Quelle Nummer 056

Rubrik 02 : RELIGION   Unterrubrik 02.23 : SYSTEMATISCHE

POLITISCHE THEOLOGIE: HOFFNUNG VERAENDERT DIE WELT.
KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT DER THEOLOGIE
R. BULTMANNS
DOROTHEE SOELLE
KREUZ VERLAG STUTTGART 1971


001  Hoffnung verändert die Welt Kritische
002  Auseinandersetzung mit der Theologie Rudolf Bultmanns. In
003  welchem Verhältnis steht die Theoligie Rudolf Bultmanns und im
004  besonderen Bultmanns hermeneutischer Ansatz zu einer politischen
005  Theologie, sowohl zu der in Ansätzen entwickelten wie zu einer
006  möglichen künftigen? Schließen existenziale und politische
007  Interpredation des Evangeliums einander aus? Haben sie
008  Gemeinsamkeiten? Wie verhalten sich historische Kritik und
009  Ideologiekritik zueinander, im Problembewußtsein, in der
010  Fragestellung, in den angewandten Methoden und schließlich in den
011  Ergebnissen? Die religionssoziologische Untersuchung von d.
012  Goldschmidt/Y. Spiegel " Der Pfarrer in der Großstadt "
013  (1969) kommt zu dem Ergebnis, daß Anhänger der Theologie
014  Rudolf Bultmanns unter den Pfarrern stärker auf politische
015  meinungsbildung der Gemeinde und öffentliche Verantwortung des
016  Glaubens drängen als kirchliche Funktionäre ohne eine solche oder
017  mit konservativer theologischer Bindung. Wie ist dieses Datum zu
018  interpretieren? Sucht man nach dem gemeinsamen Dritten, das
019  historisch-kritische Theologie und politisches Bewußtsein
020  miteinander verbindet, so ist beiden gemeinsam ein positives
021  Verhältnis zur Aufklärung, zum " Ausgang des Menschen aus
022  seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ". Historische
023  Traditionskritik und soziologische Institutionenkritik gingen in
024  der Frühzeit der Aufklärung Hand in Hand. Aber trifft diese
025  emanzipative Tendenz auch für die Theologie Rudolf Bultmanns zu?
026  In welchem Verhältnis steht sie zur allgemeinen Aufklärung?
027  Gehört Bultmanns Denken in die Bewegung der neuzeitlichen
028  Emanzipation des Menschen von unbegriffenen, sei es noch mythisch
029  erfahrenen, sei es mythologisch verklärten Mächten hinein? Und,
030  falls wir diese Frage für das aus der historisch-kritischen
031  Methode erwachsene Programm der Entmythologisierung bejahen
032  können, wie steht es mit der existenzialen Interpretation, stellt
033  sie einen Schritt auf dem Wege aus der selbstverschuldeten
034  Unmündigkeit heraus dar? Wird sie nicht heute vielfach als ein
035  Unternehmen angesehen, das die autoritätshörigen und autoritären,
036  die irrationalen und dezisionistischen Tendenzen unserer
037  Gesellschaft unterstützt hat, als ein Instrument der
038  Gegenaufklärung? An Bultmanns wie an jede Theologie ist die
039  Frage zu stellen, ob sie tendenziell die Menschen liebesfähiger
040  macht, ob sie Befreiung des einzelnen und der Gesellschaft
041  fördert oder verhindert. Das ist das Verifikationskriterium, um
042  mich wissenschaftstheoretisch, oder der Beweis des Geistes und der
043  Kraft um mich biblisch auszudrücken. Diese Frage seellt sich
044  für Bultmanns Theologie als die Frage nach ihrer Offenheit für
045  eine politische Theologie. Die Synthese, die Bultmann -
046  theologiegeschichtlich betrachtet - geleistet hat, heißt
047  " Existenziale Interpretation "; sie läßt sich aus drei sehr
048  verschiedenen Elementen entwickeln. Diese sind: die historisch
049  -kritische Exegese des Neuen Testaments, die dialektische
050  Theologie der frühen zwanziger Jahre, und schließlich, nicht so
051  sehr in ihrem materialen Inhalt, wohl aber in ihrem formalen
052  Instrumentarium wesentlich, die Existenzphilosophie, ohne die
053  eine Synthese zwischen den beiden anderen, einander
054  ausschließenden theologischen Denkansätzen für Bultmann nicht
055  möglich geworden wäre. Erziehung zur Kritik. Es
056  erscheint mir notwendig, die Bedeutung der historisch-
057  kritischen Methode für Bultmanns Theologie herauszustellen,
058  gerade wenn neuerdings immer wieder versucht wird, die Theologie
059  der zwanziger Jahre, Bultmann und Barth unter den die
060  Gegensätze zwischen beiden verschleiernden Begriff einer Wort-
061  Gottes-Theologie zu subsumieren, als ob mit dieser
062  dogmatischen Vokabel das Entscheidende formuliert werden könnte.
