Kant: Briefwechsel, Öffentliche Erklärung 5, Erklärung in der litterarischen Fehde mit Schlettwein.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Erklärung in der litterarischen Fehde mit Schlettwein.      
  1. Iohann August Schlettwein an Kant.      
  2. Kant's Erklärung.      
  3. Schlettweins zweiter Brief an Kant.      
           
         
  Von Iohann August Schlettwein.      
  Eine litterarische Herausforderung.      
           
  Greifswalde, d. 11. Mai 1797.      
           
  Ich schreibe Ihnen, berühmter Mann! weil mich der feurigste Drang meines      
  Herzens dazu auffordert. Ich habe Ihre Kritik der reinen Vernunft, und      
  alle übrige größere und kleinere philosophische Werke die Sie der Welt seit der Erscheinung      
  der ersteren geschenkt haben, mit der anhaltendsten Aufmerksamkeit gelesen,      
  und zu wiederhohlten Malen gelesen, und über den ganzen Inhalt derselben ernstlich      
  und tief nachgedacht. Ich bekenne Ihnen aber frei, mein Theurer! daß Sie      
  dadurch noch zur Zeit weder meinen Geist noch mein Herz haben anziehen können,      
  um in Ihrer Gesellschaft den Fußsteig den Sie betreten haben, nach Ihrem Wunsche      
  zur Heeresstraße machen zu helfen. Ich will Ihnen mit redlicher Offenheit Alles      
  darüber sagen, was der Mensch dem Menschen sagen, und der Mensch vom Menschen      
  gern anhören soll, wenn Einer wie der Andere die Menschheit achtet, und wenn      
  Einer gegen den Andern von wahrer Bruderliebe glühet.      
           
  Erstlich sind Ihre Schriften allzuvoll von den stolzesten Anmaßungen einer      
  Superiorität Ihrer Denkkraft über die Denkkräfte der größten Menschen aller Zeitalter;      
  und oft machen Sie Sich schuldig der auffallendsten Ungerechtigkeiten und      
  der unverzeihlichsten lieblosesten Geringschätzung und Verhöhnung würdiger Männer      
  unserer Zeit. Sie werden, wenn Sie eine redliche ernstliche Prüfung Ihrer Selbst      
  als wahrer Philosoph anstellen wollen, unmöglich läugnen können, daß eine unbegränzte      
  Selbstsucht, ein fast unermeßliches Wohlgefallen an Ihrer persönlichen Eigenheit      
  durchaus Ihre Feder geführt hat. Dies aber, mein lieber Kant! ist gerade      
  der Charakter, der mein Herz in Absicht meiner Brüder welche ihn an sich tragen,      
  tief betrübt, weil ich völlig überzeugt bin daß der unendliche Urheber aller unserer      
  Talente und Fähigkeiten, von dessen Dasein ich die unwankelbarste Gewißheit habe,      
  durch nichts mehr entehrt wird als durch solche eitle egoistische Gesinnungen seiner      
  Menschen. Die wahre Weisheit erfordert nur reine Einfalt des Herzens, und      
  siehet Stolz und Eitelkeit als ihre feindseligsten Widersacher. Zuverlässig verwickelt      
  der Mensch, so groß auch die Kräfte seines Geistes immer sein mögen, sich      
  in Grübeleien Grillen und Irrthümer, wenn er seine Werke mit solch' einem eitlen      
  Stolze, mit solch, einer pralerischen Selbstgefälligkeit und mit solcher Arroganz zu      
           
  treiben beginnt, wie Sie es mein armer bedaurenswürdiger Kant! wirklich gethan      
  haben.      
           
