Kant: Briefwechsel, Brief 68, Von Marcus Herz. |
|||||||
|
|
|
|
||||
| Von Marcus Herz. | |||||||
| Berlin den 9ten July 1771. | |||||||
| Insonders Hochgeehrter Herr Profeßor | |||||||
| Ihr letzter Brief hat mir außer dem gewöhnlichen Vergnügen, | |||||||
| mich in dem Gedächtniße meines theuren Lehrers noch nicht verloschen | |||||||
| zu sehen, noch ein ganz besonderes verschaft, daran Sie vielleicht | |||||||
| weniger gedacht haben als es mir von Wichtigkeit ist. Mein Freund | |||||||
| Herr Friedländer sagte mir bey seiner Ankunft, daß Sie kein so | |||||||
| großer Verehrer der speckulativen Weltweisheit mehr seyn als Sie es | |||||||
| vormals waren, was sage ich kein Verehrer? daß Sie sie ihm bey | |||||||
| einer gewißen Gelegenheit ausdrücklich für eine nutzenlose Grübeley | |||||||
| ausgegeben, die von einigen Gelehrten in den Studirstuben verstanden | |||||||
| wird, die aber zu weit von dem Getümmel der Welt entfernt sind, | |||||||
| um da ihrer Theorie gemäße Verändrungen hervorzubringen; von | |||||||
| dem übrigen größten Theil der Welt gar nicht verstanden wird, und | |||||||
| daher auf ihr Wol nicht den mindesten Einfluß haben kann; die | |||||||
| Moral für den gemeinen Mann, meynten Sie daher, wäre allein | |||||||
| das einem Gelehrten angemeßene Studium; hier dringe er in das | |||||||
| Herz ein, hier studire er die Empfindungen und suche dieselbe nach | |||||||
| Regeln der gemeinen Erfahrung in Ordnung zu bringen. Wie zitterte | |||||||
| ich bey dieser Nachricht! wie, dachte ich, war das also bloße Täüschung | |||||||
| von meinem Lehrer, daß er mir bey so manigfaltiger Gelegenheit | |||||||
| den Wert der Metaphisick so sehr anpries; oder empfand er damal | |||||||
| wirklich das dafür was er zu empfinden vorgab, aber die Zeit hat | |||||||
| ihm einen scharfern Blick in das Innere der Wißenschaft thun laßen, | |||||||
| der auf einmal seine wärmsten Gesinnungen in einen kalten Widerwillen | |||||||
| verwandelte; also ist das Schicksal aller unserer Vergnügungen | |||||||
| daßselbe, körperliche oder Seele Vergnügungen, sie mögen Namen haben | |||||||
| wie sie wollen, alle berauschen uns einige Augenblicke, setzen unser | |||||||
| Blut in Wallung, laßen uns eine kurze Zeit Kinder des Himels | |||||||
| seyn, aber bald darauf folgt die beschwerlichste von allen Martern, | |||||||
| der Eckel und legt uns Reihen von Bußjahren für die flüchtigen | |||||||
| Augenblicke des Genußes auf. Was macht man uns denn für Geschrey | |||||||
| von den B[e]lustigungen des Geistes, was für Lerm von der Glükseligkeit | |||||||
| die aus den Werken des Verstandes entspringet und der | |||||||
| Götter ihre am nächsten ist? weg mit dem Plunder, wenn er nichts | |||||||
| mehr vermag als was die Befriedigung einer jeden Begirde leisten | |||||||
| kann, und gewiß noch weniger vermag er alsdenn, da der darauf | |||||||
| folgende Eckel über die vergebens angewandte Mühe und Zeit, eine | |||||||
| unaufhörliche Reue in uns erwecken muß. Und schon war ich wirklich | |||||||
| entschloßen diesem Schicksale bey zeiten zu entgehen, alle Wißenschaften | |||||||
| ferner zu entsagen und so gar mein schon halb zur Welt gebrachtes | |||||||
| Kind in der Geburt zu ersticken; allein Ihr Brief rief mich noch zu | |||||||
| rechter Zeit von meiner Unbesonnenheit zurück: Sie sind noch derselbe | |||||||
| Verehrer der Spekulation als jemals, nur eine mißliche Laune kann | |||||||
| Ihnen einmal das Gegentheil haben sagen laßen, Sie sind wieder | |||||||
| beschäftigt der Welt ein großes Werk zu liefren, Sie sagen noch, da | |||||||
| der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts an den Wahrheiten läge | |||||||
| die über den Grenzen der Erkenntniß festgesetzt werden, o welch ein | |||||||
| sicheres Pfand ist dieses Geständniß von dem größten Menschenfreund | |||||||
| in meinen Händen, daß er nie aufhören kann dasjenige zu beherzigen | |||||||
| was zu ihrer Glückseligkeit das einzige Mittel ist. | |||||||
| Mit der fahrende Post empfangen Sie meine Schrift, in welchem | |||||||
| Sie allem Vermuthen nach, wenig finden werden, das in Ihrem | |||||||
| unter den Händen habenden Werke einige Verändrungen verursachen | |||||||
| sollte. Niemanden habe ich es weniger nöthig zu sagen als Ihnen | |||||||
