es der
086 Einsicht und Überzeugung entspricht. Wir wollen auch nichts von
087 dem bagatellisieren, was sich aus der unterschiedlichen Lage der
088 beiden Völker ergibt, aus der Zugehörigkeit zu dem einen oder
089 anderen Sicherheitssystem, aus verschiedenen gesellschaftlichen
090 Ordnungen und politischen Prinzipien. Und doch meine ich, daß
091 wir viel miteinander erreichen können, wenn wir diesen Vertrag
092 erstens im unmittelbaren Sinne verwirklichen und mit Leben
093 erfüllen, und wenn wir ihn zweitens in den Dienst der Sicherheit
094 und der Zusammenarbeit in Europa stellen. Wenn das gelingt,
095 haben wir gute Arbeit geleistet. Herr Ministerpräsident, ich
096 erhebe mein Glas auf Ihr persönliches Wohl, auf das Wohl der
097 polnischen Regierung und des polnischen Volkes, des Staatsrats,
098 des Ersten Sekretärs der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei,
099 auf die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern und auf die
100 junge Generation, der wir eine friedliche Zukunft sichern sollen.
101 Tischrede des Bundeskanzlers auf Schloß Wilanow. Sehr
102 verehrter Herr Ministerpräsident, Exzellenzen, meine Damen und
103 Herren! Es ist mit eine besondere Freude, Sie beide, Herr
104 Gomulka und Herr Cyrankiewicz, zusammen mit zahlreichen
105 bedeutenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der
106 Volksrepublik Polen hier im Schloß Wilanow als meine Gäste
107 begrüßen zu können. Ich freue mich auch, daß die deutschen
108 Gäste, die mich hierher begleitet haben, gestern und heute das
109 Gespräch mit ihren Partnern begonnen haben. Für mich gilt
110 ebenso wie für die mich begleitenden Damen und Herren, daß uns
111 die Erlebnisse dieser Tage sehr bewegen. Dabei weiß ich, daß
112 wir erst am Anfang eines neuen Weges stehen. Ich sage herzlichen
113 Dank für die sprichwörtliche polnische Gastfreundschaft und für
114 die Offenheit, mit der man uns begegnet ist. Mein Dank gilt auch
115 all denen, die mit so großer Sorgfalt diesen - so sehr aus dem
116 Rahmen fallenden - Besuch vorbereitet haben. Wenn ich davon
117 spreche, daß noch schwierige Probleme zu lösen sind, so ist mir
118 die Unzulänglichkeit dieses Ausdrucks voll bewußt. Er hat
119 seinen Platz in der nüchternen, zuweilen formelhaften Sprache der
120 Juristen und Diplomaten, aber er gibt nicht wieder, was die
121 Menschen empfinden, bei Ihnen und bei uns. Wir wollen das auch
122 an einer festlichen Tafel nicht verschweigen. Ich knüpfe an das
123 an, was der Erste Sekretär Ihrer Vereinigten Arbeiterpartei,
124 Wladyslaw Gomulka, vor wenigen Tagen in einer Rede gesagt hat.
125 Er hat von einer neuen Etappe und von einem neuen Klima in den
126 Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten gesprochen. Und er
127 hat gemeint, dies werde günstig sein für eine sachliche
128 Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-
129 technischem und kulturellem Gebiet. Sie, Herr
130 Ministerpräsident, haben das heute mittag bestätigt. Dem stimme
131 ich zu. Wir wollen auch hier realistisch bleiben. Aber es gibt in
132 der Tat weite Felder für eine fruchtbare Zusammenarbeit zu
133 beiderseitigem Nutzen. Gestatten Sie mir, darauf hinzuweisen,
134 für wie wichtig ich es in diesem Zusammenhang halte, daß viele
135 junge Menschen aus den beiden Ländern einander kennenlernen. Wir
136 in der Bundesrepublik Deutschland wünschen ein Europäisches
137 Jugendwerk; wir würden uns freuen, wenn es dabei zu einer
138 starken Zusammenarbeit der Jugend unserer beiden Länder käme.