  Warum sagten Sie das was Sie für wahr und für wichtig hielten, nicht      
  mit edler Simplizität, ohne so oft Sich Selbst zu erheben, und die Fähigkeiten und      
  Bemühungen anderer Denker herunter zu setzen, und gleichsam ganz für Nichts zu      
  erklären? Warum sprachen Sie - Wahrheit hat ja so etwas nicht nöthig - warum      
  sprachen Sie so viel von Ihrer Selbstheit in dem dezisiven Tone eines Allwissenden,      
  wenigstens alle Ihre Brüder weit übersehenden Diktators? Sie waren fähig      
  eine Philosophie nach Ihrem eigenen Plane zu entwerfen, oder ein System der      
  Philosophie als Ihr eigenes Fabrikat anzukündigen; Sie hatten auch ein Recht      
  dazu. Aber Sie hatten nicht die Fähigkeit einer Infallibilität, auch nicht das Recht      
  sich solche zuzueignen. - Nicht einmal das sollten Sie sich eingebildet haben,      
  oder noch einbilden, mein lieber Kant! daß Ihre Fähigkeiten ein System der Philosophie      
  auf Ihre eigene Art zu fabriziren, größer wäre als die Fähigkeiten aller      
  Ihrer Vorgänger gewesen sind das Gleiche zu thun. Sie konnten also wohl Ihre      
  kritische Philosophie als eine solche ankündigen, vor welcher noch kein philosophisches      
  System auf diese Art wie das Ihrige, fabrizirt worden sei. Sie konnten      
  auch laut sagen daß nach Ihrer Vorstellungsart, und nach dem ganzen Inbegrif      
  des dermaligen Gebietes Ihrer Vorstellungen, alle vorherige Fabrikate eines      
  philosophischen Systems nicht die erforderliche Vollkommenheit hätten. Allein Sie      
  wußten doch nicht und wissen noch nicht gewiß, und dürfen es auch nicht mit Gewißheit      
  sagen, daß Ihre Vorstellungsweise an Vollkommenheit die Vorstellungsweise      
  aller derer übertreffe die philosophische Systeme vor Ihnen entworfen haben,      
  und daß das Gebiet der Vorstellungen Ihrer Vorgänger kleiner gewesen sei als      
  das dermalige der Ihrigen, und daß also Sie ein besseres und richtigeres      
  philosophisches System fabrizirt haben müßten als Ihre Vorgänger.      
           
  Dies war und bleibt also die unverzeihlichste Arroganz: daß Ihr Fabrikat      
  der Philosophie - ich bediene mich dieser Worte Fabrikat und Fabriziren,      
  die mir für das Feld der Wissenschaften sonst sehr mißfällig sind, bloß um Ihnen,      
  der Sie diese Sprache zu Ihrer eigenen gemacht haben, recht verständlich zu sein      
  - mit der dezisiven Behauptung angekündiget wurde, es habe vor demselben noch      
  gar keine Philosophie gegeben. Die Vernunft läßt es nicht zu daß der welcher      
  eine Wissenschaft, es sei Theologie, Iurisprudenz, Arzeneiwissenschaft, oder sonst      
  eine, nach seinem eigenen Plan entwirft, und als sein eignes Fabrikat ankündigt,      
  mit entscheidender Gewißheit sagen könne, es habe vor diesem seinen Fabrikat noch      
  gar keine solche Wissenschaft, keine Theologie, keine Rechtswissenschaft, keine Arzeneiwissenschaft      
  u.s.w. gegeben. Nur dies darf er der Vernunft zu Folge sagen, es      
  sei vor ihm die Wissenschaft die er behandelt, noch nie nach einem solchen Plane      
  als der seinige sei, bearbeitet und fabrizirt worden; ob aber sein Plan und seine      
  Fabrikazionsweise besser sei als alle Plane und Fabrikazionsarten seiner Vorgänger,      
  und ob er dadurch die Wissenschaft allererst zur wahren Wissenschaft erhoben habe:      
  das habe er zwar gewünscht zu bewirken, allein er müsse und wolle es der strengen      
  Prüfung heimgestellt sein lassen ob seine Vorstellungsweise die allgemein richtige      
           
  für die Menschen sei, oder ob auch in ihr Mängel und Irrthümer sich finden lassen      
  wie er in der Vorstellungsweise seiner Vorgänger nach seinem dermaligen Gedanken,      
  kreise glaube gefunden zu haben. Ihr Stolz, mein Kant! übertrift in Wahrheit      
  Alles was bisher Gelehrtenstolz hieß.      
           
