Quelle Nummer 012
Rubrik 13 : GESCHICHTE Unterrubrik 13.04 : ALLGEMEINE
BEMERKUNGEN ZUR MODERNEN DARSTELLUNG NATINALER
GESCHICHTE
WALTHER LAMMERS
HISTORISCHE ZEITSCHRIFT, 1970, NR. 210, S. 369-379
001 Bemerkungen zur modernen Darstellung nationaler Geschichte.
002 Eine neuere Darstellung deutscher Geschichte auf 335 Seiten
003 kommt einer Nachfrage entgegen, nicht nur für den deutschen
004 Bereich, sondern offenbar auch im Ausland, wie die bald erfolgte
005 Übersetzung des hier angezeigten Bandes ins Englische ausweist.
006 Manch Angehöriger der Historikerzunft wird eine moderne knappe
007 Schilderung der nationalen Geschichte mit einem Gefühl, gemischt
008 aus Anerkennung und Zweifel, zur Hand nehmen. Solch
009 fachmännischer Zwiespalt erklärt sich wohl zunächst aus dem
010 Eingeständnis, daß die Forderung nach einer derartigen
011 Darstellung zu Recht besteht, und andererseits aus den
012 Zuständigkeitsbedenken in der differenzierten Forschungssituation,
013 aus Soll und Haben. Die sachliche, methodische und
014 geschichtsbildliche Problematik eines neuen Entwurfs zur deutschen
015 Geschichte hat Hermann Heimpel 1953 behandelt, und bei der
016 Besprechung eines Buches, das dem hier angezeigten vergleichbar
017 ist, bin ich einmal am Beispiel den Schwierigkeiten nachgegangen,
018 wie sie bei dem Verlangen nach populärer und moderner Darstellung
019 nationaler Geschichte in der heutigen Lage unseres Faches
020 entstehen. Mit grundsätzlichen Überlegungen möchte ich mich
021 nicht wiederholen, nur einiges dazu bemerken. Wenn im derzeitigen
022 Reformstreit um die Universität die Formel festgehalten wird,
023 daß Forschung und Lehre zusammengehören, um den
024 Wissenschaftsbetrieb der Hochschulen an der Wurzel lebendig zu
025 erhalten, dann darf man von den Aufgaben der Historiographie
026 entsprechend sagen, daß sie in Untersuchung und Darstellung
027 gleichzeitig bestehen. Das soll heißen, eine historische
028 Monographie mit einem extensiven Gegenstand, die eine heutige,
029 wissenschaftlich zu verantwortende Wirkung tun soll, wird danach
030 beurteilt, wie sie in der komprimierten Vorführung des Stoffes
031 dem Gebot der Auswahl und ansprechenden Gliederung, der
032 begrifflich-sprachlichen Form und der Akzentuierung im großen
033 Bilde - kurz: der Darstellungskunst - Genüge tut, aber
034 auch danach, wie weit sie eine abgesicherte Bilanz unserer
035 derzeitigen Kenntnisse und Forschungsprobleme zu geben vermag.
036 Jeder Verständige und mit der Darstellung größerer Stoffmassen
037 Beschäftigte wird von vornherein zugestehen, daß die Erfüllung
038 beider Forderungen mit dem Anspruch auf allseitig anerkannte
039 Perfektion nicht möglich sein kann. Das gilt besonders, wenn die
040 kurze Darstellung eines langen Stoffes von einer Hand
041 entworfen wird und man sie nicht - wie bei Handbüchern üblich tg
042 durch die aneinandergefügten Destillate besonderer Fach
043 kenner und Epochenkenner entstehen läßt. Wenn jedoch die
044 Notwendigkeit erkannt wird, daß Bücher wie aus einem Guß von
045 einer Hand, zur deutschen Geschichte geschrieben werden, Bücher,
046 die nicht nur als Hilfsmittel von Teilnehmern des Hauptseminars
047 benützt, sondern von einem breiten Publikum gelesen
048 werden, dann wird man auch den Vf. von vornherein zugestehen,
049 daß es vor allem sein " Entwurf ", seine Linie des Buches
050 sind, die über die Bedeutung und den Erfolg des Unternehmens
051 entscheiden, und daß sich doch von dorther am wenigsten
052 Übereinstimmung in der gelehrt-kritischen Welt erwarten läßt.
053 Bei der Besprechung eines solchen Buches ist daher Beckmesserei
054 an Einzelheiten wenig angebracht, man sollte zunächst seine
055 Meinung zum Auswahlprinzip und zur Perspektive sagen. In diesem
056 Falle ist der Vf. ein Schulmann, als Geschichtslehrer und
057 Leiter eines Gymnasiums den propädeutischen Beschwernissen
058 gegenübergestellt, wie sie sich bei der Aufnahme der nationalen
059 Geschichte durch die " unruhige " Oberstufe der höheren Schulen
060 (in Vorankündigung modernen Studentenlebens) alltäglich ergibt.