| theurster Herr Profeßor wie klein mein ganz Verdienst in dieser | |||||||
| Schrift ist. Ich habe bloß Ihre Schrift vor Augen gehabt, den Faden | |||||||
| Ihrer Gedanken gefolgt, und nur hie und da einige Digreßionen | |||||||
| gemacht die mir mehr im Arbeiten einfielen als daß ich sie vorher | |||||||
| mit im Plane gebracht habe. Sie sind also sehr gütig, wenn Sie an | |||||||
| den Beyfall den ich zu erwarten habe Antheil nehmen wollen. Ihnen | |||||||
| gebührt er ganz, u. nichts als der Lob eines fleißigen Zuhörers | |||||||
| gehört für mich. Aber Schande, ewige Schande für mich allein, wenn | |||||||
| ich Sie nicht begriffen, wenn ich unächte Waaren den ächten untergeschoben, | |||||||
| und den verdienten Tadel einer ganzen Welt auf mich | |||||||
| geladen! | |||||||
| Ich hätte Gelegenheit mich jezo über verschiedene in der Schrift | |||||||
| enthaltene Materien zu unterhalten, allein ich behalte mir dieses auf | |||||||
| bis Sie sie gelesen, und mir Ihr Urtheil geschrieben. Bey der | |||||||
| Entwicklung der Begriffe von Raum u. Zeit habe ich eine Ausschweifung | |||||||
| zu der Natur der Grundsätze des Schönen gemacht; bey | |||||||
| der Untersuchung der Verhältniße bin ich auf einen Beweis für das | |||||||
| Daseyn der Seele geführt worden, der vielleicht Aufmerksamkeit verdient, | |||||||
| in der zweyten Abtheilung habe ich bloß Ihnen gefolgt, und nur eine | |||||||
| kleine Bewegung gemacht, den Fuß etwas weiter zu setzen. | |||||||
| Meine Schreibart werden Sie sehr schwerfällig und gezwungen | |||||||
| finden, es fehlt mir an Rundung an Praecision, u. ich weis nicht ob | |||||||
| es bloß meinem Unvermögen oder auch zugleich der Beschaffenheit | |||||||
| der Materie, die Undeutlichkeit an manchen Orten, zuzuschreiben sey. | |||||||
| Ich erwarte Ihr Urtheil liebster Herr Profeßor so wol [üb]er die einzelnen | |||||||
| Materien als über die ganze Schrift, und besonders ob mein | |||||||
| ganzes Unternehmen mit der Herausgabe zu billigen sey oder nicht. | |||||||
| Uber den Engländer Smith der, wie Herr Friedlander mir sagt, | |||||||
| Ihr Liebling ist, habe ich verschiedene Remarken zu machen. Auch | |||||||
| mich hat dieser Mann ungemein belustigt, aber gleichwol setze ich ihn | |||||||
| dem ersten Theile von Home Kritik bey weiten nach. Herr Mendelsohns | |||||||
| Rapsodie werden Sie vermuthlich gelesen haben, er hat die neue Ausgabe | |||||||
| sehr vermehrt, u. eine neue Aussicht in dem Felde der vermischten | |||||||
| Empfindungen entdecket. Vieles ist mir noch schwierig darin, | |||||||
| über welchen ich aber mit diesem Manne jezo nicht sprechen kann, | |||||||
| der schon seit ein ha[l]bes Iahr einen Anfall von Nervenkrankheit | |||||||
| hat, so daß er nicht das mindeste im Stande ist zu lesen schreiben u. | |||||||
| über philosophische Materien zu denken. Durch seine strenge Diaet | |||||||
| aber so wol von seite des Körpers als der Seele hat er sich gottlob! | |||||||
| schon ziemlich erholt, u. wird künftigen Winter wol wieder arbeiten | |||||||
| können. Unterdeßen werde ich mich zu meinem theuren Lehrer wenden, | |||||||
| u. was mir beym Durchlesen der obigen Schriften eingefallen ihm | |||||||
| vorlegen. | |||||||
| Ich bin jezo so glücklich Ihr Bildniß über meinen Studirtisch zu | |||||||
| haben. Welch Vergnügen gewährt dieses mir, durch die Erinrungen | |||||||
| an jene lehrreiche Stunden. Ich bin Ihnen und meinem Freund | |||||||
| Herr Friedländer unendlich dafür verbunden. | |||||||
| Lamberts Architectonic habe ich erst angefangen zu lesen, u. | |||||||
| kann daher noch nichts urtheilen darüber. Es sind ohnedem nur | |||||||
| wenige Nebenstunden die ich zu den unmedicinischen Studien anwenden | |||||||
| kann. | |||||||
| Ich habe lang genug geschwatzt. Leben Sie wohl unvergeßlicher | |||||||
| Herr Profeßor, antworten Sie mir bald u. weitläufig auf meine | |||||||
| Schrift. Denn, bey Gott! Ihr Urtheil allein wird bey mir ihren | |||||||
| Wert zu bestimmen vermögend seyn. Denken Sie doch bisweilen | |||||||
| an Ihren | |||||||
| Unterthänigsten Diner und Schüler | |||||||
| Markus Herz. | |||||||
[ Handschriftliche Notiz 1820a zum Brief: AA 16, Seite 127 ] |
|||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 124 ] [ Brief 67 ] [ Brief 69 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
|||||||