  Zweitens kann ich es nach meinem Gefühl schlechterdings nicht mit der      
  wahren Rechtschaffenheit zusammen reimen, daß Sie mein Lieber! bei dem bis zum      
  wirklichen Skandal ausgebrochenen und immer weiter um sich greifenden Streite      
  der nach Ihnen sich so nennenden kritischen Philosophen über den Sinn und Geist      
  Ihrer Schriften, nicht öffentlich hervortreten, und bestimmt heraussagen welcher von      
  diesen Schriftstellern Ihren Sinn wirklich getroffen hat und welcher nicht. ob Reinhold,      
  ob Fichte, ob Beck, oder wer sonst es ist. Ich halte es für die strengste      
  Pflicht der Rechtschaffenheit, für die unnachläßlichste Pflicht die das höchste Vernunftgesetz      
  im ganzen Geisterreiche, die reine Liebe, vorschreibt, daß Sie dies      
  schon längst hätten thun sollen, ehe es mit der ärgerlichen Anarchie unter denen      
  die sich von Ihrem Namen Kantianer nennen so weit kam als es gekommen ist,      
  und daß Sie es wenigstens nun noch ohne Verzug thun, da Beck so große Schwierigkeiten      
  in den Geist Ihrer Kritik einzudringen aufstellt, Reinholden weitläuftig      
  widerlegt, und sich des einzig möglichen Standpunktes die Kritik der reinen Vernunft      
  zu verstehn bemeistert zu haben vorgiebt. Die Männer die sich so über den      
  Sinn und Geist Ihrer Schriften zanken, verderben mit diesem unnützen Kriege die      
  edle Zeit, die sie zu bessern Zwecken und zu gemeinnützigen Geschäften für das      
  wahre Wohl unserer Mitmenschen anwenden könnten, und sollten. Sie erwecken      
  und nähren gehässige Gesinnungen wider einander selbst, entehren die Menschheit,      
  und machen sich des Namens wahrer Philosophen unwürdig. Daran aber sind      
  Sie mein Kant! allein Schuld; und Sie vergrößern Ihre Schuld von Tag zu Tage      
  mehr, wenn Sie nicht frei heraus bekannt machen welcher von den Streitern Ihre      
  Schriften, wenigstens die Hauptpunkte, wirklich versteht wie Sie solche verstanden      
  wissen wollen. Thun Sie es nicht, so führen Sie in Ihrer kritischen      
  Philosophie einen neuen Thurm zu Babel auf, an welchem der unendliche Weltrichter      
  nicht nur die Sprache sondern auch den Geist Ihrer Mitarbeiter zum Wehe      
  der menschlichen Gesellschaft - welch' eine Verantwortung für Sie!! - noch gänzlich      
  verwirren und der wahren Weisheit unfähig machen wird, wie es leider! der      
  Anfang bereits zeigt.      
           
  Drittens kann man eben daraus, daß es Ihnen bisher nicht möglich war      
  durch Ihre kritische Schriften Ihre Anhänger und Mitarbeiter in der Art wie die      
  gemeinschaftliche Absicht der kritischen Philosophie erreicht werden sollte, einhellig      
  zu machen, nach Ihrem eigenen im Anfange der Vorrede zur zweiten Ausgabe      
  der Kritik der reinen Vernunft geäußerten Urtheile, immer überzeugt sein:      
  daß Ihr kritisches Studium bei weitem noch nicht den sichern Gang einer Wissenschaft      
  eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei.      
           
