Kant: Briefwechsel, Brief 642, An König Friedrich Wilhelm II.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An König Friedrich Wilhelm II.      
           
  Nach d. 12. Oct. 1794.      
  I. Kant, Der Streit der Facultäten. Königsberg 1798. S. XII-XXIII.      
           
  [Entwurf.]      
           
  Ew. Königl: Majestät allerhöchster mir den 12. Oct. c. gewordener      
  Befehl legt es mir zur devotesten Pflicht auf: erstlich wegen des      
  Mißbrauchs meiner Philosophie zur Entstellung und Herabwürdigung      
  mancher Haupt= und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums,      
  namentlich in meinem Buche: "Religion innerhalb der Grenzen      
  der bloßen Vernunft," desgleichen in andern kleinernAbhandlungen,      
  und der hierdurch auf mich fallenden Schuld der Übertretung meiner      
  Pflicht als Lehrer der Iugend und gegen die allerhöchsten mir sehr      
  wohl bekannten landesväterlichen Absichten, eine gewissenhafte Verantwortung      
  beizubringen; zweitens nichts dergleichen künftighin mir zu      
  Schulden kommen zu lassen. In Ansehung beider Stücke hoffe ich      
  hiermit in tiefster Unterthänigkeit Ew. Königl. Majestät von meinem      
  bisher bewiesenen und fernerhin zu beweisenden devoten Gehorsam      
  hinreichende Überzeugungsgründe zu Füßen zu legen.      
           
  Was das Erste, nämlich die gegen mich erhobene Anklage eines      
  Mißbrauchs meiner Philosophie durch Abwürdigung des Christenthums      
  betrifft, so ist meine gewissenhafte Verantwortung folgende:      
           
  1. Daß ich mir als Lehrer der Iugend, mithin in akademischen      
  Vorlesungen dergleichen nie habe zu Schulden kommen lassen, welches      
           
  außer dem Zeugniß meiner Zuhörer, worauf ich mich berufe, auch die      
  Beschaffenheit derselben als reiner blos philosophischer Unterweisung      
  nach A. G. Baumgarten's Handbüchern, in denen der Titel vom      
  Christenthum gar nicht vorkommt, noch vorkommen kann, hinreichend      
  beweist. Daß ich in der vorliegenden Wissenschaft die Grenzen einer      
  philosophischen Religionsuntersuchung überschritten habe, ist ein Vorwurf,      
  der mir am wenigsten wird gemacht werden können.      
           
  2. Daß ich auch nicht als Schriftsteller z. B. im Buche "Die      
  Religion innerhalb der Grenzen u.s.w." gegen die allerhöchsten mir      
  bekannten landesväterlichen Absichten mich vergangen habe; denn da      
  diese auf die Landesreligion gerichtet sind, so müßte ich in dieser      
  meiner Schrift als Volkslehrer haben auftreten wollen, wozu dieses      
  Buch, nebst den andern kleinen Abhandlungen gar nicht geeignet ist.      
  Sie sind nur als Verhandlungen zwischen Facultätsgelehrten des      
  theologischen und philosophischen Fachs geschrieben, um zu bestimmen,      
  auf welche Art Religion überhaupt mit aller Lauterkeit und Kraft an      
  die Herzen der Menschen zu bringen sey; eine Lehre, wovon das Volk      
  keine Notiz nimmt, und welche allererst die Sanction der Regierung      
  bedarf, um Schul= und Kirchenlehrer danach zu instruiren, zu welchen      
  Vorschlägen aber Gelehrten Freiheit zu erlauben, der Weisheit und      
  Autorität der Landesherrschaft um so weniger zuwieder ist, da dieser      
  ihr eigener Religionsglaube von ihr nicht ausgedacht ist, sondern sie      
  ihn selbst nur auf jenem Wege hat bekommen konnen, und also vielmehr      
  die Prüfung und Berichtigung desselben von der Facultät mit      
  Recht fordern kann, ohne ihnen einen solchen eben vorzuschreiben.      
           
