Kant: Briefwechsel, Brief 460, Von Christoph Friedrich Hellwag.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Christoph Friedrich Hellwag.      
           
  Eutin. d. 13 Decemb. 1790.      
           
  Wohlgebohrner      
  Hochzuverehrender Herr Professor!      
  Euer Wohlgebohren erlauben, daß ich mich unterstehe, Ihre kostbare      
  Musse durch mein Schreiben zu unterbrechen: ich glaubte in Ansehung      
  dessen, was ich vorzutragen habe, eine Nachlässigkeit mir vorwerfen      
  zu müssen, wenn ich nicht darüber an Sie schriebe, indem ich      
  hoffte, eine Sache, die Sie problematisch vorstellen, einer Enscheidung,      
  die Ihrem Sinne gemäß ist, näher gebracht zu haben. Es betrifft      
  die Vergleichung der Farben des Regenbogens mit den Tönen der      
  musicalischen Octave; ein Aufsatz von mir darüber ist in einem Stücke      
  des deutschen Museums vom October 1786 S. 293-297 abgedruckt;      
  und verschiedene lehrreiche Stellen, die sich auf eine solche Vergleichung      
  beziehen, fand ich neulich zu meinem Vergnügen in Ihrer Critik der      
  Urtheilskraft, womit Sie kürzlich so manchem ehrlichgesinnten Wahrheitsfreunde      
  von Neuem ein schätzbares Geschenk gemacht haben. Anstatt      
  eine Abschrift von meinem angeführten Aufsatze beyzufügen,      
  nehme ich mir die Freyheit, das Wesentliche daraus in einem kurzen      
  Auszuge in dem Briefe selbst, der freylich dadurch ausgedehnt wird,      
  anzuführen.      
           
  Schon Kircher stellte die Regenbogenfarben mit den Tönen der      
  Octave zusammen: Newton bestimmte sogar die Breite des Bildes von      
  jeder Farbe nach der Länge der Saite für den zustimmigen Ton;      
  endlich wollte Castell Farbenaccorde und Farbenmelodien auf einem      
  Farbenclaviere darstellen: aber die Versuche entsprachen der angenommenen      
  Erwartung nicht, weil die Vergleichung, worauf sie beruhten,      
  unrichtig war. Man kann Licht und Schall in vieler Rücksicht      
  miteinander vergleichen, wie Euler auch gethan hat: ihre beyderseitige      
           
  Erregung in einem elastischen Mittel, ihr Fortrücken, ihre Ausbreitung,      
  den Durchgang und die Zurückprallung ihrer Strahlen, und, in Ansehung      
  unseres Standpunctes, die Schätzung der Gegend, wo das Licht      
  und der Schall herkommen. Bey so mannichfaltiger Uebereinstimmung      
  ist es natürlich, unter den Erscheinungen des Lichts eine zu suchen,      
  die sich mit den Stufen der Tonleiter vergleichen liesse, und eine unter      
  den Erscheinungen des Schalls, die mit den Farben des Prisma übereinkäme,      
  und leicht verfällt man also darauf, also die Töne mit den      
  Farben zu vergleichen. Ich wage es die Richtigkeit dieser Vergleichung      
  zu bestreiten. Alles, was wir sehen, hat Farbe und eine Stelle im      
  Gesichtsfelde, und, was wir hören, specifiken Klang, und eine Stelle in      
  der Tonleiter. Farbe ist dem Auge, was specifiker Klang dem Ohre      
  ist, und die Stelle eines sichtbaren Punktes im Gesichtsfelde dem Auge,      
  was dem Ohre eine gegebene Stelle in der Tonleiter. Durch den      
  Sinn des Gesichts vergleicht und unterscheidet man die Farben nach      
  ihrer Mischung, durch den Sinn des Gehörs die Verschiedenheiten des      
  Klangs verschiedener und gleicher auf verschiedene Art gerührter Instrumente,      
  auch nach einer Art von Mischung, die bey den Stellen der      
  Tonleiter nicht Statt findet. Die Farben für das Gehör scheinen viel      
  mannichfaltiger zu seyn, als für das Gesicht. Letztere lassen sich alle      
  auf weiß, gelb, roth, blau und schwarz reduciren, aber die Elemente      
  für alle Arten von Klang sind vielleicht unerschöpflich: ein Beyspiel      
  davon ist die menschliche Sprache. Darinn sind die Vocalen insonderheit      
  merkwürdig, daß sie zu einem Systeme zu gehören scheinen,      
  welches sich als vollständig denken läßt. a und i, und u sind die      
  Hauptvocalen; e steht zwischen a und i, ä zwischen a und e, o zwischen      
  a und u, å zwischen a und o; ü zwischen u und i, ö zwischen o und e.      
  Bey dem Diphthongen ai werden mit einem Schwunge der Sprachwerkzeuge      
  alle mögliche von a nach i laufende Zwischenstufen in einer      
  stetigen Folge ausgesprochen; ebenso sind die übrigen Diphthongen      
  beschaffen; sie sind stetig von einer Stelle des stetigen Vocalensystems      
  zur andern übergehende Mischungen, ähnlich dem Farbenspiele der      
  Seifenblasen. Auf der andern Seite beruht das Hervorbringen und      
  Schätzen der Töne, der Accorde und der Melodien auf der Ausmessung      
  der Tonleiter, so wie die Verzeichnung von Puncten und Zügen, mit      
  ihren Proportionen und Gestalten auf der Ausmessung des Gesichtsfeldes,      
  und hierinn gewährt umgekehrt das Gesicht eine grössere Mannichfaltigkeit      
           
