Kant: Briefwechsel, Brief 619, Von Christoph Friedrich Ammon.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Christoph Friedrich Ammon.      
           
  8. März 1794.      
           
  Wolgeborner Herr,      
  Hochzuverehrender Herr Professor.      
           
  Der sel. Döderlein in Iena fieng kurze Zeit vor seinem Tode ein      
  Theologisches Iournal an, das ich mit anderen Gottesgelehrten fortzusetzen      
  veranlaßt wurde. In den ersten Stücken dieser Zeitschrift findet      
  sich ein Auszug der vortrefflichen Schrift Euer Wolgeborn, die Religion      
  i. d. G. d. V., wo ich meine große Freude zu erkennen gab, daß mein      
  Lieblingsgedanke über historischen und allgemeinen Sinn der heiligen      
  Bücher durch Ihre Aüsserungen, verehrungswürdigster Lehrer - denn      
  das sind Sie mir durch Ihre Schriften in reichem Maaße geworden      
  bestätiget würden. Zu derselben Zeit traten Eichhorn, Gabler, Rosenmüller      
  gegen diese moralische Schriftauslegung mit großem Eifer auf.      
  Sie behaupteten, daß dieser moral. Sinn kein anderer sei, als der      
  längst verlachte allegorische der Kirchenväter, besonders des Origenes;      
  daß bei dieser Art der Exegese alle dogmatische Sicherheit verloren      
  gehe (woran sie wohl nicht ganz Unrecht haben mogten); und da      
  eine neue Barbarei den Beschluß dieser Interpretation machen werde.      
           
  In der Ueberzeugung, daß sich alle diese Gährungen unter der      
  Macht der Wahrheit zulezt von selbst verlieren werden, hielt ich mich      
  in der Anzeige einer der neuesten Schriften hierüber, die ich beizulegen      
  mir die Ehre gebe, an die Sache selbst. Urtheilen Sie selbst, verehrungswürdigster      
  Lehrer, ob ich den Grundsaz der moralischen Schriftauslegung      
  gehörig gefaßt habe? oder ob ich Ihrer Schrift einen      
  falschen Sinn unterlege, und ob der mir von einem Gegner gemachte      
  Vorwurf einer blinden Kantiolatrie gegründet ist?      
           
  Ich weiß es nur zu sehr, wie kostbar ieder Ihrer Augenblicke      
  für die Wissenschaften und für die Nachwelt ist; aber dennoch habe      
           
  ich Muth genug, von der Herzensgüte eines Weisen, dessen Tage die      
  Vorsicht zum Segen für die Wahrheit fristen wird, eine, sei es auch      
  nur kurze, Antwort zu hoffen.      
           
  Mit der vollkommensten, freiesten Ehrerbietung      
           
    Euer Wolgeborn      
  Erlangen innigster Verehrer,      
  am 8. März C. F. Ammon,      
  1794. D. u. Prof. der Theologie.      
           
           
           
     

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