061 Nicht zuletzt verdient das Buch daher Interesse, weil es
062 sicherlich die Erfahrungen des Pädagogen aufgenommen hat, der die
063 Möglichkeiten des Lehrers für deutsche Geschichte am heutigen
064 Gymnasium kennt. Will mann zum " Geschichtsbild " etwas sagen,
065 kann man mit einem äußerlich scheinenden Maßstab beginnen, der
066 die Verteilung des Stoffes auf den Gesamtumfang überprüft. Die
067 Periode von der Frühzeit (" Germanien im Schatten des
068 Römischen Weltreiches ") bis zur Reformation, d. h.
069 insgesamt ein Zeitraum von etwa 1500 Jahren, wird auf 85 Seiten
070 abgehandelt; die letzten knapp 200 Jahre von " Deutschland und
071 die französische Revolution " bis zu " Deutschland nach dem
072 zweiten Weltkrieg " erhalten in der Darstellung einen Raum von
073 158 Seiten, wobei die Jahrzehnte des 20.Jh. s wiederum
074 wesentlich breiter - wenn man das bei dem knappen Raum sagen kann
075 - als die vorhergehenden ausgezeichnet werden. Aus dieser
076 Platzverteilung läßt sich also wohl ablesen, daß die Ereignisse
077 der deutschen Geschichte in der Absicht des Buches um so
078 interessanter werden, je näher sie der Gegenwart stehen. Eine
079 solche Auffassung, daß, wie der Vf. es ausdrückt, der
080 neueren Geschichte das " weitaus größte Gewicht " beizumessen
081 ist, kann man für sich durchaus gelten lassen, und es möge nicht
082 der Eindruck entstehen, daß ein Mittelalterhistoriker, der das
083 Buch rezensiert, sich von seinem Fach her alsbald frustriert sieht,
084 wie man heute so sagt. Natürlich kann man Jahrhunderte nicht
085 mit der Elle auf die Druckseiten verteilen, und gerade in einer
086 entsprechenden Ungleichmäßigkeit können der Reiz und die
087 Wahrheit der Darstellung liegen. Wenn die Aufgabe einer
088 nationalen historischen Darstellung wie hier im
089 " Rechenschaftsbericht " gesehen wird, also aus der Betroffenheit
090 einer gegenwärtigen Lage heraus geschieht, ist es verständlich,
091 daß die historisch nächsten Stufen und Voraussetzungen vor dieser
092 Gegenwart zur Erklärung der " Ergebnisse " unserer Geschichte
093 ganz besonders ins Auge gefaßt werden. Es ist darüber hinaus
094 eine alte Feststellung, daß die fortwährende Erneuerung der
095 Geschichtsschreibung, das dauernde Umschreiben der Geschichte,
096 aus den Möglichkeiten einer gegenüber der Vergangenheit ja stets
097 erfahrungsreicheren Gegenwart her vorgenommen wird und vorgenommen
098 werden muß. Eine andere Frage ist, ob der historische Sinn
099 reicher wird, wenn er die Gewordenheit der Gegenwart -
100 überspitzt ausgedrückt - als Zeitgeschichte erklärt.
101 Vielleicht erscheinen solche Überlegungen an dieser Stelle und
102 angesichts der Stoffverteilung eines knappen Lesebuches zur
103 deutschen Geschichte zu zünftlerisch prätentiös, sie kommen
104 jedoch aus den handfesten Erfahrungen eines akademischen Lehrers,
105 der manche offiziellen Wünsche für die historische Ausbildung
106 kennt - dazu natürlich auch die allgemeine Nachfrage des Tages
107 -, und da ist es doch so, daß " interessante " Geschichte,
108 sei es deutsche, europäische oder Universalgeschichte, erst mit
109 der Ära der Revolutionen beginnt. Daß dabei nicht nur durch die
110 Beschränkung auf die revolutionäre Epoche, sondern auch auf
111 bestimmte Fragestellungen bereits das Wünschenswerte an
112 historischer Bildung vermittelt werden sollte, sei nur nebenbei
113 erwähnt. Dennoch kann eine Gewichtsverteilung, die das
114 Mittelalter in einer heutigen Darstellung deutscher Geschichte im
115 Umfang zurücktreten läßt, durchaus ihren Sinn haben. Dann
116 nämlich, wenn sie in der Kürze den derzeitigen Zuwachs an
117 Kenntnissen auf die Formel bringt und die besonderen Affinitäten
118 des Zeitalters zur Moderne, wie sie sich aus der heutigen
119 Forschungsproblematik ablesen lassen, zu erkennen gibt. Das ist
120 sehr schwer. Denn eine derartige lesbare Kurzschilderung muß sich
121 festlegen, wo noch die Forschung in Bewegung ist. Sie muß,
