| Kant: Briefwechsel, Brief 663, Von Reinhold Bernhard Iachmann. | |||||||
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| Von Reinhold Bernhard Iachmann. | |||||||
| Marienburg den 30 May | |||||||
| 1795. | |||||||
| Wohlgeborner Herr Professor! | |||||||
| Verehrungswürdigster Lehrer! | |||||||
| Schon seit geraumer Zeit bin ich mit mir zu Rathe gegangen, | |||||||
| ob ich mich wohl erdreisten sollte, Ihnen theuerster Herr Professor, | |||||||
| mit einem Briefe von mir beschwerlich zu fallen. Die Freundschaft, | |||||||
| mit welcher Sie mich von jeher beehrten, Ihre thätige Vorsorge für | |||||||
| mein Bestes, Ihre so gütige Theilnahme an meinem Schicksal, welche | |||||||
| Sie beständig gegen mich äußerten, schienen es mir einerseits zur | |||||||
| Pflicht zu machen, Ihnen eine eigenhändige Nachricht von meinem | |||||||
| jetzigen Leben zu ertheilen. Andrerseits aber scheute ich mich, die große | |||||||
| Zahl von Briefen, mit welchen Sie fast täglich beschwert werden, noch | |||||||
| mit meinem unbedeutenden Schreiben zu vermehren. Nur mein Wunsch, | |||||||
| Ihnen schriftlich zu versichern, daß ich dem Andenken an Sie und an | |||||||
| Ihre mündliche Belehrungen und dem Studio Ihrer Schriften, alle bey | |||||||
| meinem Amt noch übrige Stunden gewidmet habe und hieraus eben | |||||||
| so viel Freude als Nutzen für mich und andere ziehe, gab den erstern | |||||||
| Gründen den Ausschlag und bestimmten mich zur Abfassung dieses | |||||||
| Briefes. | |||||||
| Gleich bey dem Antritt meines Amtes, welches mir so wohl den | |||||||
| Unterricht der Iugend in der Schule, als auch die Belehrung der | |||||||
| Gemeine in der Kirche zur Pflicht macht, faßte ich den Vorsatz, Ihre | |||||||
| Lehren nach meiner Einsicht und Fähigkeit so viel als möglich auszubreiten; | |||||||
| und meine Bemühungen sind bis jetzt schon, nicht ganz | |||||||
| ohne Erfolg gewesen. Abgerechnet daß ich so manche Irrthümer im | |||||||
| theoretischen Gebrauch der Vernunft durch Anwendung Ihrer Critik | |||||||
| der reinen Vernunft wegzuräumen gesucht habe, so ist vorzüglich mein | |||||||
| Bestreben gewesen, die Sittenlehre in ihrer Reinigkeit nach Ihren | |||||||
| Principien darzustellen. Daß dieses auch bey der Iugend mit gutem | |||||||
| Erfolg geschehen könne, davon war ich zwar schon in Koenigsberg aus | |||||||
| eigner Erfahrung überzeugt; ich bin es aber jetzt noch mehr. Ich | |||||||
| finde nichts gegründeter als Ihre in der Methodenlehre der practischen | |||||||
| Vernunft geäußerte Verwunderung, warum die Erzieher der Iugend, | |||||||
| von dem Hange der Vernunft, in aufgeworfenen practischen Fragen | |||||||
| selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen, nicht schon | |||||||
| längst Gebrauch gemacht haben. Der unbefangene Verstand junger | |||||||
| Leute entdeckt da so leicht die Wahrheit und entscheidet auf der Stelle | |||||||
| was Recht ist und daß man aus Pflicht das Gute ausüben müsse, wo | |||||||
| der, durch ein erlerntes System verschrobene Kopf manches Gelehrten | |||||||
| tausend Bedenklichkeiten findet. Aber auch bey diesen siegt endlich die | |||||||
| Wahrheit, wenn man ihnen nur erst die Untauglichkeit ihres Glückseligkeitsystems | |||||||
| und den Irrthum, aus den Folgen die Güte ihrer | |||||||
| Handlungen bestimmen zu wollen, deutlich vor Augen gestellt hat. | |||||||
| Ueberdies hat der Grundsatz, aus Pflicht das Gute zu thun, so viel | |||||||
| Herzerhebendes und die von allem sinnlichen Schmuck entkleidete Tugend | |||||||
