Kant: Briefwechsel, Brief 337, Von Andreas Richter. |
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| Von Andreas Richter. | |||||||
| Wien den 22 Octobre 788. | |||||||
| Mein Herr! | |||||||
| Ihre Kritik der reinen Vernunft sezt alle denkende Köpfe in das | |||||||
| Verhältniß an Sie zuschreiben - dasselbe trift mich um soviel mehr, | |||||||
| da ich erst ein angehender Philosoph bin, und mich mit niemand in | |||||||
| Wien über Ihr philosophisches Gebäude besprechen kann. In Wien | |||||||
| sind sehr wenige, die Ihr Philosophie studiren. Ihre Kritik macht | |||||||
| zwar grosses Aufsehen; aber nicht ihr Glück. Es macht Aufsehen bey | |||||||
| denen die ihren alten Schlendrian gewohnt, und diese können nicht | |||||||
| genug schmälen, aber ohne es durchgedacht zu haben. Es giebt einige | |||||||
| die nie studiren, aber jedem Satz einen andern Sinn beylegen. | |||||||
| Einige giebt es, die nur ihre Kritik nennen, und sich dieselbe merken, | |||||||
| um für denkend zu passieren. Dies Schicksaal hat Ihre Kritik in Wien. | |||||||
| Sie sehen also meine Blösse, mit welcher ich umgeben bin und das | |||||||
| Recht mich an Sie zu wenden. Hören Sie also wie ich Ihre Hauptmomente | |||||||
| verstehe. | |||||||
| In der ganzen Aesthetik wurde nichts anders gesagt als: daß alle | |||||||
| Vorstellungen von Gegenständen nicht den Gegenstand selbst enthalten; | |||||||
| sondern die Vorstellungen sind nur Modifikationen unserer Sinnlichkeit | |||||||
| blos dadurch daß dieselbe auf diese oder jene Art afiziret werde. | |||||||
| So z. B. bildet sich der Gegenstand des Gehörs nicht ab, wie er an | |||||||
| sich selbst ist, sondern er erschüttert die Lufttheilchen in den innern | |||||||
| Höhlungen des Ohres, und diese Schwingungen, dieses Zittern der | |||||||
| Lufttheilchen geben uns vermittelst der verschiedenen Modifikationen in | |||||||
| der Art wie sie zittern, die Töne von verschiedener Höhe, Tiefe, Stärke. | |||||||
| Also sind die Vorstellungen von Gegenständen nur Modifikationen der | |||||||
| Sinnlichkeit blos dadurch daß dieselbe auf diese oder jene Art afiziret | |||||||
| werde und nicht Abbildung der Gegenstände selbst, u. so von andern | |||||||
| Sinnen wie uns die Psychologie es darthut. | |||||||
| Schon aus diesem zeigt sich Ihr unwiederleglicher Satz von Raum | |||||||
| und Zeit. Sie sagen: Raum und Zeit sind Formen unserer Sinnlichkeit, | |||||||
| sind in uns etc. | |||||||
| Von der Zeit hab ich nie gezweifelt. Von Raum erkläre ich mir | |||||||
| es so: die Gegenstände des Auges bilden sich vermittelst der Lichtstrahlen | |||||||
| in der Nezhaut ab; folglich ist, weil ausser der Nezhaut nichts | |||||||
| fähig ist von Gegenständen afiziret zu werden, Raum da. So ist der | |||||||
| Ton in dem Gehöre nur durch das Zittern der Lufttheilchen hervorgebracht | |||||||
| ausser denselben giebt es keine andere, die Ton fähig wären | |||||||
| u.s.w. So erkläre ich mich also über Raum. | |||||||
| Diese Vorstellungen von Gegenständen wären Leer, gäben uns | |||||||
| keine Erkenntniß, wenn sie nicht der Verstand zusammen dächte durch | |||||||
| Begrife. Z B der Verstand bezieht, vereiniget die Eindrüke unter | |||||||
| einem Begrif z B Körper Baum, und urtheilt: dies ist ein Körper, | |||||||
| ein Baum d: i: alle diese Eindrücke machen ein Korper einen Baum | |||||||
| aus. Nun diese Begrife sagen Sie, sind Formen unseres Verstandes; | |||||||
| sie liegen in unserem Verstand als reine Begrife a priori. Dies verstehe | |||||||
| ich so: diese Begrife sind a priori in unserem Verstand, indem | |||||||
| sie nichts anders sind als die Funktionen des Denkens. Zu diesen | |||||||
| Funktionen geben uns den Stoff die Funktionen des Urtheilens: ich | |||||||
| will sagen in den Funktionen des urtheilens liegen nicht die Verstandesbegrife | |||||||
| so, daß ich sie nur herausnehmen könne; sondern es muß noch | |||||||
| eine besondere Handlung dazu kommen, und dann diese besondere | |||||||
| Handlung erst unter etwas allgemeines bringen. So z B geben die | |||||||
| einzelnen und allgemeine Urtheile (als Funktionen des Urtheilens :) | |||||||
| jede für sich nicht den Begrif der Einheit, Vielheit, Allheit; wenn ich | |||||||
| die einzelnen Urtheile nicht mit den allgemeinen vergleiche blos als | |||||||
| Erkenntniß der Größe nach; denn durch diese Vergleichung sehe ich | |||||||
| erst daß sich jene zu diesen wie Einheit zur Unendlichkeit verhalten | |||||||
| und von ihnen wesentlich unterschieden sind. Also das Vergleichen (: als | |||||||
| besondere Handlung) giebt uns erst den Verstandesbegrif. Die unendlichen | |||||||
| und bejahenden Urtheile geben wiederum jede für sich nicht den | |||||||
| Begrif von Realität, Negation, Limitation, sondern ich muß | |||||||
| um diese zubekommen noch auf den Inhalt des Prädikats sehen, und | |||||||
| durch diese Handlung bekomme ich erst die obbenannten Begrife. | |||||||
| In den Kategorischen Urtheilen muß noch diese Handlung dazu | |||||||
| kommen, daß man das Verhältniß des Predikats zum Subjekt betrachte; | |||||||
| in den hypothetischen das Verhältniß des Grundes zur Folge; | |||||||
| in den disjunktiven das Verhältniß der eingetheilten Erkenntniß, und | |||||||
| der gesammten Grade der Eintheilung unter einander, und durch diese | |||||||
| Handlungen bekommen wir erst die Begrife Substanz, Ursache, Gemeinschaft | |||||||
| u.s.w. So verstehe ich ihre Hauptmomente. Und nicht wahr, | |||||||
| die Funktionen des Urtheilens sind erst durch die Zeit möglich? Uiber | |||||||
| dieses bitte ich Erläuterung und mir Bücher vorzuschlagen um Ihre | |||||||
| Kritik besser zuverstehen. Ich bitte auch könnte ich nicht die Dissertation | |||||||
| de mundi sensibilis atque intelligibilis Forma bekommen? Ich | |||||||
| bin Ihr | |||||||
| Diener Andre Richter | |||||||
| Doctor Philosophiae | |||||||
| NB. Die Addresse belieben Sie in die Wapplerische Buchhandlung | |||||||
| zu machen. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 550 ] [ Brief 336 ] [ Brief 337a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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