Kant: Briefwechsel, Brief 486, Von Salomon Maimon.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Salomon Maimon.      
           
  20. Sept. 1791.      
           
  Wohlgebohrer Herr,      
  Hochzuehrender Herr Professor!      
  Ich weis, wie ungerecht derjenige ist, der Ihnen das mindeste      
  von Ihrer, der Welt so schätzbaren Zeit raubet, weis, daß es für Sie      
  kein wichtigeres Geschäft geben kann, als Ihren so fest gegründeten      
  Werken die höchste Vollkommenheit zu geben; doch konnte ich nicht      
  umhin, dieses einzigemal Sie mit meinem Schreiben zu belästigen.      
           
  Ich habe mir seit einiger Zeit vorgenommen, außer Ihren Werken,      
  nichts mehr zu lesen. Von dem skeptischen Theil Ihrer Kritik bin ich      
  völlig überzeugt; der dogmatische kann auch hypothetisch angenommen      
  werden, und obschon ich durch eine psychologische Dedukzion die Kathegorien      
  und Ideen nicht dem Verstande und der Vernunft, sondern der      
  Einbildungskraft beilege; so kann ich doch, das erste zum wenigsten      
  problematisch zugeben; und auf diese Art kann ich mit der Kritik recht      
  gut fertig werden.      
           
  Da aber Herr Reinhold, (ein Mann den ich wegen seines ungemeinen      
  Scharfsinnes, nach Ihnen, am meisten schätze) in seinen Schriften      
  vorgiebt; nicht nur Ihrem Systeme die formelle Vollständigkeit      
  gegeben, sondern auch, das einzige allgemein gültige und allgemein      
  geltende ( si diis placet ) Prinzip, worauf dieses aufgeführt werden      
  kann, gefunden zu haben; so zog dieses meine ganze Aufmerksamkeit      
  auf sich. Nach genauer Untersuchung aber fand ich mich in meiner      
  Erwartung betrogen. Ich schätze ein jedes System nach seiner formellen      
  Vollständigkeit; kann es aber nur nach seiner objektiven      
  Realität gelten lassen, und nach dem Grade seiner Fruchtbarkeit      
  anpreisen.      
           
  Nun finde ich zwar Herrn Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens,      
  in Ansehung ihrer systematischen Form unverbesserlich.      
  Hingegen kann ich dieses so hoch gepriesene allgemeingültige und allgemeingeltende      
  Prinzip (den Satz des Bewußtseyns) keinesweges zugeben,      
  und noch viel weniger mir von seiner Fruchtbarkeit große Erwartungen      
  machen.      
           
           
  Ich läugne geradezu, daß in jedem Bewußseyn (auch einer Anschauung      
  und Empfindung wie sich Herr Reinhold darüber erklärt) die      
  Vorstellung durch das Subjekt, vom Subjekt und Objekt unterschieden,      
  und auf beide bezogen wird. Eine Anschauung wird meiner Meinung      
  nach, auf nichts außer sich selbst bezogen; und nur dadurch daß sie      
  mit andern Anschauungen in eine synthetische Einheit gebracht, wird      
  sie zur Vorstellung, und beziehet sich als Bestandtheil einer Synthesis      
  auf dieselbe, das heißt, auf ihr Objekt. Die bestimmte Synthesis,      
  worauf die Vorstellung bezogen wird, ist das vorgestellte Objekt;      
  eine jede unbestimmte Synthesis, worauf die Vorstellung bezogen      
  werden kann, ist der Begriff eines Objekts überhaupt. Wie kann      
  also Herr Reinhold, den Satz des Bewußtseyns für ein allgemeingültiges      
  Prinzip ausgeben? Da, wie ich gezeigt habe, er nur von      
  Bewußtseyn einer Vorstellung, das heißt, auf eine Synthesis als Bestandttheil      
  bezogener Anschauung gelten kann. Ia! sagt Herr Reinhold,      
  man ist sich freilich diese Beziehung der Anschauung auf das Subjekt      
  und Objekt nicht immer bewußt, sie ist dennoch immer in derselben      
  anzutreffen. Aber woher weis er dieses? Was in der Vorstellung      
  nicht vorgestellt wird, gehört nicht zur Vorstellung. Wie kann er also      
  dieses Prinzip als Faktum des Bewußtseyns für allgemeingeltend ausgeben?      
  Da es ein Anderer aus seinem eigenen Bewußtsein geradezu      
  läugnen kann. Daß man eine jede Anschauung auf irgend ein Substratum      
  beziehet, ist eine Täuschung der transcendenten Einbildungskraft      
  die, aus Gewohnheit, eine jede Anschauung als Vorstellung      
  auf ein reelles Objekt (eine Synthesis) zu beziehen, endlich      
  auf gar kein reelles Objekt, sondern auf eine an seiner Stelle untergeschobene      
  Idee beziehet.      
           
  Das Wort Vorstellung hat viel Unheil in der Philosophie gestiftet,      
  indem es manche veranlaßt hat, sich zu einer jeden Seelenmodifikation,      
  ein objektives Substratum hinzuzudichten. Leibnitz vergrößerte noch      
  das Unheil, durch seine Lehre, von den dunkeln Vorstellungen.      
  Ich muß gestehn daß es in der Antropologie keine wichtigere Lehre      
  geben kann. Aber in einer Kritik des Erkenntnißvermögens taugt sie      
  gewiß nichts. Die dunkeln Vorstellungen sind keine Modifikation der      
  Seele, (deren Wesen im Bewußtsein bestehet) sondern vielmehr des      
  Körpers. Leibnitz bedienet sich derselben, blos um die Lücken in der      
  Substantialität der Seele auszufüllen. Ich glaube aber nicht, da      
           
  irgend ein Selbstdenker, sich im Ernste einfallen lassen wird, dadurch      
  diese Lücken wircklich ausfüllen zu können. Die dunkeln Vorstellungen      
  sind blos die Brücken, worüber man von der Seele zum Körper, und      
  wiederum von diesem zu jener übergeht, (obschon Leibnitz gute Ursachen      
  gehabt hat, diesen Durchgang zu verwehren.)      
           
  Sogar mit Herrn Reinholds Erklärung der Philosophie kann ich nicht      
  zufrieden seyn. Er begreift unter Philosophie überhaupt was Sie mit      
  Recht unter dem besondern Nahmen Transcendentalphilosophie (die Lehre      
  von den Bedingungen der Erkenntniß eines reellen Objekts überhaupt.)      
           
  Ich wünsche hierüber, wie auch etwas über mein Wörterbuch (das      
  allem Anscheine nach entweder gar nicht, oder schlecht recensirt werden      
  wird) Ihre Meinung zu vernehmen. In Erwartung dieser verharre      
  ich, Ehrfurchtsvoll      
           
    Euer Wohlgebohren      
  Berlin den 20ten ganz ergebenster      
  September 1791. Salomon Maimon      
           
           
           
     

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