  3. Daß ich in dem genannten Buche mir keine Herabwürdigung      
  des Christenthums habe können zu Schulden kommen lassen, weil darin      
  gar keine Würdigung irgend einer vorhandenen Offenbarungs=, sondern      
  blos der Vernunftreligion beabsichtigt worden, deren Priorität als      
  oberste Bedingung aller wahren Religion, ihre Vollständigkeit und      
  praktische Absicht (nämlich das, was uns zu thun obliegt), obgleich      
  auch ihre Unvollständigkeit in theoretischer Hinsicht (woher das Böse      
  entspringe, wie aus diesem der Übergang zum Guten, oder wie die      
  Gewißheit, daß wir darin sind, möglich sey u. dgl.), mithin das Bedürfniß      
  einer Offenbarungslehre nicht verhehlt wird, und die Vernunftreligion      
  auf diese überhaupt, unbestimmt welche es sey (wo das      
  Christenthum nur zum Beispiel als bloße Idee einer denkbaren Offenbarung      
           
  angeführt wird), bezogen wird, weil, sage ich dieser Werth der      
  Vernunftreligion deutlich zu machen Pflicht war. Es hätte meinem      
  Ankläger obgelegen, einen Fall anzuführen, wo ich mich durch Abwürdigung      
  des Christenthums vergangen habe, entweder die Annahme      
  desselben als Offenbarung zu bestreiten, oder diese auch als unnöthig      
  zu erklären; denn daß diese Offenbarungslehre in Ansehung des praktischen      
  Gebrauchs (als welcher das Wesentliche aller Religion ausmacht)      
  nach den Grundsätzen des reinen Vernunftglaubens müsse ausgelegt      
  und öffentlich ans Herz gelegt werden, nehme ich für keine Abwürdigung,      
  sondern vielmehr für Anerkennung ihres moralisch fruchtbaren      
  Gehalts an, der durch die vermeinte innere vorzügliche Wichtigkeit      
  blos theoretischer Glaubenssätze verunstaltet werden würde.      
           
  4. Daß ich vielmehr eine wahre Hochachtung für das Christenthum      
  bewiesen habe durch die Erklärung die Bibel als das beste vorhandene      
  zu Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig moralischen      
  Landesreligion auf unabsehliche Zeiten taugliche Leitmittel der öffentlichen      
  Religionsunterweisung anzupreisen, und daher in dieser sich selbst      
  auf blos theoretische Glaubenslehren keine Angriffe und Einwürfe zu      
  erlauben (obgleich die letzteren vor den Facultäten erlaubt seyn müssen);      
  sondern auf ihren heiligen praktischen Inhalt zu dringen, der bei allem      
  Wechsel der theoretischen Glaubens=Meinungen, welcher in Ansehung      
  der bloßen Offenbarungslehren wegen ihrer Zufälligkeit nicht ausbleiben      
  wird, das Innere und Wesentliche der Religion immer erhalten und      
  das manche Zeit hindurch, wie in den dunkeln Iahrhunderten des      
  Pfaffenthums, entartete Christenthum in seiner Reinigkeit immer wieder      
  herstellen kann.      
           
  5. Daß endlich so wie ich allerwärts auf Gewissenhaftigkeit der      
  Bekenner eines Offenbarungsglaubens, nämlich nicht mehr davon vorzugeben,      
  als sie wirklich wissen, oder andern dasjenige zu glauben      
  aufzudringen, was sie doch selbst nicht mit völliger Gewißheit zu erkennen      
  sich bewußt sind, gedrungen habe, ich auch an mir selbst das      
  Gewissen, gleichsam als den göttlichen Richter in mir bei Abfassung      
  meiner die Religion betreffenden Schriften nie aus den Augen verloren      
  habe, vielmehr jeden, ich will nicht sagen seelenverderblichen Irrthum,      
  sondern auch nur mir etwa anstößigen Ausdruck, durch freiwilligen      
  Widerruf nicht würde gesäumt haben zu tilgen, vornehmlich      
  in meinem 71sten Lebensjahre, wo der Gedanke sich vonselbst aufdringt,      
           
  daß es wohl seyn könne, ich müsse dereinst einem herzenskundigen      
  Weltrichter davon Rechenschaft ablegen; daher ich diese meine Verantwortung      
  jetzt vor der höchsten Landesherrschaft mit voller Gewissenhaftigkeit      
  als mein unveränderliches freimüthiges Bekenntniß beizubringen      
  kein Bedenken trage.      
           
  6. Was den zweiten Punkt betrifft, mir keine dergleichen      
  (angeschuldigte) Entstellung und Herabwürdigung des Christenthums      
  künftighin zu Schulden kommen zu lassen, so finde ich, um als Ew.      
  Majestät treuer Unterthan darüber in keinen Verdacht zu gerathen,      
  das Sicherste, daß ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge in      
  Sachen der Religion, es sey der natürlichen oder der geoffenbarten,      
  in Vorlesungen sowohl als in Schriften völlig enthalte und mich hiemit      
  dazu verbinde.      
           
  Ich ersterbe in devotestem Gehorsam      
           
  Ew. Königl. Majestät      
           
  allerunterthänigster Knecht      
           
           
           
     

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