Kant: Briefwechsel, Brief 545, Von Iacob Sigismund Beck.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iacob Sigismund Beck.      
           
  Halle den 10ten November 1792.      
           
  Beßter Herr Professor,      
  Ich habe Ihren freundschaftlichen Brief vom 17ten October und      
  einige Tage späther auch mein Manuscript zurück erhalten. Sie erlauben      
  mir Ihnen die einige Bogen, worauf die Deduction der Categorien      
  steht, noch einmahl zu schicken. Ich habe sie abschreiben lassen      
  und lege sie hier bey, indem ich Sie ergebenst ersuche, die Freundschaft      
  für mich zu haben, mir zu zeigen, was ich vieleicht nicht nach Ihrem      
  Sinn getroffen haben möchte. Der Druck geht erst gegen Ende des      
  Novembers an und ich werde Ihren Brief noch zeitig genug erhalten,      
  wenn ich ihn nach vier Wochen erhalte.      
           
  Der Professor Garve war vor einiger Zeit hier und Herr Pr.      
  Eberhard hat mir einiges von seinen Gesprächen mit ihm, in Beziehung      
  auf die critische Philosophie mitgetheilt. Er sagt, daß so sehr      
  auch Garve die Critick vertheidigt, so habe er doch gestehen müssen, da      
  der critische Idealism und der Berkleysche gänzlich einerley seyn. Ich      
  kann mich in die Gedankenstimmung dieser achtungswürdigen Männer      
  nicht finden und bin fürwahr! vom Gegentheil versichert. Gesetzt auch      
  daß die Critick der Unterscheidung der Dinge an sich und der Erscheinungen      
  gar nicht hätte erwähnen dürfen, so hätte sie doch zum      
  mindesten errinnern müssen, daß man die Bedingungen unter denen      
  uns etwas ein Gegenstand ist, ja nicht aus der Acht zu lassen habe,      
  weil zu besorgen ist, daß man auf Irrthum gerathe, wenn man diese      
  Bedingungen aus dem Sinne läßt. Erscheinungen sind die Gegenstände      
  der Anschauung und jedermann meynt dieselbe, wenn er von      
  Gegenständen spricht, die ihn umgeben, und eben dieser Gegenstände      
  Daseyn leugnete Berkeley, welches die Critick gegen ihn dargethan hat.      
  Wenn man nun eingesehen hat, daß der Raum und die Zeit die Bedingungen      
  der Anschauung der Gegenstände sind und nun nachsinnt,      
  welches wohl die Bedingungen des Denkens der Gegenstände seyn      
  mögen, so sieht man doch leicht, daß die Dignität, welche die Vorstellungen,      
  in der Beziehung auf Objecte, erhalten, darin bestehe, da      
  dadurch die Verknüpfung des Mannigfaltigen als nothwendig gedacht      
           
  wird. Diese Gedankenbestimmung ist aber eben dieselbe, welche die      
  Function in einem Urtheil ist. Auf diesem Wege ist mir der Beytrag      
  den die Categorie zu unserm Erkenntniß thut, faßlich geworden, indem      
  durch diese Untersuchung es mir einleuchtet, daß sie derjenige Begrif      
  ist, durch welchen das Mannigfaltige einer sinnlichen Anschauung als      
  nothwendig (für jedermann gültig) verbunden vorgestellt wird. Einige      
  Epitomatoren haben sich hierüber, so viel ich einsehe, falsch ausgedruckt.      
  Diese sagen: urtheilen heiße objective Vorstellungen verbinden. Ganz      
  was Anderes ist es, wenn die Critick lehrt: urtheilen ist Vorstellungen      
  zur objectiven Einheit des Bewußtseyns bringen, wodurch die Handlung      
  einer als nothwendig vorgestellten Verknüpfung ausgedruckt wird.      
           
  Wenn ich von meiner Ueberzeugung darauf schliessen kann, da      
  ich in meinem Auszuge Ihren Sinn getroffen, dann müßte ich mich      
  beruhigen. An der Darstellung der Deduction der Categorien ist mir      
  vorzüglich gelegen, und eine Musterung derselben von Ihnen, lieber      
  Lehrer, würde mir die wünschenswertheste Sache seyn. Mitlerweile      
  werde ich mich noch selbst über die ganze Ausarbeitung hermachen,      
  um ein so vernünftiges Buch hervorzubringen, als ich es noch vermag.      
           
