Kant: Briefwechsel, Brief 669, Von Ignaz Aurel Feßler.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Ignaz Aurel Feßler.      
           
  12. Iuli 1795.      
           
  Ihre Augenblicke sind kostbar; vor allem muß ich mein Recht an      
  Sie zu schreiben erweisen.      
           
  Es kann nur durch Beförderung freyer Geistesthätigkeit und durch      
  Begrünndung der Vernunftherrschaft in der Welt besser werden: zu      
  diesem Zwecke beyzutragen ist jedes Mannes Pflicht, der Kraft in sich      
  fühlt; es muß von allen Seiten und unter allen möglichen Gestalten      
  zu demselben hingewirkt werden. Unter allen Lehrern des Alterthumes      
  ist vielleicht keiner für den philosophirenden Menschenverstande brauchbarer      
  und dem Geiste unsers Zeitalters angemessener und heilsamer,      
  als Seneca der Philosoph. Ihn, den ernsten Verkündiger des Vernunftgesetzes,      
  nicht den empyrischen Schicklichkeitslehrer Cicero sollte      
  meines Erachtens der practische Verehrer der Alten jetzt zu seinem      
  Freunde und Vertrauten machen. Zu bedauern ist es nur, daß die      
  höhere Kritik seit Gronovius für Seneca's Schriften nichts gethan hat;      
  weil ihre Geweihten mit der hier und da befleckten Schale auch den      
  in ihr liegenden gesunden, kraftvollen Kern verachtet hatten. Offen      
  steht also noch dem männlichen Fleiße der Weg zu dem schönen Verdienste,      
  dem bessern und edlern Theile unserer Zeitgenossen einen      
  durchaus kritisch recensirten und verbesserten Text der ältesten Prolegomenen      
  zur kritischen Moralphilosophie zu überreichen. Ich wage es,      
  nach diesem Verdienste zu ringen, und zwar mit um so größerer Zuversicht,      
  je freygebiger man mich bis jetzt aus Mayland, Florenz,      
  Rom, Venedig und mehrern Städten Deütschlandes mit kritischen      
  Hülfsmitteln, z. B. Vergleichungen alter Handschriften, unterstützt hat.      
  Zwey Bände, die den Text mit erklärenden und kritischen Anmerkungen      
  enthalten, werden zu Ostern 1797 in Wilhelm Gottl. Korns Verlag      
  erscheinen. Der dritte Band ist einem vollständigen Commentar über      
  die Stoische Philosophie, den besondern Stoicismus des Seneca, und      
  über das Verhältniß desselben zur kritischen Moral-philosophie gewiedmet;      
  er soll alles enthalten, was bis jetzt über diese ehrwürdige      
  philosophische Secte mit Grund gesagt werden kann; er soll alles berichtigen,      
  was bis jetzt einseitig, oder ohne Grund über dieselbe gesagt      
  worden ist: eine Arbeit vor der mir schaudert; aber die ich übernehmen      
           
  soll. Hier ist es, wo ich mir Ihre Hülfe, Ihre heilsamen Rathschläge      
  erbitte. Was wünschten Sie in einem solchen Commentar zu finden?      
  Wie nahe oder entfernt steht nach Ihrem Erkenntnisse der Stoicismus      
  überhaupt, und besonders der Stoicismus des Seneca von dem, durch      
  Sie entdeckten und aufgeschlossenen Heiligthume der reinen practischen      
  Vernunft? Vor welchen Klippen und Abwegen habe ich mich bey      
  dieser Arbeit in Acht zu nehmen? Leiste ich was Sie wünschen und      
  was Noth thut, wenn ich zu meinem Commentar die Form von Tennemanns      
  System der Platonischen Philosophie entlehne? Über dieß alles      
  wünsche ich Ihre Stimme zu vernehmen, und das Bewußtseyn reiner      
  sittlicher Maximen bey meiner Arbeit sagt mir, daß ich dieselbe zu      
  hören verdiene. Bey mir sind Sie sicher vor allem öffentlichen Danke,      
  Nie werde ich ein so edles sittliches Gefühl zum Mittel und Deckmantel      
  einer unmännlichen Eitelkeit und Ruhmbegierde herabwürdigen;      
  aber in meinem Herzen soll das reine Gefühl der Achtung für Sie      
  wo möglich noch lebhafter werden mit welchem ich mich nenne      
           
    Ihren      
  Carolath bey Neustädtel        
  in Nieder= Schlesien den 12t Iulius Verehrer und Schüler      
  1795. Fessler.      
    Der Theol. Dr.      
           
           
           
     

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