Kant: Briefwechsel, Brief 630, Von Iacob Sigismund Beck. |
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| Von Iacob Sigismund Beck. | |||||||
| 17. Iuni 1794. | |||||||
| Hochachtungswürdiger Lehrer, | |||||||
| Die Versäumung meines Druckers macht es, daß der zweyte Band | |||||||
| von meinem Auszuge erst zur Michälis Messe fertig werden wird. | |||||||
| Die Anfangsgründe zur Metaphysick der Natur habe ich mir sehr | |||||||
| deutlich aufgewickelt. Mein letzter Brief an Sie, konnte Ihnen vieleicht | |||||||
| eine schlimme Vermuthung in Ansehung meiner Bearbeitung beygebracht | |||||||
| haben. Denn da ich mir das, warum ich Sie fragte, selbst nicht | |||||||
| deutlich dachte, so kam es, daß ich auch ganz unverständlich fragen | |||||||
| mußte. Im ganzen Ernst, ich habe mich in Ihre Entwickelung sehr | |||||||
| genau hineinstudirt, und ich meyne daß Sie so urtheilen werden, wenn | |||||||
| Sie mein Buch ansehen werden. | |||||||
| Schätzungswürdiger Mann, ich bin auf die Idee zu einer Schrift | |||||||
| gestoßen, die ich Ihnen hier ganz kurz vorlegen, und dabey bitten will, | |||||||
| Ihre wahre Meynung deshalb meinem Verleger zu sagen. | |||||||
| Sie führen Ihren Leser in Ihrer Critick der reinen Vernunft, | |||||||
| allmählig, zu dem höchsten Punct der Transcendentalphilosophie, nämlich | |||||||
| zu der synthetischen Einheit. Sie leiten nämlich seine Aufmerksamkeit, | |||||||
| zuerst auf das Bewußtseyn eines Gegebenen, machen ihn nun auf | |||||||
| Begriffe, wodurch etwas gedacht wird, aufmerksam, stellen die Categorien | |||||||
| anfänglich auch als Begriffe, in der gewöhnlichen Bedeutung vor, und | |||||||
| bringen zuletzt Ihren Leser zu der Einsicht, daß diese Categorie eigentlich | |||||||
| die Handlung des Verstandes ist, dadurch er sich ursprünglich | |||||||
| den Begriff von einem Object macht, und das: ich denke ein Object, | |||||||
| erzeugt. Diese Erzeugung der synthetischen Einheit des Bewußtseyns | |||||||
| habe ich mich gewöhnt, die ursprüngliche Beylegung zu nennen. | |||||||
| Sie ist die Handlung, unter andern, die der Geometer postulirt, | |||||||
| wenn er seine Geometrie von dem Satze anfängt: sich den Raum vorzustellen, | |||||||
| und welcher er mit keiner einzigen discursiven Vorstellung | |||||||
| gleich kommen würde. So wie ich die Sache ansehe, so ist auch das | |||||||
| Postulat: durch ursprüngliche Beylegung sich ein Object vorstellen, das | |||||||
| höchste Princip der gesammten Philosophie, auf welchem die allgemeine | |||||||
| r[eine] Logik und die ganze Transc: Philosophie beruht. Ich bin daher | |||||||
| fest überzeugt, daß diese synthetische Einheit, derjenige Standpunct ist, | |||||||
| aus welchem, wenn man sich einmahl seiner bemächtigt hat, man nicht | |||||||
| allein in Ansehung dessen, was wohl ein analytisches und synthetisches | |||||||
| Urtheil ist, sondern was wohl überhaupt, a priori und a posteriori | |||||||
| heissen mag, was das sagen wolle, wenn die Critick die Möglichkeit | |||||||
| der geometrischen Axiome darin setzt, daß die Anschauung die man | |||||||
| ihnen unterlegt rein sey, was das wohl ist, was uns afficirt, ob das | |||||||
| Ding an sich, oder ob damit nur eine transsc: Idee gemeynt sey, oder | |||||||
| ob es nicht das Object der empirischen Anschauung selbst, die Erscheinung | |||||||
| sey, und ob wohl die Critick im Cirkel gehe, wenn sie die Möglichkeit | |||||||
| der Erfahrung zum Princip der synthetischen Urtheile a priori mache, | |||||||
| und doch das Princip der Causalität in den Begriff dieser Möglichkeit | |||||||
| verstecke, ich sage, daß man von alle diesem, ja von dem discursiven | |||||||
| Begriff: Möglichkeit der Erfahrung selbst, allererst dann, vollendete | |||||||