063  Die Herkunft Bultmanns aus der liberalen Theologie, der er nach
064  eigenem Zeugnis " Erziehung zur Kritik, d. h. zur
065  Freiheit und Wahrhaftigkeit " verdankt, ohne die er nicht
066  Theologie hätte " werden oder bleiben können " ist nicht später
067  dezisionistisch aufgehoben, wohl aber dezisionistisch modifiziert
068  worden. Der theologisch-emanzipatorische Sinn der historisch
069  -kritischen Methode wird deutlich, wenn man ihre
070  Selbstkonstitution begreift im Gegensatz zur dogmatischen Methode,
071  die, mit den Worten Ernst Troeltschs, " von einem festen,
072  der Historie und ihrer Relativität völlig entrückten
073  Ausgangspunkte ausgeht und von ihm aus unbedingt sichere Sätze
074  gewinnt ". Die ihr entgegengesetzte historische Methode löst
075  sich von dem Zwang, kritisch gewonnene historische Erkenntnisse um
076  der kirchlichen Lehrtradition willen opfern zu müssen. Ihrer
077  Zielvorstellung nach ist die historische Bibelkritik auf
078  Emanzipation gerichtet, dies allerdings unter der in der ersten
079  Phase der Aufklärung noch ungebrochenen Vorstellung, daß
080  Vernunft und Offenbarung dasselbe, wenn auch auf verschiedenen
081  Wegen meinen. Die historische Kritik der Bibel kann unter diesem
082  aufklärerischen Horizont nur ihr Vergängliches entlarven, nur
083  Zutaten, Überflüssiges in seinem Anspruch relativieren. Es
084  herrscht der Glaube, daß die Kritik die Wahrheit der Schrift
085  gerade in ihrer freimachenden Kraft herausstellen könne. Bultmann
086  hält an dieser ursprünglich aufklärerischen Zielsetzung der
087  historischen Kritik fest, wenn auch nicht mehr unmittelbar, weil
088  das historische Bewußtsein indessen nicht nur das Neue Testament
089  als den Gegenstand der Forschung, sondern zugleich auch sich
090  selber kritisch relativiert hat. Die historisch-kritische
091  Methode führt also nicht mehr unmittelbar zur Wahrheit des
092  Glaubens, aber sie stellt uns mit Hilfe der in ihr wirksamen
093  Selbstreflexion vor die Frage, ob wir uns für Glauben oder
094  Skepsis entscheiden. Das Methodenbewußtsein, das im Verlauf
095  der Geschichte der historischen Kritik entwickelt worden ist, ist
096  erstaunlich; literaturkritisches ung gattungspoetisches
097  Verständnis spielen ebenso eine Rolle wie soziologische und
098  wissenssoziologische Verfahren, die auf die literarische Kritik
099  der Überlieferung angewandt werden. Die Frage z. B. nach
100  dem " Sitz im Leben " ist keine andere als die Frage nach den
101  gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen bestimmte mündliche
