Kant: Briefwechsel, Brief 271, Von Iohann Benjamin Erhard.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Benjamin Erhard.      
           
  Nbg. d. 12. May 1786.      
           
  Verehrtester Lerer und Freund!      
  Nicht mer bin ich im Stande den Dank zurük zu halten der      
  Ihnen von mir gebürt, Sie sind es der meinen Kräften die Stärke      
  gab; durch den Nebel der Vorurteile nicht abgeschrekt, durch den Glanz      
  des Dogmatismus nicht irre geführt und für den Pfeilen der Modeweisen      
  sicher, bis zu den Stralen ächter Philosophie hindurch zu dringen.      
  Vielleicht ist es Ihnen nicht unangenem etwas von der Geschichte      
  meiner Denkart zu wissen.      
           
  Mendelssohn ist der Weise der mich am ersten auf die Pfade des      
  Nachdenkens und des moralischens Gefüls führte. Vorher schon gefiel      
  mir der systematische Geist Wolfs, und durch Moses vermerte sich      
  meine Hochachtung für ihn, ich hielte sein System für das gründlichste      
  und beste das wir hätten. Durch das Lesen seiner neuen Verächter      
  wurde ich darinn bestärkt, denn sie hieben seinem System bald einen      
  Fuß bald eine Hand ab liesen das übrige wie es war, oder kleideten      
  es nach der Mode, und schrien nun jämmerlich laut, sie hätten eine      
  schönere Philosophie geschaffen als er.      
           
  Ich fasste daher den Entschluß sein System fest zu gründen und      
  alle Lüken darin auszufüllen. Die Methode nach der ich meinen Zwek      
  zu erreichen glaubte war diese: 1) den Umfang der Philosophie aus      
  Gründen der Vernunft zu bestimmen und seine Erfüllung durch die      
  aufgenommenen Wissenschaften. 2) alle Erklärungen aus ihren Postulatis      
  zu erweisen, aber damit wollte es mir nie gelingen, wenigstens      
  wollte immer keine wolfianische Philosophie herauskommen 3) die      
  Postulata in den notwendigen Bedingungen unseres Denkens aufzusuchen,      
  aber nun mangelte mir immer der Erweiß für die objektive      
           
  Gültigkeit des Postulats. Ich lies daher die Sache stehen, und hofte      
  immer jemand zu finden, der mir den Bau einer Brüke von dem Gedenkbaren      
  zum Objektivgültigen erleichterte, welches die einzige Hinderni      
  war die mir im Wege stand - aber ich fand niemand.      
           
  Vor einem halben Iare fieng ich nun durch den Ruff dazu erwekt      
  an, Ihre Kritik zu lesen. Noch kein Buch nam ich mit solcher Bitterkeit      
  in die Hand, an Ihnen zum Ritter zu werden war mein eifrigster      
  Wunsch und Gebet und ob ich gleich in Ihrer Aesthetik und Analytik      
  nichts fand das mir Hofnung gewährte so schöpfte ich doch bey den      
  Paralogismen d. r. V. neuen Mut aber auch hier ward ich aus dem      
  Sattel gehoben, bey den Antinomien nam ich meinen lezten Kräfte zusammen,      
  sonderlich gegen die zweite denn da sorgte ich für meine Lieblinge      
  für die Monaden - aber etwas Nachdenken auf was die      
  Differenzialrechnung ihre Gewisheit gründete, lerte mich den Beweis      
  der Antit: fassen und nun war nichts mer auszurichten die dritte schien      
  mir meine kosmologischen Ideen nicht zu stören den[n] ich hatte als ausgemacht      
  angenommen das Freyheit der Ursprung der Causalität in der Natur      
  wäre der in der Natur nie könte wirkend wargenommen werden als in      
  so ferne er den gewälten nun unveränderlichen Gesetzen der höchsten Freyheit      
  angemessen wäre, folglich sey in der erkennbaren Natur alles in notwendigem      
  Zusammenhange. Der Lösung dieser Ant: haben Sie auch      
  meine Freundschaft zu danken, den[n] nun wurden mir die Augen geöfnet,      
  das Entzüken das ich bey Lesung derselben empfand werde ich nie      
  vergessen, auf einmal suchte ich in Ihrem Buch nicht mehr nach Irtümern      
  sondern nach Wahrheit, und ich konnte nun mein inconsequentes      
  Denken kaum begreifen. Mein Stolz hatte eigentlichen die Schuld      
  meiner Verblendung, den[n] so lange der Gedanken in mir war: es seye      
  Kant der mir die Hoffnung meines künftigen Systems vereitelte, so      
  empörte sich mein Innerstes dagegen, aber so bald ich gewahr wurde,      
  daß, die Wahrheit Ihn mir zum Führer gewält hatte mich, aus einem      
  stürmischen Lande wo ich auf unsicherm Grunde mir einen Pallast erbauen      
  wollte um mich zu schüzen, in eine paradisische Gegend zu leiten      
  wo ein immerwärender Früling mich nicht nötigte, unter einem Steinhaufen      
  Sicherheit zu suchen, so schmiegte ich mich an Ihn und bin gewiß      
  er entzieht mir seine Hand nicht      
           