  Diese drei Ursachen wären schon hinlänglich gewesen, mir alles Vertrauen      
  auf Ihre kritische Arbeiten zu benehmen, und mir Abneigung zu machen in Ihrer      
  Gesellschaft, mein Kant! den Weg der Wahrheit zu suchen und zu durchwandern.      
           
  Allein ich glaube      
           
  Viertens im Stande zu sein Ihr ganzes philosophisches System, so weit      
  es Ihr eignes ist, beides den theoretischen und praktischen Theilen nach, völlig umzustürzen,      
  weil die ersten Gründe desselbigen unhaltbar sind, auch nach meinem      
  inneren Gefühl von Ihnen Selbst niemal so diktatorisch würden behauptet worden      
  sein, wenn Sie Sich nicht hätten durch Ihre allenthalben so deutlich sich offenbarende      
  allzueitle Absichten bei Ihren philosophischen Arbeiten, und durch die daraus      
  entstandene unmäßige Vorliebe für Ihre eigenen Begriffe, und die aus dieser      
  Vorliebe entsprungene Vernachläßigung der nöthigen Aufmerksamkeit auf die Wirkungen      
  des menschlichen Geistes, täuschen lassen.      
           
  Ich wünschte nun allerdings recht sehr, mein werthester, mein brüderlichgeliebter      
  Kant! daß Sie Selbst Sich dazu bequemen mögten, wie Sie es thun zu      
  wollen Sich vormal in den Prolegomenen zur Metaphysik erklärten mit mir in      
  philosophische Verhandlungen über meine ausführliche Prüfung Ihrer Kritik der      
  reinen Vernunft einzugehn. Wenn Sie es aber, wie es aus der Vorrede zur zweiten      
  Auflage Ihrer Kritik zu ersehen, oder doch zu vermuthen ist, nicht so wollen, so      
  sagen Sie mir, welchen von Ihren Schülern oder Anhängern Sie für den halten      
  der Ihre Stelle in Absicht auf die Vertheidigung Ihres Systems am vollkommensten      
  vertreten kann, damit ich mich an diesen wende. Meine Briefe an Sie, über den      
  Nutzen den Sie der Welt von Ihrer kritischen Philosophie verheißen, über die Einleitung      
  Ihrer Kritik der reinen Vernunft, über Ihre Aesthetik, und über einen großen      
  Theil der transszendentalen Logik, liegen nun fertig da um an Sie abgesandt werden      
  zu können. Aber ich mögte dies nur erst alsdann thun, wenn Sie mir vorher die      
  Versicherung geben, selbst, oder durch Ihren vertrautesten Freund und Schüler,      
  von welchem Sie mit Gewißheit bestimmt sagen können daß er Ihr System sich      
  ganz zu eigen gemacht habe, so viel wenigstens den Zentralpunkt desselben betrift,      
  mir eine Antwort zu ertheilen, und mit mir die wichtigen philosophischen      
  Materien soweit zu behandeln, bis wir einander, entweder Sie mir, oder ich Ihnen,      
  vollkommen beizustimmen genöthigt sein werden. Ich gebe Ihnen das heiligste      
  Versprechen immer nur streng bei der Sache zu bleiben, nichts Fremdes einzumischen,      
  mit reiner Simplizität durchaus zu Werke zu gehen, keinem spöttelnden      
  Witz über Sie oder über Ihre Behauptungen Raum zu lassen, und vom Anfange      
  bis ans Ende die durch die Gerechtigkeit selbst gebotene Bescheidenheit und Achtung      
  gegen Sie zu beobachten. Mir liegt Alles daran die Wahrheit zu erkennen, und      
  unter meinen Mitmenschen auszubreiten. Wenn Sie nun, mein lieber Kant! von      
  der ächten Liebe zur Wahrheit ebenfalls belebt sind, wie ich herzlich wünsche, und      
  solches von Ihnen so gern glauben mögte; so habe ich das völlige Vertrauen zu Ihrem      
  und zu meinem Eifer, zu Ihren und zu meinen Kräften, daß wir durch unsre gegenseitige      
  Verhandlungen für die wahre Philosophie die wichtigsten Dienste leisten werden.      
           