| äußert eine solche Allgewalt auf das Herz der Menschen, daß sie, auch | |||||||
| die mit dem Catechismus eingesogenen und durch ihn geheiligten Irrthümer | |||||||
| überwältigt. Ich sehe dies an meinen Predigten, welche ich | |||||||
| stets nach den Grundsätzen der reinen Sittenlehre abfasse und welche | |||||||
| gewiß eben darum, selbst für den gemeinen Mann sehr viel Anzügliches | |||||||
| haben und mit Vergnügen gehört werden. Um aber in dieser guten | |||||||
| Sache nicht blos allein zu arbeiten, oder wohl gar von meinen Amtsbrüdern | |||||||
| gehindert zu werden, so habe ich Beyde zum Studio Ihrer | |||||||
| Philosophie hingeführt, die sie jetzt auch mit dem größten Eifer betreiben. | |||||||
| Prediger Polnau ist ein junger Mann mit guten Fähigkeiten, | |||||||
| die er auch schon auf der Universität durch Ihren Unterricht ziemlich | |||||||
| ausgebildet hat. Prediger Heinel, der auch nur erst 38 Iahr alt ist, | |||||||
| hatte zwar von Ihren Lehren wenige Begriffe; aber meine mündliche | |||||||
| Unterredungen über Ihre Philosophie machten ihn so begierig nach | |||||||
| einer näheren Kentniß derselben, daß er sich bereits Ihre Werke angeschaft | |||||||
| hat und sie fleißig studirt. - Wollte Gott, daß nur alle Prediger | |||||||
| und Schullehrer, auf dem Lande und in den Städten, dergleichen Vorsätze | |||||||
| faßten und ausführten! Es würde mit dem menschlichen Geschlechte bald | |||||||
| weit besser aussehen. Beym Unterricht des Catechismus müßte schon | |||||||
| der Grund gelegt werden. Aber freylich müßten dies nicht die bis | |||||||
| jetzt gebräuchlichen Glückseligkeitslehren seyn. Wenn der Mensch in | |||||||
| der Iugend schon an eine ungegründete und inconsequente Denkungsart | |||||||
| gewöhnt wird, so lernt er nie nach Principien denken und sein Gedankensystem | |||||||
| bleibt ohne Fundament und Zusammenhang. Anstatt also | |||||||
| im Catechismus von der Frage anzufangen; ob man nicht glücklich | |||||||
| seyn wolle? und das Kind als dann auf die Lehre von Gott und Christo | |||||||
| zu führen, wodurch es am Ende sich doch nicht im mindesten glücklicher | |||||||
| fühlt, sondern wohl gar über Gottes Allmacht, Güte etc. viele | |||||||
| gegründete Zweifel hegt, sollte man meiner Meinung nach, von den, | |||||||
| im Menschen liegenden Moralbegriffen anfangen, die Gesetzgebung der | |||||||
| practischen Vernunft deutlich machen, das formale Princip der Moral | |||||||
| festsetzen, hierauf die Pflichten nach diesem Princip einzeln abhandeln, | |||||||
| dann zeigen, wie man sich durch ihre uneigennützige Erfüllung der | |||||||
| höchsten Glückseligkeit würdig mache und durch das Bedürfniß nach | |||||||
| Glückseligkeit, welches zu befriedigen nicht in unserer Gewalt steht, | |||||||
| den Catechumenen auf Gott führen, der allein im Stande ist, uns | |||||||
| eine unserer Würdigkeit angemessene Glückseligkeit zu ertheilen. Wenn | |||||||
| auf diese Art der practische Vernunftglaube an Gott begründet wäre, | |||||||
| so könnte man alles das, was der Mensch in Gott zu denken für nöthig | |||||||
| findet, einzeln durchgehen und endlich auch seine Vorsorge für die Vervollkommung | |||||||
| und Beglückung des Menschengeschlechts durch die Bekanntmachung | |||||||
| der Lehre Iesu hinzufügen. Auf diesem Wege würde nicht | |||||||
| allein der Inhalt der christlischen Lehre mehr Auctorität erlangen, da | |||||||
| man sähe, daß ihre Lehren mit der reinen Vernunft=Lehren übereinstimmen, | |||||||
| sondern es würden auch überhaupt alle die Zweifel und Irrthümer | |||||||