  als das Gehör, weil die Tonleiter nur eine Dimension, das      
  Gesichtsfeld hingegen zwey Dimensionen mit sich bringt, worinn überdie      
  der Spielraum der Standpunkte viel grösser ist, als bey der      
  Tonleiter; Bey den Stellen des Gesichtsfeldes sowohl als bey den      
  Stellen der Tonleiter wird nicht an Mischung gedacht.      
           
  So weit der Auszug: nun komme ich zu den Stellen aus Ihrer      
  Critik der Urtheilskraft: ich führe dieselbe nicht durchaus mit Ihren      
  Worten an, theils um kurz zu seyn, theils um eine Probe zu geben,      
  wie fern ich den Sinn derselben treffe. Sie sagen S. 209. Man kann      
  nicht mit Gewißheit sagen, ob eine Farbe, oder ein Ton (Klang) bloß      
  angenehme Empfindungen, oder an sich schon ein schönes Spiel von      
  Empfindungen seyn. - Für bloß angenehm möchte man Farben und      
  Töne halten, weil man von den Licht= und Luftbebungen nur die Wirkung      
  auf den Sinn vernimmt, die bloß empfunden wird, nicht aber      
  die Zeiteintheilung, die ein Gegenstand der Reflexion wäre; für bloß      
  schön hingegen, erstlich weil man sich die Proportion der Schwingungen      
  bey Tönen und auf ähnliche Weise die Farbenabstechung mathematisch      
  bestimmbar vorstellt; und zweytens, weil scharfsehende oft Farben verwechseln,      
  ebenso, wie scharfhörende auch Töne oft falsch angeben oder      
  schätzen können. Hierauf darf ich erwiedern: man kann bey dem besten      
  Gesichte ein schlechtes Augenmaß haben, und bey dem besten Gehöre      
  die Aussprache einer fremden Sprache falsch vernehmen, daß man nicht      
  im Stande ist, sie treffend nachzuahmen, aus Mangel an Fertigkeit,      
  nicht bloß der Sprachwerkzeuge, sondern des Gehörs; und was den      
  ersten Punct betrifft, so sind im Gesichtsfelde nicht allein Farbenmischungen,      
  sondern vornemlich die scheinbare Grössen darinn, und      
  vor dem Sinn des Gehörs nicht allein die Töne, sondern auch stufenweise      
  Mischungen von Klängen, wie in der angeführten Vocalenleiter,      
  einer mathematischen Bestimmung fähig; und auf diese Art sind sichtbare      
  und hörbare Qualitäten und Quantitäten, nemlich Farben, und Klänge,      
  scheinbare Grössen und Töne sowohl objectiv genau bestimmbar als      
  auch subjectiv einer möglichen fehlerhaften Schätzung unterworfen; und      
  es steht hier also nichts im Wege, warum Musik nicht ein schönes      
  Spiel angenehmer Empfindungen, und Farbenkunst nicht auch ein      
  schönes Spiel derselben heissen könnte. Daß Sie nicht abgeneigt      
  seyn werden, meine Vergleichungen der Farben und Töne zu billigen,      
  darf ich aus S. 19 schliessen, wo Sie sagen: - Dem einen ist die      
           