  Wenn Sie meine Einwürfe wider Ihr System gründlich auflösen, und mich      
  von Ihren Begriffen und Behauptungen überzeugen sollten, so werde ich der redlichste      
  Mitarbeiter in dem Felde Ihrer kritischen Philosophie werden. Ich lege      
  nächstens mein sechsundsechzigstes Iahr zurück; und beinahe funfzig Iahre hindurch,      
           
  auch selbst neben und in den öffentlichen Geschäften die mir meine Aemter auflegten,      
  habe ich meinen Geist mit der Philosophie emsig und mit Anstrengung beschäftiget.      
  Sie werden also auf den angenommenen Fall zuverlässig einen weit stärkern und      
  glücklicheren Vertheidiger und Ausbreiter Ihres Systems haben, als Sie izt an so      
  vielen aufbrausenden Iünglingen und jugendlichen Männern haben, die als sich so      
  nennende Kantianer zwar mit stolzer Unbescheidenheit auch den größten Geistern      
  Hohn sprechen, gleichwohl aber, wie ihre Schriften nur allzudeutlich zeigen, im      
  Selbstdenken gar zu wenig geübt sind, und mit jugendlicher Dreistigkeit und      
  Selbstgenügsamkeit das was sie ihrem Lehrer blos nachbeten, für eigne Geistesprodukte      
  aufstellen, und, da sie aus Mangel des Selbstdenkens in den Geist ihres      
  Führers nicht tief genug eindringen können, mit einander selbst die entehrendsten      
  Streitigkeiten führen, und sich und die Welt verwirren.      
           
  Wenn aber auf der andern Seite ich Sie von der Unrichtigkeit Ihrer kritischen      
  Philosophie überführen werde, so werden Sie, wie ich es von Ihnen hoffe, zum      
  Besten der Menschen widerrufen was Sie bisher schrieben; und dagegen werden      
  Sie noch vor Ihrem wahrscheinlich nicht mehr fernen Abschiede aus dieser Welt      
  den schmalen Weg zu der wahren festen Philosophie selbst betreten, und solange      
  Sie noch leben, breiter machen helfen. Die wahre Philosophie bildet die unwidersprechlichste      
  Theorie von der Realität einer unendlichen Allkraft, von den produktiven      
  Kräften der Natur, und von den bewunderungswürdigen und erhabenen Eigenschaften      
  und Fähigkeiten des physischen und des geistigen Menschen; und in ihrem      
  praktischen Theile will sie nicht durch einen lieblosen despotischen kategorischen Imperativ,      
  der selbst dem Wesen der Vernunft ganz zuwider ist, sondern durch die      
  sanften allmächtigen Seile der allbelebenden Liebe, die Menschen - nicht einem      
  bloßen Ideal des höchsten Guten, sondern dem realsten Wesen aller Wesen, Gotte,      
  immer näher bringen. Diese Philosophie, mein lieber alter Bruder Kant! wird      
  die vielen unruhigen Wünsche Begierden und Strebungen Ihrer unmäßigen Selbstsucht      
  stillen, und Ihnen einen inneren unaussprechlichen himmlischen Frieden verschaffen;      
  welches Ihre, in so vielen Bagatellen und Nichtswürdigkeiten sich herumtreibende      
  Philosophie nie vermag.      
           