  Nun erlauben Sie mir noch meine neuliche physische Frage zu      
  berühren. Ich habe lange, noch ehe ich recht eigentlich die Critick      
  studirte, in meiner mathematischen Lectüre, den zwar gegebenen, aber      
  mir immer sehr unverständlich vorgekommenen Begrif von Masse, mit      
  dem des Wirksamen vertauscht. Euler giebt nun den bestimmten Begrif      
  von Masse, indem er sie vis inertiae nennt, qua corpus in statu      
  suo perseuerare, quam omni mutationi reluctari conatur , und      
  indem er eine verschiedene vis inertiae den Partickeln der Materie giebt,      
  scheint er die ungleichen Gewichte zweyer Körper von gleichem Volumen      
  zu erklären, ohne zu leeren Räumen flüchten zu dürfen. Dagegen      
  scheint es doch auch, daß alle Theile der Materie mit einer gleichen      
  quantitas inertiae versehen seyn, weil die Fallhöhen derselben, in      
  gleichen Zeiten im Widerstandsfreyen Raum gleich sind. Dann aber      
  ist man wohl genöthigt, zu den leeren poris seine Zuflucht zu nehmen      
  um die verschiedenen Gewichte gleicher Volumina sich zu erklären. Ich      
  habe mir auf folgende Art zu helfen gesucht. Man setze die anziehende      
  Kraft der Erde in einer bestimmten Gegend ihrer Oberfläche und gegen      
  ein bestimmtes Volumen, das ich durchweg von Materie erfüllt seyn      
  lasse, sey = a; die anziehenden Kräfte zweyer Körper, von einem      
           
  Volumen das dem vorigen gleich und durchweg erfüllt ist, gegen      
  die Erde seyn dx und dy, die ich als Differentiale ansehen kann, weil      
  ich sie im Verhältniß gegen a betrachte.*) Weil ich nun die wechselseitige      
  Anziehung dieser Körper gegen die Erde und die Erde gegen      
  sie, im Sinn habe, so kann ich die Kräfte addiren und sagen, daß die      
  Erde den einen Körper anziehe mit der Kraft a+dx, den andern mit      
  a+dy. Daraus aber folgt, daß die Fallhöhen beyder Körper im      
  Widerstandsfreyen Raum gleich seyn müssen, weil das Verhältniß von      
  a+dx : a+dy ein Verhältniß der Gleichheit ist. Aber an der Wage,      
  würde sich a gegen a aufheben und es würde das Verhältniß bleiben      
  wie dx : dy welches allerdings ein Verhältniß der Ungleichheit seyn      
  kann, wenn gleich a+dx: a+dy = 1 : 1. Sollte ich auf eine grobe      
  Art mich irren, so bitte ich Sie mir es schon nachzusehen.      
           
  Hartknoch hat mich durch den Buchdruker Grunert bitten lassen,      
  die Anzeige von meinem Buch in der Literaturzeitung zu besorgen.      
  Nun kann es weder ihm noch mir gleichgültig seyn, ob in dieser Anzeige      
  es erwehnt wird, daß Sie um diese Schrift wissen, da der Auszüge      
  aus der Critick unter vielerley Titeln so viele sind, daß auf eine      
  blosse Anzeige unter meinem Namen auch ganz und gar nicht geachtet      
  werden möchte. Es könnte der Fall seyn, daß Sie es mir erlauben      
  wollten, Ihren Namen in der Anzeige zu nennen. Wenn das ist,      
  dann ersuche ich Sie, so gütig zu seyn, mir die Worte anzugeben,      
  die auf Sie Beziehung haben sollen. Ich möchte dieser Schrift den      
  Titel geben: Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des      
  Herrn Pr. Kant und zum zweyten Bande desselben, den Auszug aus      
  der Critick der Urtheilskraft und eine erläuternde Darstellung der metaphysischen      
  Anfangsgründe der Naturwissenschaft bestimmen. Was meynen      
  Sie dazu?      
           
  Ich bin übrigens mit der größten Hochachtung und Liebe      
  der Ihrige      
           
  Beck.      
           
           
           
           
    *) Den Gedanken dieser Kräfte wird man woran knüpfen müssen. Ich knüpfe lhn an die Wege die in der Zeit 1 beschrieben werden.      
           
     

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