  violette Farbe lieblich, dem andern erstorben. Einer liebt den Ton      
  der Blasinstrumente, der andere den von Saiteninstrumenten. - Mit      
  dem Schönen ist es anders bewandt. - Das Gebäude, was wir sehen,      
  das Concert, was wir hören, ist schön, also nicht für einen, sondern      
  für alle. Hieher gehört auch, was Sie S. 39 erklären, wo Sie von      
  einem reinen Geschmacksurtheile allen Antheil eines Reitzes ausschliessen,      
  und dagegen wieder eine Instanz einwerfen, wornach der Reitz für      
  sich zur Schönheit hinreichend scheinen möchte. Die grüne Farbe des      
  Rasenplatzes, der blosse Ton einer Violin, zum Unterschiede von (gleichgültigem)      
  Schalle und Geräusche, wird von den meisten an sich für      
  schön erklärt, ob zwar beyde lediglich Empfindung zum Grunde zu      
  haben scheinen, und darum nur angenehm genannt zu werden verdienten.      
  Allein man wird sie doch nur sofern schön finden, als beyde      
  rein sind. Vollkommene Reinigkeit ist nemlich hier ausser den objectiv      
  genau bestimmbaren, aber subjectiv unzuverlässigen Graden der Reinigkeit      
  der einzige subjectiv sichere Grad, und hat dadurch denjenigen Character      
  der Schönheit, der auf subjectiv sichere Schätzung Anspruch macht.      
  Ihre Antwort, womit Sie die Einwendung abfertigen, beruht also      
  auch auf derselben von mir bemerkten Mischbarkeit, die den gemeinschaftlichen      
  Charakter der Farben und der Klänge ausmacht.      
           
  Hiemit beschliesse ich diese Untersuchung, und bitte zugleich um      
  Gedult für die Verlängerung des Schreibens über einige Stücke, die      
  ich gerne zugleich anbringen möchte.      
           
  Zu der Stelle S. 16 Ihres angeführten Werks, wo Sie von dem      
  Geschmacke alles Interesse absondern, kann ich Ihnen ein merkwürdiges      
  Beyspiel anführen, von einem ehmaligen hiesigen Küchenmeister,      
  ein Philosoph, der hiesige Herr Iustitzrath Trede, das Zeugniß giebt,      
  daß er über den Sinn des Geschmacks sehr richtig philosophirt habe;      
  derselbe Mann pflegte über gewisse kunstmäßige Tafelgerichte das Urtheil      
  zu fällen: sie schmecken gut, aber mir nicht angenehm.      
           
  Folgende Nachricht kann dem Herzen des Mannes der die Grundlegung      
  zu Metaphysik der Sitten und die Critik der practischen Vernunft      
  geschrieben hat, nicht gleichgültig seyn. Der hiesige Conrector      
  an der lateinischen Schule Herr Boie, ein Bruder des Herausgebers      
  vom deutschen Museum, und Schwager des hiesigen Rectors Herrn      
  Hofraths Voß, studirt Ihre Schriften, besonders die ebengenannten,      
  und nahm Gelegenheit von dem, was er Ihnen verdankt, in einer      
           
  Predigt über Ap. Gesch. 10, 34 Gebrauch zu machen: es war hier      
  nichts von der der Canzel unwürdigen ars oratoria, und doch machte      
  die Predigt auf mehrere, die nicht, wie ich, die Quelle davon kannten,      
  einen ungewöhnlichen Eindruck, und mir war es, als wenn ich eine      
  solche Predigt noch nie gehört hätte. Sie hatte aber auch den Character,      
  den sie nach der Note S. 33 Ihrer Grundlegung zur Metaph.      
  d. Sitten haben mußte.      
           
  Ich schätze mich glücklich, an Trede und Boie zwey Freunde zu      
  besitzen, mit denen ich mich über Ihre Schriften bisweilen unterhalten      
  kann.      
           