| wegfallen; die bey den theoretischen Beweisen von Gott, Freyheit | |||||||
| und Unsterblichkeit unvermeidlich sind. Die Freyheit des Willens | |||||||
| würde sich als ein Factum der Vernunft aufdringen und Gott und eine | |||||||
| künftige Fortdauer würden ihm Vernunftbedürfnisse seyn, an welche | |||||||
| ihn ein Vernunftglaube fesselt, den keine speculation wankend zu | |||||||
| machen vermag. | |||||||
| Verzeihen Sie theuerster Herr Professor, daß ich hier meinen Gedanken | |||||||
| freyen Lauf ließ und sie ohne alle Kunst aufs Papier setzte. | |||||||
| Nichts wäre mir für meine jetzige Lage wichtiger und erfreulicher, als | |||||||
| wenn Sie verehrungswürdigster Herr Professor, so gütig wären, mir | |||||||
| Ihr Urtheil zu sagen, ob diese Gedanken an sich richtig und ihre Zusammenordnung | |||||||
| consequent ist, denn mein Wunsch ist schon lange | |||||||
| gewesen, den Religionsunterricht auf diese Art einzurichten und die | |||||||
| Religion selbst, auf die vorhergegangene Moral zu gründen. Ich habe | |||||||
| auch schon vielfältig darüber nachgedacht, um meine Gedanken zu | |||||||
| meinem eignen Gebrauch aufzusetzen; aber ohne Ihr Urtheil wage ich | |||||||
| dies nicht, weil ich mich selbst nicht täuschen will. Bey solcher Arbeit | |||||||
| müssen wenigstens vorerst die Hauptgedanken richtig und zusammenhängend | |||||||
| seyn. Auf die nähere Bestimmung einzeler Begriffe komme | |||||||
| ich vielleicht noch bey meiner Ausarbeitung und bey meinem Unterricht. | |||||||
| Wie sehr erwünscht wäre es mir jetzt, wenn Herr Professor schon Ihre | |||||||
| Moral herausgegeben hätten. Dann würde mir manches hell seyn, | |||||||
| was mir jetzt noch dunkel ist. ZE. das wahre Criterium des Unterschiedes | |||||||
| eines gebietenden von einem verbietenden Gesetze; der Bestimmungsgrund | |||||||
| einer vollkommnen und unvollkommnen Pflicht, ob es | |||||||
| nicht besser wäre, die einzelnen Pflichten nach ihrer Würdigung als | |||||||
| vollkommne und unvollkommne als ratione Objecti abzuhandeln. - Ia | |||||||
| meine jetzigen Beschäftigungen flößen mir immer mehr und mehr die | |||||||
| Begierde ein, bald wieder in Königsberg zu leben, um durch Ihre | |||||||
| Belehrungen an Erkentniß zu wachsen und in einem größeren Wirkungskreise | |||||||
| nützlich zu seyn. | |||||||
| Mit diesem Briefe vereinige ich endlich noch die Absicht dem | |||||||
| Ueberbringer desselben HE. Studiosus Fromm, eine, von ihm so sehr | |||||||
| gewünschte Gelegenheit zu geben, Sie theuerster Herr Professor persönlich | |||||||
| kennen zu lernen. Dieser junge Mann, der sich durch gute | |||||||
| Sitten, durch Fähigkeiten und Fleiß sehr auszeichnet ist der Sohn unseres | |||||||
| hiesigen Justitz Bürgermeisters,. Sein Vater ist ein Mann von sehr | |||||||
| rechtschafner Denkungsart, der mir seit meinem Hierseyn, viele Beweise | |||||||
| seiner Freundschaft gegeben hat. Er hat seinen Sohn 2 Iahre in | |||||||
| Frankfurt studieren lassen, wo sein Bruder Professor ist. Ietzt aber | |||||||
| will er ihn von seinen wenigen Einkünften noch einige Iahre in | |||||||
| Koenigsberg zu unterhalten suchen, um ihm vorzüglich den Unterricht | |||||||
| des Herrn Professor benuzen zu lassen. | |||||||
| Ietzt theuerster Herr Professor empfehle ich mich Ihrer fortdauernden | |||||||
| Gewogenheit und verbleibe mit der vollkommensten Hochachtung | |||||||
| Ihr | |||||||
| ganz ergebenster Diener | |||||||
| R. B. Jachmann. | |||||||
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