102  Traditionen weiterüberliefert, andere vergessen werden, unter
103  welchen ethnischen und religiösen Gruppen sich Überlieferung und
104  Umbildung vollzog und welche " kognitiven Strukturen " dabei eine
105  Rolle spielen. Die soziologische Relevanz der historischen
106  Kritik zu leugnen, käme also einer Art Selbstkastration nahe.
107  Josef Blank hat in einem Aufsatz " Das politische Element in
108  der historisch-kritischen Methode " dargestellt, daß Kritik
109  als solche ein politischer Faktor ist, weil sie ja nicht nur
110  Anschauungen und Dogmen, sondern auch die meist mit ihnen
111  verbundenen, durch sie abgesicherten Einrichtungen und
112  Machtpositionen grundsätzlich vor das Forum der Vernunft bringt.
113  In diesem weiten Sinne erkennt er das Grundelement der Kritik in
114  der Bibel wirksam, in der dort betriebenen Religionskritik,
115  Gesellschaftskritik und politischen Kritik. Wenn diese auch in
116  der historisch-kritischen Methode nicht unmittelbar aufgenommen
117  wurde, so läßt sich doch nicht übersehen, daß die
118  Bibelkritiker ihre Anstöße gerade aus dem historischen Jesus,
119  bzw. aus dem Widerspruch zwischen seiner Botschaft und dem
120  vorgefundenen dogmatischen Gebäude bezogen. An diesem Punkt muß
121  die Kritik der politischen an der existenzialen Theologie einsetzen,
122  und zwar nicht an Bultmanns Ansatz, wohl aber an einer
123  Begrenzung der historischen Kritik, die ihrem Wesen widerspricht.
124  Es ist inkonsequent, die historisch-kritische Methode nur
125  auf vergangene Texte, nicht auch auf die Gegenwart anzuwenden und
126  die eigenen geschichtlichen, sozialen und psychischen Bedingungen
127  sowohl des Vorverständnisses als auch des in der Begegnung mit dem
128  Evangelium sich konstituierenden Selbstverständnisses zu
129  übersehen. Wenn das Verstehen selber " als Ausstieg aus der
130  Sozialisation in den Bereich transzendierender eigentlicher
131  Existenz " gedacht wird, dann kann auch keine adäquate
132  Horizontverschmelzung zwischen vergangenem und gegenwärtigem
133  Bewußtsein erfolgen. Die historisch-kritische Methode wird
134  ferner durch Insonsequenz gefährdet, wenn scheinbar
135  Gleichgebliebenes aus der Welt des Neuen Testaments unverwandelt
136  in unsere Welt eingetragen wird. Ich habe dieses Beispiel
137  gebracht, um auf einen in der Debatte über historisch-
138  kritische Methode zu gering veranschlagten Sachverhalt hinzuweisen,
139  nämlich auf die Deformation des christlichen Glaubens durch die
140  christliche Geschichte. Vertreter der historisch-kritischen
141  Methode neigen dazu, diese Geschichte der Folgen hermeneutisch zu
142  bagatellisieren, indem sie unmittelbar aus dem zwanzigsten in das
143  erste Jahrhundert zurückspringen, um das, was christlich
144  eigentlich gemeint sei, ohne Rücksicht auf seine historischen
145  Vermittlungen wieder zur Sprache zu bringen. Die historische
146  Kritik betrifft aber nicht nur einiges im Neuen Testament, nicht
147  nur die mythologischen Vorstellungen, die zu interpretieren oder zu
148  eliminieren sind, sondern auch das scheinbar Verständliche, in
149  einer rationalen Sprache abgefaßte, wie die paulinischen
150  Paränesen. Auch abstrakte Begriffe wie Gehorsam, Gesetz,
151  Sünde verlangen nach einer historisch-kritischen Analyse, die
152  das, was in ihrem Namen angerichtet oder bemäntelt worden ist,
153  aufarbeitet. Der hier einzuschlagende Weg führt von der
154  Entmythologisierung mit einer gewissen theologieeigenen Verspätung
155  zur Ideologiekritik, indem nun nicht nur die mythischen Reste,
156  sondern auch die weit gefährlicheren christlichen
157  Ideologiebildungen, die man am Begriff des Gehorsams studieren
158  kann, einer historischen Kritik unterzogen werden. Es genügt
159  nicht zu sagen: " Das Neue Testament allerdings ist der
160  Meinung (...) ", man muß zeigen, inwiefern uns das Neue
161  Testament zu einer Kritik der christlichen Ideologie befähigt.
162  Es scheint mir, daß an diesem Punkt die studentische Kritik
163  gegen den Textfetischismus der Exegeten theologisch in der
164  Fortführung des emanzipatorischen Ansatzes historisch-
165  kritischer Methode im Recht ist. Die historisch-kritische
166  Methode wird gefährdet nicht von außen, durch eine angeblich
167  wissenschaftsfeindliche und geschichtsfeindliche " neue
168  Welle ", sondern allein durch ihre eigene Inkonsequenz: indem
169  sie sich begrenzt und gegenwärtige kirchliche und gesellschaftliche
170  Strukturen und ihre ideologischen Überbauten nicht einbezieht,
171  sodann, indem sie die historische Vermittlung christlicher Gehalte
172  in der Geschichte überspielt, und schließlich indem sie scheinbar
173  gleichbleibende immerwährende Strukturen des Glaubens und seiner
174  Aneignung ausgrenzt. Solange die historische Kritik dem
175  aufklärerischen Geist, in dem sie angetreten, treu bleibt, also