  Nun eine Beobachtung über synthetische und analytische Sätze:      
  nemlich solche Sätze, die sich umkehren lassen, werden aus synthetischen      
  zu analytischen und umgekehrt. Das Subject im synthetischen Satze      
  faßt zwey Begriffe in sich, deren Synthesis die Bedingung des Prädikäts      
  ist; nach dem Umkehren vertreten diese beyden Begriffe die      
  Stelle des Prädikats, und können als einzelne Prädikate dienen in      
  zweyen Sätzen, weil die Synthesis dem Prädikate nicht nothwendig      
  zukommt, ausser in Definitionen, wo das Definitum Subject ist. Wird      
  ein analytischer Satz umgekehrt, dessen Prädicat nicht beyde Begriffe,      
  die zusammengehören, enthält, so wird in dem Subjecte des umgekehrten      
  nunmehr synthetischen Satzes der fehlende Begriff durch einen      
  Beysatz bemerkt, wie durch x die unbekannte Grösse in der Buchstabenrechnung.      
  Zum Beyspiel: alle physische Körper sind schwer; ist ein      
  synthetischer Satz: die Synthesis von physisch und Körper ist Bedingung      
  des Prädicats: schwer; denn nicht alles physische ist schwer, ein Regenbogen      
  ist physisch; nicht alle Körper in der weitern Bedeutung sind      
  schwer, der geometrische Körper ist auch ein Körper. Durch Umkehrung      
  ergeben sich hieraus zwey von einander unabhängige analytische      
  Sätze: alles Schwere ist ein physischer Körper; nemlich alles Schwere      
  ist physisch; alles Schwere ist Körper. Kehrt man jeden Satz für sich      
  um, so bekömmt das Subject des umgekehrten nunmehr synthetischen      
  Satzes einen Zusatz: nemlich gewisse physische Dinge sind schwer; gewisse      
  Körper sind schwer. Ein anderes Beyspiel: alle Körper sind      
  ausgedehnt, ist ein analytischer Satz; dazu gehört noch einer: alle      
  Körper haben drey Dimensionen; daraus durch Umkehrung der vollständige      
  synthetische Satz: alles Ausgedehnte mit drey Dimensionen ist      
  Körper; die Verbindung der beyden Begriffe im Subjecte ist Bedingung      
           
  des Prädicats; denn nicht alles Ausgedehnte ist Körper; Flächen sind      
  auch ausgedehnt; nicht alle Grössen von drey Dimensionen sind Körper;      
  Cubiczahlen sind auch Grössen von drey Dimensionen, wenn man den      
  Begriff der Dimension nicht auf ausgedehnte Grössen einschränkt.      
  Wenn also in einem synthetischen Satze die synthetische Hinzufügung      
  des Prädicats zum Subjecte auf einer Verknüpfung von Begriffen im      
  Subjecte beruht, so darf ich hoffen, daß diese meine Bemerkung Ihrer      
  Erklärung vom synthetischen Satze gemäß sey.      
           
  Noch eine Frage möchte ich gerne vornehmen, wenn ich nicht beschwerlich      
  falle. Wie geht es zu, daß ein bewegter Körper seine Bewegung      
  fortsetzt, wofern ihn nichts daran hindert, und daß ein Körper      
  dem, was seinen Bewegungszustand zu verändern strebt, widersteht?      
  Ein Körper sey in einem abgesonderten leeren Raume ausser aller      
  Verbindung mit andern Körpern: er werde nun durch einen andern      
  ihm näher kommenden Körper, der mit andern Körpern ausser dem      
  leeren Raume in gehöriger Verbindung steht, fortgeschoben: ich kann      
  mir den Erfolg nicht anders vorstellen, als der isolirte Körper werde      
  dem forttreibenden Körper keinen mechanischen Widerstand leisten, und      
  so bald das Forttreiben aufhört, in Ruhe seyn. Denn, was durch      
  das Fortschieben verändert wird, ist nicht der isolirte Körper, auch      
  nicht der leere Raum, sondern das Ganze, das der geschobene Körper      
  mit dem umgebenden Leeren ausmacht: nun ist aber dieses Ganze      
  nichts Reales, weil ein Theil desselben, das Leere, nichts Reales ist.      
  Iede Wirkung setzt aber etwas Reales voraus, dem die Kraft zu      
  wirken zugeschrieben wird, also findet bey dem Mangel des Realen      
  keine Wirkung statt, nemlich der Körper und das umgebende Leere      
  können miteinander keine Bewegung unterhalten, und keiner bewegenden      
  Ursache widerstehen. Wenn also im freyen Raume ein Körper      
  seine Bewegung von selbst fortsetzt, und ohne offenbare sinnliche Ursache      
  dem, was seinen Bewegungszustand verändern will, widersteht,      
  so ist etwas Reales, mit dem er im Raume gemeinschaftlich beydes      
  bewirkt. Diese ungenannte reale Ursache aller freyen Bewegung und      
  alles mechanischen Widerstandes gegen bewegende Kräfte muß schlechterdings      
  durch den Spielraum aller möglichen Bewegungen stetig und      
  gleichmässig verbreitet, und jedem bewegten oder ruhenden Punkte jedes      
  realen stetigen Körpers gleich gegenwärtig seyn. Sie ist unbeweglich,      
  weil sie keiner Bewegung bedarf, um auf bewegliche Dinge zu wirken;      
           