  Hier schließe ich nun meinen Brief, lieber Kant! Ich schrieb ihn als Ihr      
  redlicher Mitmensch und Bruder, weil es mich innigst schmerzte, Sie auf einem      
  Wege wandeln zu sehen der zu Ihrer eigenen Seele und zu so vieler Menschen      
  Verderben führt. Gott verzeihe es jenen niedrigen und unwürdigen Schmeichlern,      
  die bisher sich nicht schämten aus Unverstand Sie der Welt zum Abgott aufzustellen,      
  und dadurch Ihre arme allzueigensüchtige Seele aufs höchste zu reizen, sich      
  Ihrer Selbstheit ganz zu überheben! Ich bitte Sie um eine baldige meinen Wünschen      
  entsprechende Antwort, und bleibe stets Ihr aufrichtiger Bruder, und in Hinsicht      
  auf Ihre Talente und Thätigkeit      
           
    Ihr      
    wahrer Verehrer      
    Iohann August Schlettwein.      
           
           
           
         
  Erklärung.      
           
  29. Mai 1797.      
           
  In einem Briefe dd. Greifswalde den 11ten May 1797, der      
  sich durch seinen seltsamen Ton sonderbar ausnimmt, und gelegentlich      
  dem Publikum mitgetheilt werden soll, muthet mir Hr. Iohann Aug.      
  Schlettwein zu, mich mit Ihm in einen Briefwechsel über die kritische      
  Philosophie einzulassen; zu welchem Behuf schon verschiedene Briefe      
  über mancherley Punkte derselben bey Ihm fertig lägen, wobey er denn      
  zugleich erklärt: "er glaube im Stande zu seyn, mein ganzes philosophisches      
  System, so weit es mein eigenes ist, beides den theoretischen      
  und practischen Theilen nach, völlig umzustürtzen" welchen Versuch gemacht      
  zu sehen jedem Freunde der Philosophie lieb und angenehm seyn      
  wird. Was aber die Art dieses auszuführen betrifft, nämlich durch      
  einen mit mir darüber anzustellenden Briefwechsel (schriftlich oder      
  gedruckt), so muß ich Ihm darauf kurz antworten: hieraus wird      
  nichts. Denn es ist ungereimt etwas, was Iahre lang fortgehen muß,      
  um mit Einwürfen und Beantwortungen nur erträglich fortzurücken,      
  einem Manne in seinem 74 sten Iahre (wo das sarcinas colligere      
  wohl das Angelegenste ist) anzusinnen. - - Die Ursache aber, warum      
  ich diese Erklärung (die ich ihm schon schriftlich gethan habe) hier      
  öffentlich thue, ist: weil, da der Brief quaest. deutlich auf Publicität      
  angelegt ist, und daher jener Anschlag mündlich verbreitet werden dürfte,      
  diejenigen, welche ein solcher Streit interessirt, sonst mit leeren Erwartungen      
  hingehalten werden würden. Da indessen Hr. Schlettwein      
  seinen Vorsatz des Umstürzens, mithin auch des Sturmlaufens, wahrscheinlich      
  in Masse (wie er sich denn auf Alliirte zu verlassen scheint)      
  vermuthlich dieser Schwierigkeit wegen nicht aufgeben wird, und ihm,      
  nach dieser meiner Erklärung, an meiner Person ein Hauptgegner abgeht:      
  so frägt er mit weiser Vorsicht an: "welcher unter den Streitern      
  wohl meine Schriften, wenigstens die Hauptpunkte derselben,      
  wirklich versteht, wie ich solche verstanden wissen will" - Ich antworte      
  darauf unbedenklich: es ist der würdige Hofprediger und ordentliche      
  Professor der Mathematik allhier, Hr. Schulz; dessen Schriften      
  über das kritische System, unter dem Titel: Prüfung etc. Hr. Schlettwein      
  hierüber nur nachzusehen hat.      
           
