Kant: Briefwechsel, Brief 636, Von Friedrich August Nitsch. |
|||||||
|
|
|
|
||||
| Von Friedrich August Nitsch. | |||||||
| London, den 25ten Jul. 94 | |||||||
| Wohlgeborner Herr, | |||||||
| Hochgeehrtester Herr Professor! | |||||||
| Ich bin so glücklich eine gute Gelegenheit ausgefunden zu haben, | |||||||
| die mich in den Stand jetzt an meine Freunde und Wohlthäter in | |||||||
| Königsberg zu schreiben, ohne den kostbaren Weg der Post von London | |||||||
| aus einschlagen zu dürfen. Und da ich nun eine solche gute Gelegenheit | |||||||
| habe; so würde ich es mir nie verzeihen können, wenn ich sie | |||||||
| vorbey gehen ließe, ohne an Dieselben zu schreiben. Dieselben sind | |||||||
| mein Lehrer gewesen, haben mir einen freuen Zutritt zu Dero Vorlesungen | |||||||
| gegeben, haben meinem Kopf aufgehellt, haben meine Grundsätze | |||||||
| und mein Herz verbessert und veredelt, haben mich empfohlen und | |||||||
| das nicht allein in Königsberg, sondern auch in Berlin. Ich habe | |||||||
| alle diese Puncte häufig überdacht, und finde, daß, wenn ich etwas | |||||||
| Gutes an mir habe, wenn meine Einsichten in Sachen der Pflicht | |||||||
| richtig sind, wenn ich jetzt, auf dem vorher wüsten und trostlosen Felde | |||||||
| der speckulativen Vernunft, mit Sicherheit gehen und andere mit | |||||||
| Sicherheit durchführen kan, und wenn ich etwas Gutes in der Welt | |||||||
| gestiftet habe, oder stiften werde, ich es lediglich Dero Unterricht, Beyspiel | |||||||
| und so wohlthätigen Gesinnungen gegen mich zu verdanken habe. | |||||||
| Ich habe alles dieses bedacht, und sollte nicht schreiben? - sollte nicht | |||||||
| einige Merkmale der Dankbarkeit blicken lassen und zwar gegen einen | |||||||
| Mann, den Iahrtausende ehren werden und ehren müssen, und der | |||||||
| mein Lehrer, mein Freund und mein Wohlthäter war. Gott, ich wäre | |||||||
| ein Bösewicht im Fall ich so etwas unterlassen könnte; ich wäre ein | |||||||
| gedankenloser Mensch, wenn ich mich nicht täglich darüber freuen sollte, | |||||||
| und wäre so gefühllos wie die Feder mit der ich schreibe, wenn nicht | |||||||
| Trähnen des innigsten Dankes in meinen Augen die Achtung und | |||||||
| Liebe bezeugten, welche einem so großen Manne einer so großen Freundschaft, | |||||||
| und einer so großen Theilnahme an mein Glück gebührt. | |||||||
| Es ist jetzt über ein Iahr, das ich in London mit einem nicht | |||||||
| eben sehr günstigen Schicksal kämpfen mußte. Dies ist der Grund, | |||||||
| warum ich nicht schrieb. Ich konnte nicht schreiben, weil die Post für | |||||||
| mich zu kostbar war und sich kein anderer Weg, als die Post, ausmitteln | |||||||
| ließ. | |||||||
| Was den Zustand der Philosophie in England betrift, so ist er, | |||||||
| wenn man den mathematischen und empirischen Theil derselben ausnimt, | |||||||
| herzlich schlecht, und kan wirklich nicht schlechter seyn. Ich habe | |||||||
| sehr viele Freunde und Bekannte in der hiesigen Königl. Gesellsch[aft] | |||||||
| der Wissenschaften, und lese die beliebtesten philosophischen Schriftsteller | |||||||
| im Englischen, aber muß gestehen, daß ich gewöhnlich den dogmatischen | |||||||
| Scepticism, den Materialism, den Idealism und andere entgegengesetzte | |||||||
| Systeme in einem einzigen zusammen gestoppelt gefunden habe, und | |||||||
| daß diese glückliche Vereinigung auch hier als ein großer Vorzug des | |||||||
| gesunden Menschen Verstandes vor dem speculativen angepriesen wird. | |||||||
| Die Widersprüche in den practischen Grundsätzen, und das Mißtrauen | |||||||
| gegen die Entscheidungen der Vernunft scheinen hier aufs höchste gestiegen | |||||||
| zu seyn, und wären die Engländer nicht durch Vergnügungen | |||||||
| und Noth an einander gecknüpft, ich bin völlig überzeugt, daß sie sich | |||||||
| alle ermorden würden, wenn sie ohne Furcht nach ihren Grundsätzen | |||||||
| handeln dürften; so verkehrt und wiedersprechend sind diese Grundsätze, | |||||||
| ob sie gleich alle empirisch den Willen bestimmen. Ich habe die Ehre | |||||||
| der erste zu seyn, der in London über die Kantische Philosophie Vorlesungen | |||||||
| gehalten, und werde vielleicht der erste seyn, der nach Reinhold | |||||||
| eine Einleitung über dieses merkwürdige System im Englischen | |||||||
| schreiben wird. Ich sage aber nichts weiter, als daß ich völlig überzeugt | |||||||
| bin, daß keiner so etwas unternehmen muß, der sich nicht vollig | |||||||
| der Sache gewach[sen] fühlt. Es muß gut seyn oder lieber gar nichts. | |||||||
| Meine Vorlesungen hatten großen und unerwarteten Beyfall. Man | |||||||
| kennt bis jetzt nicht einmahl den Titel Ihrer unsterblichen Werke, | |||||||
| vielweniger den Inhalt. Im Fall Dieselben es mir erlauben; so | |||||||
| könnte ich künftig Denenselben einige weitere Nachrichten von dem | |||||||
| Fortgange meines wichtigen und ehrenvollen Unternehmens mittheilen. | |||||||
| Ich habe die Ehre mit der tiefsten Hochachtung Verehrung und Dankbarkeit | |||||||
| zu verharren | |||||||
| Ew. Wohlgebornen | |||||||
| ganz gehorsamst erge | |||||||
| benster Diener | |||||||
| Fr. Aug. Nitsch. | |||||||
| Im Fall Dieselben etwas in London zu bestellen haben, so würde | |||||||
| es mir ein unendliches Vergnügen machen eine solche Bestellung von | |||||||
| Denselben zu erhalten. Meine Mutter wird Dero Schreiben mit dem | |||||||
| grösten Vergnügen durch Gelegenheit nach London besorgen. Meine | |||||||
| Addresse ist: Mr Nitsch N ° 88. St. Martins-Lane. Charing-cross. London. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 517 ] [ Brief 635 ] [ Brief 637 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
|||||||