176  kritisch nach den historischen Vermittlungen und Bedingungen fragt,
177  solange sie die wesentlichen Merkmale jeder historischen Methode
178  beibehält - nach Troeltsch sind es: Kritik, Analogie und
179  Korrelation -, solange hat sie von einer politisch-
180  soziologischen Theologie, die sich den gleichen methodischen
181  Prinzipien verpflichtet weiß, nichts zu befürchten. Vielmehr
182  setzt politische Theologie die besten Traditionen der liberalen
183  Theologie, eben den methodischen Gewinn an Kritik, Analogie und
184  Korrelation, um soziologische und wissenssoziologische
185  Differenzierungen bereichert, fort. Trifft aber die Annahme der
186  historisch-kritischen Methode als Fundament der Bultmannschen
187  Theologie wirklich zu? Haben nicht diejenigen recht, die
188  Bultmanns und Barths Theologie heute als Wort-Gottes-
189  Theologie auf einen Nenner bringen, und hat nicht ein Teil seiner
190  Schüler im Begriff des Kerygmas den festen Punkt erreicht, der
191  eben von Kritik, Analogie und Korrelation prinzipiell frei ist,
192  der nicht mehr relativiert und verglichen werden kann, weil er das
193  Ganz Andere des christlichen Glaubens bezeichnet? Der zweite
194  wesentliche Faktor der Bultmannschen Synthese ist die frühe
195  Dialektische Theologie. Es ist nicht ganz einfach, ihre
196  Bedeutung für Bultmanns Denken gerecht zu veranschlagen, wegen
197  der Wandlungen in Bultmanns Denken selber, aber auch wegen des
198  späten Triumphs, den die aus der Dialektischen Theologie
199  entwickelte Barthsche Orthodoxie im kerygmatisch-neoorthodoxen
200  Flügel der Bultmannschule gewann. Ich versuche im folgenden
201  anhand von zwei Komplexen den Einfluß der Dialektischen
202  Theologie auf Bultmann darzustellen, einmal anhand des
203  Kerygmabegriffs, wie er in kritischer Rezeption der Dialektischen
204  Theologie von Bultmann gefaßt wurde, sodann am Problem, das mit
205  dem Verzicht auf den historischen Jesus gestellt ist. Die
206  positive Bedeutung, die Bultmann der Dialektischen Theologie
207  zumißt, besteht in der " Einsicht in die Dialektik der Existenz
208  des Menschen, das heißt in seine und seiner Aussagen
209  Geschichtlichkeit ". Was er von der Dialektischen Theologie
210  gelernt hat - oder gelernt zu haben glaubt, ist das, was er
211  " die Wahrheit des zeitlichen Redens " nennt. "Ein theologischer
212  Satz ist also nicht um deswillen wahr, weil er einen zeitlos
213  gültigen Gehalt ausspricht, sondern er ist dann wahr, wenn er die
214  Antwort gibt auf die Frage der jeweiligen konkreten Situation, zu
215  der er, der Satz selbst, als ausgesprochener, gehört. " Die
216  politische Theologie, nicht die kerygmatische Neuorthodoxie,
217  zieht die Konsequenzen aus diesem situationsbezogenen Denken
218  Bultmanns, indem sie sich bemüht, auf die Frage der jeweiligen
219  Situation genauer zu hören, sie genauer zu analysieren, damit
220  nicht immer wieder die theologisch richtigen Antworten auf gar nicht
221  gestellte Fragen als Kerygma ausgegeben werden. Analysiert man
222  den Begriff des Kerygmas bei Bultmann, so gewinnt er die für
223  Bultmanns Denken typische und notwendige Formalität zurück, die
224  ihn allein rechtfertigt. Bultmann unterscheidet grundsätzlich
225  zwischen Kerygma und Theologie, a. a. O. 186), eine
226  fundamentale Unterscheidung, die in der gesamten Bultmannschen
227  Rechten unterschlagen wird. Kerygma ist dort eine Summe von
228  unkritisierbaren, nicht hinterfragbaren Lehrsätzen, die meist -
229  was für einen Fortschritt gehalten wird - nicht mehr mythologisch,
230  sondern ideologisch formuliert werden. Unter Ideologie verstehe
231  ich hier ein System von situationsunabhängigen Satzwahrheiten,
232  einen Überbau, der auf die Praxis des Lebens, auf die
233  Situation, auf die Fragen nicht mehr bezogen ist. Der Überbau
234  hat genau das, was Bultmann aus der dialektischen Theologie
235  gelernt hat, den Basisbezug, verloren, er ist darum zu keiner
236  Veränderung mehr fähig, und er ist auch nicht daran interessiert,
237  etwas außer ihm zu verändern. Wenn Bultmann, jedenfalls 1929,
238  in dem Aufsatz " Kirche und Lehre im Neuen Testament "
239  Kerygma und Theologie unterscheidet, so geschieht das im
240  Interesse der Kritik, der die Theologie - als diskutierte
241  Lehre - unterliegt; das Kerygma jedoch als Anrede, als
242  Anspruch - oder wie ich interpretierend mit einem von Bultmann
243  nicht gebrauchten Ausdruck sagen würde -, als das Absolute im
244  christlichen Glauben unterliegt keiner Kritik. Die Befreiung,
245  die die Liebe herstellt, und der Anspruch, den sie an uns erhebt,
246  sind absolut gültig oder kerygmatische Anrede, die, wie
247  Bultmann Paulus deutet, " je den Einzelnen trifft, ihn in
248  seinem Selbstverständnis in Frage stellt und seine Entscheidung
249  fordert ".

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