Kant: Briefwechsel, Brief 542, Von Iohann Benjamin Erhard.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Benjamin Erhard.      
           
  Nbg. d. 25 8br. 792.      
           
  den 14 Nou. erhalten.      
           
  Da Ihnen mein Freund Reinhold den 2ten Band seiner Briefe      
  d[urch] Nicolovius übersendet, so benutze ich diese Gelegenheit, auch) mich      
  Ihren Andenken zu erneuern; ich schmeichle mir zwar, noch nicht von      
  Ihnen vergessen zu seyn, aber ich habe doch davon kein andres Zeugniß,      
  als meine Liebe und Achtung gegen Sie. Mein Brief von Iena      
  aus wird Ihnen mit einen Gegenstand meiner Untersuchungen bekant      
  gemacht [haben] der sich so leicht nicht erschöpft und der es also noch ist,      
  aber ich wünschte sehnlich von Ihnen zu erfahren ob ich auf guten Wege      
  bin. Ihre Abhandlung über das radicale Böse hat mir zwar keine      
  Veranlassung gegeben daran zu zweifeln, aber ob ich die Ubereinstimmung,      
  oder vielmehr das Passen meiner Untersuchungen in das      
           
  Gebäude der Philosophie oder in Ihr System (welches mir Synonimen      
  sind) richtig beurtheilte, darüber wünschte ich freylich die Gewißheit,      
  die mir Ihr Auspruch gäbe. Viele sagen zwar das die Wahrheit      
  durch kein Ansehen gewinnen könne, aber so gewiß dieß von mathematischer      
  seyn mag, so gewiß ist diese Behauptung bey philosophischen      
  Wahrheiten Vernunftschwärmerey, denn diese können nicht durch eine      
  Construction, sondern nur durch die Harmonie mit allen Trieben der      
  Menschen bewiesen werden, und diese sind kaum in einen Menschen in      
  wahren Gleichgewicht vorhanden, hier gilt also das Fürwahrhalten      
  eines Menschen der an dieser Harmonie seiner Triebe arbeitete und sie      
  so viel als möglich in Einklang mit seiner Moralität brachte, für einen      
  wichtigen Theile eines Beweißes dafür. Wenn man die Wahrheit in      
  Demonstrationen aus Sätzen a priori oder die man dafür hält allein      
  sucht, so glaube ich und getraue es mir fast selbst, daß man gegen      
  alles disputiren kan, und daß man gegen die sichersten Principien      
  Sophismen vorbringen kan, die die speculirende Vernunft, als unwiderleglich      
  annehmen würde, wenn sie nicht durch das Interresse der totalen      
  Menschheit unaufhörlich aufgefordert würde, die Widerlegung zu suchen.      
  Dieß ganze Umfassen des Interesse des totalen Menschen, so weit ich      
  es fühlen kan machte mir Ihr System, zur Philosophie, für welche      
  ich keine Besorgniß habe daß sie je sollte in ihrem Wesentlichen widerlegt      
  werden, weil das moralische Gesez, der Vernunft, die Zerstörung      
  eines jeden Zweifels darüber, gebietet. Ich erwarte auch hierüber      
  Ihre Meinung, wofern Sie selbige nicht schon für das Publikum      
  bestimmt haben. Die Menschheit hat ein unendlich größers Recht auf      
  Ihre Bemühungen als ich, aber Sie zu achten und zu lieben ist mein      
  Recht gleich groß.      
           
    Ihr.      
    Ioh. Benj. Erhard.      
           
           
           
     

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