  Nur bedinge ich mir hierbey aus, anzunehmen: daß ich seine (des      
  Hn. Hofpredigers) Worte nach dem Buchstaben, nicht nach einem      
           
  vorgeblich darin liegenden Geist (da man in dasselbe hineintragen kann      
  was einem gefällt), brauche. Was Andere mit eben denselben Ausdrücken      
  für Begriffe zu verbinden gut gefunden haben mögen, das geht      
  mich und den gelehrten Mann, auf den ich compromittire, nichts an;      
  den Sinn aber, den dieser damit verbindet, kann man aus dem Gebrauch      
  desselben im Zusammenhange des Buchs nicht verfehlen. - Und      
  nun mag die Fehde, bey der es dem Angreifenden an Gegnern nicht      
  fehlen kann, immer angehen.      
           
  Königsberg d. 29 sten May 1797.      
           
  I. Kant.      
           
           
         
  Von Iohann August Schlettwein.      
  Zweiter Brief.      
           
  Greifswalde, d. 4 Iunius 1797.      
           
  Ich danke Ihnen, mein lieber Kant! für Ihr Antwortschreiben vom 19 ten      
  vorigen Monats aufs verbindlichste. Theils haben Sie in demselben meinen Wunsch      
  erfüllt, mir zu sagen daß Sie den Hrn. Hofprediger Schulz unter den Ihnen anhänglichen      
  Schriftstellern für den Mann halten der Sie am besten versteht:      
  welches ich so annehme, wie meine Bitte enthielt, daß der benannte Gelehrte den      
  wahren Geist und Sinn Ihrer Philosophie sich ganz zu eigen gemacht habe;      
  theils haben Sie dadurch mich noch näher mit Ihrem Charakter und Ihrer Denkungsart      
  bekannt gemacht.      
           
  Von Herzen bedaure ich, daß Ihr Geist nicht verstehen und Ihr Herz nicht      
  fühlen konnte, wie ein Mensch aus wahrer inniger Gottesliebe seinem Mitmenschen      
  und Bruder, der durch seine Schriften die Welt erleuchten und bessern      
  will, solches aber in Seinselbsterhebung und in Herabwürdigung seiner Mitbrüder      
  thut, und überdies unter seinen Anhängern bittre Zänkereien über den Geist seiner      
  Schriften veranlaßt, ihn umarmend und an sein Herz drückend, sagen kann und soll:      
           
  Siehe, mein Bruder! Dein Benehmen gegen unsre Mitmenschen drückt      
  Stolz, Aufgeblasenheit, Arroganz, und Geringschätzung gegen unsre Mitbrüder      
  aus. Vermeide es doch Dich so zu zeigen, weil Wahrheit und Liebe damit      
  nicht bestehen. Auch ist es der Rechtschaffenheit nicht gemäß, mein Lieber,      
  daß Du unter unsern Mitbrüdern Disharmonieen und ärgerliche Zänkereien      
  über den wahren Sinn und Geist Deiner Schriften stiftest, und nicht      
  sogleich bestimmt heraussagst welches der richtige Sinn und der wahre Geist      
  Deines Systems ist. Wahrhaftig, mein lieber Bruder! Du darfst nicht warten      
  bis man dich öffentlich darum befragt; die Rechtschaffenheit macht es Dir      
  zur Pflicht daß Du, um die Entzweiungen und Feindseligkeiten, die Du bloß      
  durch Deine Schriften unter unsern Mitbrüdern veranlasset oder erregt hast      
           
           
  bei ihrem ersten Ausbruch zu dämpfen und alle weitre Vergrößerung und      
  Verbreitung derselben zu hindern, unaufgefordert sagest welcher von Ihnen      
  Deinen Sinn recht gefaßt hat, und welcher nicht.      
           
  So spricht gewiß der liebevolle Mensch mit seinem Mitmenschen; und dieser,      
  wenn er gut und pflichtachtend ist, schöpft aus der offenen Sprache der redlichen      
  Bruderliebe so wenig einen Verdacht des Meuchelmordes, *) daß er vielmehr seinem      
  Bruder für dessen aufrichtige schuldige Ermahnung herzlich dankt, und sich zu      
  bessern sucht.      
           