122 etwa im Felde der Sozialgeschichte und
123 Strukturgeschichte, allgemeine und dem heutigen Sprachverständnis
124 entsprechende Formulierungen wagen, wo die Forschung noch um
125 fachlich und zeitlich treffende Termini bemüht ist; sie muß den
126 Mut zum Generalisieren haben, wo die Neuigkeiten differenziert
127 und nur für jeweilige Untersuchungsgebiete geltend beigebracht
128 wurden. An nur einem herausgenommenen Beispiel möge das gezeigt
129 werden. In einer deutschen Geschichte wird im ersten Kapitel
130 etwas zur Sozialgeschichte der germanischen Frühzeit gesagt werden
131 müssen. Aus der Ökonomie des Ganzen ergibt sich die Forderung,
132 das Wesentliche dazu in wenigen Zeilen zu formulieren. Die
133 Bemerkung, daß das nicht geht, ist zutreffend. Andererseits
134 wird als richtig anerkannt, daß das Buch mit der Schilderung von
135 2000 Jahren deutscher Geschichte als solches wünschenswert und
136 notwendig ist. Dem Vf. ist also zuzugestehen, daß er mit der
137 Abbreviatur vereinfacht und sich angesichts des Forschungsstandes
138 so oder so festlegt. Dazu lesen wir nun: " Das Kennzeichen des
139 Germanen war seine Freiheit. Sippe und Stamm waren
140 Zusammenschluß freier Männer. " Das ist nun eine Kurzformel,
141 die in einer modernen Darstellung so nicht gut stehenbleiben kann,
142 auch wenn man der Meinung ist, daß allgemeine Darstellungen nur
143 mit erheblichem zeitlichen Phasenabstand die speziellen
144 Forschungsergebnisse in sich aufzunehmen vermögen. Auch wenn man
145 dem Vf. zubilligt, daß er angesichts der Forschung der letzten
146 Jahrzehnte zum Thema Freiheit und Herrschaft in der Frühzeit
147 sich nicht für die adelsherrschaftlichen Theorien entscheidet, so
148 sträubt sich doch heutzutage die Feder bei der Niederschrift einer
149 derart undifferenzierten Feststellung. Der Gedanke meldet sich,
150 die Formulierung sei nicht nach Abwägen der neueren
151 Forschungsergebnisse in die Darstellung gelangt, sondern als
152 schlichte spätromantische Reprise. Ein Unbehagen stellt sich
153 ähnlich ein, wenn man feststellt, daß sich aktuelle
154 sozialgeschichtliche Fragestellungen, wie sie seit Jahrzehnten die
155 Mittelalterforschung beleben, in der Kurzdarstellung nicht
156 abzeichnen. Gewiß ist es eine Entscheidungsfrage, ob man
157 Ergebnisse der Ministerialenforschung, etwa unter dem
158 Gesichtspunkt der sozialen Mobilität im Mittelalter, mit eigener
159 Betonung in eine Kurzdarstellung hereinnimmt oder neue Akzente zur
160 Verfassungsgeschichte des Königtums, der städtischen Früformen
161 oder zur Bevölkerungsgeschichte und Siedlungsgeschichte,
162 um nur einiges zu nennen - aber man kann solche Forschungsfelder
163 und ihre Ergebnisse heute auch in einer summarischen Darstellung
164 nicht mehr übersehen oder verschweigen. Nicht nur Einzelzüge
165 fehlen dann, sondern der Entwurf, das moderne Mittelalterbild
166 überhaupt sind davon betroffen. Es ist jedoch nicht angemessen,
167 wenn eine Darstellung, die als populäre Einführung und als
168 historische Orientierungshilfe in der heutigen nationalen Situation
169 gedacht ist, nur von fachlichen Beanstandungen des Mediävisten
170 her beurteilt wird. Das soll auch mit Schwerpunkt nicht geschehen;
171 freilich ist bei dieser Gelegenheit zu sagen: In einer
172 modernen nationalen Geschichtsdarstellung ist nicht so sehr die
173 Einschränkung der Mittelalterkunde vom Umfang her bedenklich,
174 sondern vielmehr von der sachlichen Intensität, der
175 wissenschaftlichen Nähe und Verbindlichkeit. Pointiert gesagt:
176 Wer als Moderner in der deutschen Geschichte Frühzeit und
177 Mittelalter nur als ein vom Zeitlauf her nun einmal notwendiges
178 Einleitungskapitel sieht, der beraubt sich nicht nur der
179 historischen Dimension, er nimmt sich auch als gegenwärtig
180 Betroffener Möglichkeiten heutigen Verständnisses weg und kann
181 damit als Historiker farbenblind werden. Diesen letzten Satz
182 möchte ich nicht speziell auf den Vf. des hier angezeigten