| Erkundigung erhalten kann, wenn man sich dieses Standpuncts vollkommen | |||||||
| bemeistert hat, und daß, solange man diese Möglichkeit der | |||||||
| Erfahrung nur noch immer selbst bloß discursiv denkt, und nicht die ursprünglich | |||||||
| beylegende Handlung, eben in einer solchen Beylegung selbst | |||||||
| verfolgt, man so viel wie nichts einsieht, sondern wohl eine Unbegreiflichkeit | |||||||
| in die Stelle einer andern schiebt. Ihre Critick aber führt, | |||||||
| wie ich sage, nur nach und nach, ihren Leser auf diesen Standpunct | |||||||
| und da konnte nach dieser Methode, sie gleich anfänglich, als in der | |||||||
| Einleitung, die Sache nicht vollkommen aufhellen, und die Schwierigkeiten | |||||||
| die dabey sich aufdecken, sollten den nachdenkenden Mann zum | |||||||
| beharrlichen Ausdauern locken. Weil aber die wenigsten Leser sich | |||||||
| jenes höchsten Standpuncts zu bemächtigen wissen, so werfen sie die | |||||||
| Schwierigkeit auf den Vortrag, und bedenken nicht, daß sie der Sache | |||||||
| anklebe, die sich gewiß verliehren würde, wenn sie einmahl im Stande | |||||||
| wären, die Forderung zu überdenken, die synthetische Einheit des Bewußtseyns | |||||||
| hervorzubringen. Ein Beweis aber, daß die Freunde der Critik doch | |||||||
| auch nicht recht wissen, woran sie sind, ist schon das, daß sie nicht recht | |||||||
| wissen, wohin sie den Gegenstand setzen sollen, welcher die Empfindung | |||||||
| hervorbringt. | |||||||
| Ich habe mir daher vorgenommen, diese Sache, wahrlich doch die | |||||||
| Hauptsache der ganzen Critik, recht zu betreiben, und arbeite an einem | |||||||
| Aufsatz, worin ich die Methode der Critick umwende. Ich fange von | |||||||
| dem Postulat der ursprünglichen Beylegung an, stelle diese Handlung | |||||||
| in den Categorien dar, suche meinen Leser in die Handlung selbst zu | |||||||
| versetzen, in welcher sich diese Beylegung an dem Stoffe der Zeitvorstellung | |||||||
| ursprünglich offenbart - Wenn ich nun so glaube meinen | |||||||
| Leser gänzlich auf die Stelle gesetzt zu haben, auf der ich ihn haben | |||||||
| will, so führe ich ihn zur Beurtheilung der Critik d. r. V. in ihrer | |||||||
| Einleitung, Aesthetik und Analytik. Sodann will ich ihn die vorzüglichsten | |||||||
| Einwürfe, beurtheilen lassen, insbesondere die des Verfassers | |||||||
| des Aenesidemus. | |||||||
| Was urtheilen Sie wohl davon? Ihr Alter drükt Sie, und ich | |||||||
| will Sie gar nicht bitten, mir hierauf zu antworten, obwohl ich gestehen | |||||||
| muß, daß Ihre Briefe mir die kostbarsten Geschenke sind. Aber | |||||||
| darum bitte ich Sie, daß Sie die Freundschaft für mich haben wollen, | |||||||
| Ihre wahre Meynung darüber meinem Verleger zu sagen. Denn er | |||||||
| wird sich darnach bestimmen. Es versteht sich aber wohl von selbst, | |||||||
| daß ich nichts Anders wollen kann, als daß Sie ihm gerade heraussagen, | |||||||
| was Sie von diesem Project halten, ob eine solche Schrift, von | |||||||
| mir bearbeitet, für das Publicum nützlich ausfallen dürfte. | |||||||
| Auch seyn Sie so gütig, mich zu entschuldigen, wenn ich etwas | |||||||
| zu behauptend Ihnen scheinen möchte. Ich muß diesen Brief auf der | |||||||
| Post dem Hartknoch nachschicken, und die Post will abgehen, daher ich | |||||||
| etwas flüchtig schreiben mußte. Behalten Sie Ihre Gewogenheit für | |||||||
| Ihren | |||||||
| Halle | Sie verehrenden | ||||||
| den 17ten Iuny 1794. | Beck. | ||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 508 ] [ Brief 629 ] [ Brief 631 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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