  sie ist für alle bewegliche Dinge vollkommen durchdringlich, um allen      
  Punkten derselben gegenwärtig zu seyn; sie macht von den 4 Lehrsätzen      
  der Mechanik in Ihren metaphysischen Anfangsgründen der      
  Naturwissenschaft S. 108 116. 119. 121 den Hauptgrund aus; ihre      
  Vorstellung macht den mechanischen Begriff von der Quantität der      
  Bewegung möglich; sie thut bey aller unmittelbaren Einwirkung auf      
  jeden Punkt des Beweglichen, das heißt, bey ihrer Durchdringlichkeit,      
  der Quantität der Materie keinen Eintrag; ihre Wirkung wird durch      
  Ursachen ausser ihr und ausser dem bewegten Körper verändert; sie      
  erhält den Körper in seinem Zustande der Ruhe oder der Bewegung      
  (in seinem Bewegungszustande) in derselben Richtung, und mit derselben      
  Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine Ursache ausser ihm      
  und ausser ihr genöthigt wird, diesen Zustand zu verlassen; sie ist es,      
  die in aller Mittheilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung      
  einander gleich macht. Diese Betrachtungen hatte ich für mich schon      
  so weit vollendet, als mir neulich Lamberts Beyträge zum Gebrauche      
  der Mathematik und deren Anwendung in die Hände kamen, wo ich      
  das unerwartete Vergnügen hatte, einen neuern Philosophen zu finden,      
  dessen Spekulationen über die Trägheit der Körper mit meinen Gedanken      
  so sehr übereinstimmen. Die Hauptstelle darüber findet sich im      
  § 121 der Abhandlung von den Grundlehren des Gleichgewichts und      
  der Bewegung im zweyten Bande des angeführten Werks. Ich will      
  meinen langen Brief nicht mit Abschreibung dieser Stelle weiter ausdehnen,      
  da ich voraussetzen kann, daß Sie Gelegenheit haben, das      
  Buch selbst nachzulesen; ich führe nur an, daß mein freyer Raum      
  bey Lambert von aller Materie, aber nicht von immateriellen Substanzen      
  leer ist; und meine ungenannte Ursache der freyen Bewegung      
  und des Widerstandes freyer Massen heißt bey ihm ein Vehiculum      
  zur Fortsetzung der Bewegung, welche er durch eine fortgepflanzte      
  Undulation erklärt, vermittelst welcher die bewegte Materie fortgeführt      
  wird. Der Widerstand erfodert ihm ein Haften der Materie an dem      
  Orte, wo sie ist; und dieses Haften erklärt er sich auch durchsein sogenanntes      
  Vehiculum. Er läßt es § 125 unentschieden, ob dieses      
  Vehiculum nicht an verschiedenen Orten verschiedene Intensität habe.      
  Ausser Lambert ist mir von neuern Philosophen keiner vorgekommen,      
  der diese Idee verfolgt hätte. In Sturms Physica electiva T. 1.      
  werden hierüber verschiedene Meynungen zusammengestellt, und am      
           