139 Auch deshalb habe ich Vertreter unserer Jugendorganisationen
140 gebeten, mich auf dieser Reise zu begleiten. Es wird darauf
141 ankommen, daß wir dem Komplex der menschlichen Beziehungen und
142 Erleichterungen in der Praxis beiderseitig einen hohen Rang
143 einräumen. Wenn wir die Menschen zueinander kommen lassen, wird
144 dies viel Gutes bewirken können, nicht nur für die unmittelbar
145 Betroffenen, sondern für die beiden Völker überhaupt. Ich
146 weiß, es gibt dabei große psychologische, politische und
147 rechtliche Probleme. Aber ich vertraue darauf, daß sie die
148 Bedeutung dieser Aufgaben ebenso klar erkennen wie wir, und daß
149 sie große Anstrengungen unternehmen werden, um zu befriedigenden
150 und raschen Lösungen zu kommen. Ich habe es oft bei mir zu Hause
151 gesagt: Politik wird für Menschen gemacht. Die Zusammenarbeit
152 auf den wirtschaftlichen und technologischen Gebieten wird sehr
153 wichtig sein. Die geistigen, wissenschaftlichen,
154 bildungspolitischen, künstlerischen, allgemein-kulturellen
155 Beziehungen sollten dabei nicht zu kurz kommen. Wenn zwei Völker
156 über alle Wechselfälle der Geschichte hinweg in einer so engen
157 Berührung gelebt haben wie die unseren, dann sollten sie sich
158 nicht scheuen, die gemeinsamen Elemente ihres kulturellen Erbes
159 positiv aufzugreifen und in ihren künftigen Beziehungen fruchtbar
160 zu machen. Lassen Sie mich ganz offen und ernst sagen: Für
161 viele meiner Landsleute, deren Familien Generationen lang im
162 Osten gelebt haben, ist dies ein besonders problemgeladener Tag.
163 Manche empfinden es so, als ob jetzt der Verlust eintritt, den
164 sie vor 25 Jahren erlitten haben. Man war zu einem gewissen Teil
165 der Gefangene von Wunschvorstellungen. Aber ich frage mich, ob
166 man nicht auch hier in Polen zu einem Teil Gefangener der falschen
167 Vorstellung war, als könne man uns in der Bundesrepublik
168 Deutschland niemals Vertrauen schenken. Wir werden miteinander
169 noch Zeit brauchen. Aber ich halte es mit Abraham Lincoln, noch
170 heute den Baum zu pflanzen, der lange braucht, bis er sich voll
171 entfaltet. Wenn wir nach vorn blicken, so möchte ich Sie bitten,
172 daß wir uns zu dem bekennen, was vor dem Einbruch der Barbarei
173 Angehörige beider Völker geschaffen haben. Dies bleibt vor
174 allem in der Sphäre des Geistes, und es bleibt in dem, was sie
175 mit Mühe und Achtung vor der Geschichte wieder aufgebaut haben.
176 Wenn wir den Mut, die Kraft und die Bescheidenheit aufbringen,
177 dazu Ja zu sagen, dann geht in der geistigen Substanz nichts
178 verloren und unsere beiden Völker werden letzten Endes sogar etwas
179 gewinnen. Seien Sie gewiß, wir verkennen nicht, daß dies für
180 Sie nicht leichter ist als für uns. Aber gerade das macht die
181 Gemeinsamkeit eines Schicksals aus, der wir nicht entkommen
182 können. Es gibt nur den Weg: Die Grenzen müssen weniger
183 trennen, weniger schmerzen. Lassen Sie uns unsere Völker dazu
184 aufrufen, den Weg zueinander und miteinander zu gehen. Ich
185 erinnere mich an mehr als ein Gespräch mit Charles de Gaulle,
186 das sich nicht nur auf Deutschland und Frankreich, sondern auch
187 auf Deutschland und Polen bezog. Wir waren uns einig, daß die
188 Völker Europas in ihrer Identität eine große Perspektive für
189 unseren Kontinent finden werden. Die - noch nicht
190 abgeschlossenen - Gespräche, die ich hier in Warschau führen
191 konnte, haben mich überzeugt, daß der Prozeß der
192 Normalisierung, der in unserem Vertrag seine feste Grundlage hat,
193 kontinuierlich fortschreiten wird. Die bekannten
194 Rechtspositionen, an die die Bundesrepublik Deutschland gebunden
195 bleibt, brauchen dem nicht im Wege zu stehen. So wie Sie, meine
196 verehrten polnischen Gäste, Ihre nationalen Interessen im Auge
197 haben, so denke ich an eine gute Zukunft für mein eigenes Volk.
198 Aber ich weiß, daß es auf unsere nationalen Fragen nicht mehr
199 isolierte, sondern nur noch europäische Antworten gibt. Auch das
200 hat mich hierher geführt. Ich erhebe mein Glas auf Ihr
201 persönliches Wohl, Herr Ministerpräsident, auf das Wohl aller
202 meiner Gäste und des polnischen Volkes und zugleich auf eine
203 glückliche Zukunft für unsere beiden Völker in einem friedlich
204 zusammenarbeitenden Europa. Statement des Bundeskanzlers vor
205 der internationalen Presse. Die Tage von Warschau gehen zu
206 Ende. Sie haben mich selbst und viele andere sehr bewegt. Ich
207 habe aus der Berichterstattung den Eindruck gewonnen, daß diese
208 Bewegung auch die Menschen bei mir zu Hause in der Bundesrepublik
209 Deutschland erfaßt hat. Wie könnte es anders sein. Wir haben
210 uns daran gemacht, die Hinterlassenschaft des Krieges zu ordnen,
211 damit der Frieden sicherer wird. Dieser Vertrag, den wir gestern
212 unterzeichnet haben, ist die Voraussetzung für eine
213 Verständigung und für bessere Beziehungen zwischen der
214 Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Das ist
215 mir in meinen stundenlangen Gesprächen mit den leitenden Männern
216 des polnischen Staates noch einmal ganz deutlich geworden. Ebenso
217 klar ist auch geworden, daß die beiden Völker einen neuen Anfang
218 suchen, daß sie gute Nachbarschaft wollen. Der Vertrag zwischen
219 der Bundesrepublik und Polen wurde nicht von politischen Parteien
220 abgeschlossen, sondern von verantwortlichen Regierungen. Die
221 Bundesregierung wird sich darum bemühen, daß dieser Vertrag
222 über die Parteigrenzen hinweg eine gute politische Mehrheit findet.
223 Ich bin überzeugt, daß dies möglich ist.
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