  Daß Sie aber, mein lieber Kant, Sich mit mir weder in einen Privat= noch      
  öffentlichen Briefwechsel über Ihre Kritik der r. V. und über Ihre ganze Philosophie      
  einlassen wollen: das ist mir außerordentlich leid. Ich nahm es stets für      
  Ihre ernstliche redliche Gesinnung an, wenn Sie in Ihren Schriften mehrmal      
  wünschten daß Ihre Sätze von Grund aus untersucht werden mögten, und wenn      
  Sie den Vorschlag thaten Ihr Gebäude der Vernunftkritik nicht etwa nur in einem      
  oder dem andern Punkte, sondern von seiner ganzen Grundlage an Stück      
  vor Stück zu prüfen, um dadurch ein festes philosophisches Lehrgebäude, es sei      
  das Ihrige oder ein anderes, zum wahren Besten der Welt zu Stande zu bringen.      
  Nie war es meine Meinung, mit Ihnen einen Kampfplatz zu betreten, oder einen      
  Prozeß zu führen. Kämpfen und Prozessiren sind meine Sache nicht, wo es auf      
  Belehren oder belehrt werden, auf Nachdenken, Erforschen, Untersuchen, Prüfen,      
  Zweifel mittheilen und Zweifel lösen, ankommt. Auch mag ich zu diesen Absichten      
  meine jüngern Mitbrüder zum Kämpfen weder reizen noch ermuntern. Ich wollte      
  nur mit Ihnen, mein Wehrter, oder mit Ihrem besten Schüler oder Anhänger      
  über Ihr philosophisches System friedliche und der Menschheit würdige Verhandlungen      
  anstellen; ich wollte dies für die Wahrheit, die sich nicht auf Kampfplätzen      
  sondern nur in dem stillen ihr geheiligten Tempel der Liebe und des Friedens      
  finden läßt.      
           
  Ich werde also nächstens an den Hrn. Hofprediger Schulz schreiben, ihm      
  meine Gesinnung in Ansehung einer ausführlichen und gründlichen Prüfung Ihres      
  Systems mittheilen, und mir dagegen die Eröfnung der seinigen ausbitten. Um      
  die Wahrheiten die Sie selbst für so außerordentlich wichtig halten, weiter aufzuklären,      
  und wo möglich zu befestigen, oder ein anderes richtigers und unwankelbareres      
  System der Philosophie gründen zu helfen, wird der gelehrte Mann, wie      
           
  ich hoffe, nicht seine Neigung - denn die muß hier ganz schweigen - sondern      
  nur seine Pflichten von allen Seiten zu Rathe ziehn.      
           
  Leben Sie nun recht wohl, mein lieber Kant! und sein Sie versichert daß ich,      
  mit dem Wunsche: Ihnen mein ganzes Herz und aufrichtiges inneres Bestreben um      
  Wahrheit offen darlegen, und auf reelle Art Ihnen gefällig sein zu können, unveränderlich      
  verharre      
           
    Ihr      
    redlicher Bruder und Freund      
    Schlettwein.      
           
           
    *) Dies bezieht sich auf eine Stelle meiner Antwort an Prof. Schlettwein, vom 19 Mai 1797, die so lautet:      
    "Sie können es, sagen Sie, mit der wahren Rechtschaffenheit nicht reimen, daß ich nicht bestimmt heraussage, welcher unter den mir anhängigen Schriftstellern meinen Sinn wirklich getroffen hat. Die Ursache ist, weil mich noch Niemand darum öffentlich befragt hat. Aber daß Iemand einem Andern Mangel an Rechtschaffenheit vorrückt, und doch in einem Athem ihn mit "mein Lieber" anredet: das ist ein Bittersüß ( dulcamara , ein Giftkraut), welches wegen der Absicht auf Meuchelmord verdächtig macht."      
    I. Kant      
           
           
     

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