183 Buches angewendet wissen, aber er drängt sich auf, wenn man einen
184 vielfachen Trend in der Bildungsplanung und der " richtigen "
185 Programmierung des Faches Geschichte bemerkt. Wir wollen von der
186 weiteren Überprüfung einzelner Formulierungen hier absehen und
187 die Frage stellen, wie sich in diesem heutigen Lesebuch zur -
188 früher hätte man gesagt - vaterländischen Geschichte dieses
189 Gesamtbild deutscher Vergangenheit aus der Bestimmung des
190 generalen Erzählthemas und aus den Urteilen zu entscheidenden
191 Stationen aufbaut. Der Bericht wird von der politischen
192 Ereignisgeschichte her gegliedert. D. h., der erste Teil
193 bis zum Ausgang des Dreißigjährigen Krieges enthält wesentlich
194 Reichsgeschichte. In der Periode nach dem Westfälischen
195 Frieden ist der Dualismus Habsburg-Brandenburg-Preußen
196 der wesentliche historische Gegenstand. Deutlich zeigt sich seit
197 dem Großen Kurfürsten, zumindestens seit Friedrich-Wilhelm
198 dem Soldatenkönig, die neue Achse zur " geschichte Deutschlands "
199 ab, die dann über die Freiheitskriege, Reformzeit
200 und Revolutionszeit, Bismarck, Wilhelminismus, Weimar,
201 Hitler zur Gründung der Bundesrepublik und der Spaltung
202 Deutschlands verläuft. Die Darstellungsform von der politischen
203 und Staatsgeschichte her wie die Zeichnung der Generallinie, an
204 der " deutsche " Geschichte markiert werden kann, wirken also im
205 großen und ganzen traditionell und überkommen. Zwar werden kultur
206 geschichtliche und religionsgeschichtliche Absätze
207 eingeschaltet, wie " Die kulturelle Entwicklung in Deutschland
208 zur Zeit der Reformation ", " Die Kultur des Barocks in
209 Deutschland ", " Das Zeitalter Goethes " oder
210 " Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst Deutschlands
211 in der 2.Hälfte des 19.Jh. s ", aber solche
212 Einschübe wirken mehr als Illustrationen denn als mitwirkender
213 Teil der eigentlichen Erzählung. Aufwendig ist auch das
214 beigefügte Abbildungsmaterial, das für sich ein populäres
215 Bilderbuch darstellt und, meist ohne direkten Bezug auf den Text,
216 von der Porta Nigra und dem Aachener Kaiserstuhl bis zu
217 farbigen Abbildungen von Werken Franz Marcs, Oskar Kokoschkas
218 und Emil Noldes reicht. Der Vf. will, wie schon bemerkt,
219 Geschichte als einen nüchternen Rechenschaftsbericht geben. Die
220 sprachliche Form ist dementsprechend zurückhaltend. Der Verzicht
221 auf den stilistischen Glanz oder die Bedeutungsschwere des
222 Ausdrucks ist durchaus kein Fehler. Zurückhaltung in der
223 Beschreibung muß jedoch nicht Enthaltsamkeit im Urteil bedeuten.
224 Im Gegenteil, wer Rechenschaft im eigentlichen Sinne gibt,
225 zeigt Bilanzen, ganz ohne Worte; um so unverkennbarer ist dann u.U.
226 die Auskunft der roten Zahlen. Welches sind nun die
227 Urteile zu Personen und Entscheidungen, die weithin als
228 signifikant für die deutsche Geschichte gelten? An ihnen ist
229 dasjenige, was mit einer derartigen Darstellung spezifisch
230 vermittelt werden soll, das Bild, am ehesten zu erkennen. Ich
231 beschränke mich auf ein paar Beispiele und, der wesentlichen
232 Absicht des Buches entsprechend, auf solche aus der Neuzeit.
233 Luthers Wirkung auf die Staatsauffassung im Sinne der
234 Obrigkeitsfrömmigkeit und der Anerkennung eingesetzter,
235 weltlicher Autoritäten ist ein Punkt, der in einer Darstellung
236 des deutschen Schicksals eine Beurteilung verlangt. Wie wird sie
237 hier gegeben? Es heißt: Es ist unangemessen, Luther für
238 eine Entwicklung im nicht-religiösen Bereich verantwortlich zu
239 machen, die er nicht sehen konnte und die er eventuell hätte
240 verhindern können. " Die innere Geschlossenheit der
241 Persönlichkeit Luthers und damit die ungeheure Wirkung, die von
242 ihm ausging, hatte ihren Grund ganz entscheidend in der Tatsache,
243 daß für ihn allein das Religiöse Angelpunkt seines Denkens,
244 Handelns und Lebens bedeutete ".
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