  Ende, Seite 757, der Wille Gottes zur unmittelbaren Ursache des      
  Gesetzes der Bewegung und des Widerstandes freyer Körper angegeben.      
  Auch Mallebranche begnügt sich mit diesem Princip in      
  seinen Recherches de la Verite T. II. L. 6. C. 9. Hingegen Baco      
  von Verulam, der Erweiterer der Naturwissenschaft seines Zeitalters      
  eifert über die unbefriedigende Abfertigungen dieser Frage, besonders      
  von Aristoteles und dessen Schülern und Nachbetern: die Hauptstelle      
  hievon steht in seinem Werke Impetus philosophici ; im Abschnitte      
  cogitationes de nat. rer . VIII . de motu violento ; S. 722ff. Opp.      
  omn. ed. Arnoldi 1694. Seine Erklärung - fit continua & intentissima      
  ( licet minime visibilis ) partium trepidatio & commotio      
  finde ich übrigens auch nicht befriedigend. In Ihren schätzbaren      
  Schriften finde ich von meiner gegenwärtigen Frage keine ausdrückliche      
  Erörterung: Ihre Vergleichung des Plato mit einer Taube, die, um      
  freyer fliegen zu können, den Luftleeren Raum suchen möchte, (Crit:      
  der r. V. S. 9 d. 2 Ausg.) ließ es mich hoffen, sie noch zu entdecken.      
  Daß Sie mit Mallebranche und Sturm nicht einstimmen, wußte ich      
  gewiß, wenn Sie sich auch in der Crit. d. r. V. S. 801 gegen das      
  Princip der ratio ignava nicht erklärt hätten; und vermuthen darf ich      
  vielleicht, daß Sie mein allgemeines reales stetiges Medium, wodurch      
  ich die Bewegung und den Widerstand freyer Massen zu erklären suche,      
  nicht verwerflich finden werden. Sie wollen zwar die Benennung vis      
  inertiae abgeschaft wissen, (Anfgr. d. Nat. W. S. 132) aber ich habe      
  mich derselben enthalten, weil ich ihrer vollkommen entbehren kann,      
  und ihr die Schuld beymesse, warum ich glaube, daß man den Gegenstand      
  meiner Frage so stillschweigend übergeht; und Ihre gerechten      
  Vorwürfe gegen jenen Namen treffen, dünkt mich, meine Erklärung nicht.      
           
  Wo ich nicht irre, unterhielt ich mich einst in Göttingen mit dem      
  Herrn Prof. Krauß über diese Materie. Ich nehme hier gerne Gelegenheit,      
  von diesem würdigen Manne, der ohne Zweifel Ihr Freund      
  ist, zu bezeugen, daß sein für Kopf und Herz mir damals so interessanter      
  Umgang, dessen ich zeitlebens mich dankbar erinnern werde,      
  manche noch lange nachher wohlthätige Eindrücke bey mir hinterlassen      
  hat, und sein Andenken erregt oft den Wunsch in mir, um ihn seyn      
  zu dürfen. Darf ich so frey seyn, und bitten, meinen besten Gru      
  ihn wissen zu lassen? Er wird Ihnen sagen, daß ich ein Würtemberger      
  bin. Ich kam im Iahr 1782 nach Oldenburg bey Bremen zu      
           
  dem jetzigen Fürstbischoff zu Lübeck u. Herzog zu Oldenburg, der damals      
  Coadjutor war, als Leibarzt; ich heurathete daselbst im Iahr 1784;      
  und wurde im Iahr 1788 hieher nach Eutin versetzt, mit dem Character      
  als Hofrath und Leibarzt, indem nach Oldenburg der berühmte      
  Hr D. Marcard als Leibarzt berufen wurde. Diese Nachrichten können      
  vielleicht meinen ehmaligen Freund interessiren. Nun vergeben Sie      
  mir meinen langen Brief: ich würde mich unaussprechlich freuen, wenn      
  Sie mich mit einer auch noch so kurzen Antwort beehrten; aber ich      
  bescheide mich gerne, wenn es auch nicht geschieht, weil viel wichtigere      
  Dinge Anspruch auf Ihre Musse machen. Gott erhalte Ihr kostbares      
  Leben und Gesundheit noch lange: dieses ist der lebhafteste redlichste      
  Wunsch      
           
    Ihres      
    aufrichtigen Verehrers      
    Christoph Friederich Hellwag.      
    Med. & Philos. Dr.      
           
           
           
     

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