  Nachdem ich sie für meinen Freund erkannte, so konnte ich es      
  erst ertragen, sie als meinen Lerer betrachten zu müssen. Ihre Prolegommenen      
           
  gaben mir eine leichtere Übersicht über das ganze Ihres      
  Systems, ich faste die Deduktion der Categorien völlig, welches mir      
  unter allem die gröste Anstrengung verursachte, die doch in der Tat      
  mit den Begriffen von Zeit und Raum so gänzlich verbunden ist, welche      
  ich doch auf das erstemal begrif weil sie die meinigen waren, aber      
  vielleicht war dieß eben der Grund daß ich, da ich von diesen Begriffen      
  nicht den rechten Gebrauch machte mich um so mer gegen Folgerungen      
  darauß sträubte, die ich nicht wünschte, daß sie daraus folgen sollten.      
  Ihre Metaphysik der Sitten aber vereinigte mich ganz mit Ihnen, ein      
  Wonnegefül strömt mir durch alle Glieder, so oft ich mir der Stunden      
  errinere da ich sie zum erstenmal laß und mich Ihr Canon d. r. V. so      
  vortreflich vorbereitet hatte. Sehr viel hätte ich Ihnen zu sagen aber      
  der Raum verstattet es nicht, nichts wünsche ich sehnlicher als aus      
  Ihrem Munde zu lernen in Königsberg zu seyn um Ihnen alle meine      
  Gedanken mitteilen zu können Denn es aufrichtig zu gestehen, es      
  geht mir nahe wenn ich bey der Enthüllung ächter Weisheit nur Zuschauer      
  seyn soll, da ich doch Kraft genug füle sie über die Gebürge      
  emporheben zu helfen die das Vorurtheil vor sie gewälzt hat, und      
  die Ströme der Sinlichkeit zu dämmen die den Zutrit zu ihr den      
  Sterblichen verweren. Ob es nicht möglich wäre mich in Königsberg      
  aufzuhalten um meinen Endzwek einer Gemeinschaft mit Ihnen, zu      
  erhalten wünschte ich Ihren Rath, und um diesen mir geben zu können      
  muß ich sie mit mir mer bekant machen.      
           
  Vergangnen Februar wurde ich 20 Iare alt und wenn ich nicht      
  darauf rechnen darf daß mein Äuserliches mir, an sich Zuneigung      
  erwerben könte, so wird es doch den Eindrüken die andere Eigenschaften      
  veranlassen könnten nicht hinderlich seyn. Da mir kein Mensch etwas      
  lernen mochte indem ich immer den Lerer nach mir und mich nicht      
  nach [dem] Lerer richten wollte so muste ich in allen Wissenschaften Avtodidaktos      
  seyn. Philosophie war aber immer die Tendenz aller meiner      
  Kräfte und ob ich gleich beynahe keine Wissenschafft unversucht lie      
  so hatte ich doch nur immer die Absicht dabey meiner Philosop[h]ie die      
  möglichst gröste Anwendung zu verschaffen. Über schöne Künste und      
  Wissenschaften philosophirte ich am meisten doch gröstenteils aus einen      
  moralischen Gesichtspunkt. Im Zeichnen Poussiren und der theoretischen      
  Musik könnte ich Unterricht geben. Die Mathematik war jederzeit      
  eines meiner Lieblingsstudien und verschiedene fruchtlose Bemühung      
           
  sie philosophisch zu behandeln lernte mir Ihre Aufklärung darüber      
  schäzen, so brachte ich vor einigen Iaren 3 Tage umsonst damit zu,      
  discursive zu erweisen daß 2 gerade Linien keinen Raum einschließen      
  können. Ebenso gieng es mir aber auch oft mit der mathematischen      
  Methode in der Philosophie, ich fand nach her daß die Dialektik wodurch      
  ich mich hatte täuschen lassen darin bestünde, daß die Philosophie      
  in so ferne sie durch Worte ausgedrükt wird, eben so wol Constructiv      
  ist als die Mathematik und daß, da man also von verständlichen      
  Worten zu verständlichen Säzen fortgehen muß, es scheint als wäre      
  die mathematische Methode auch auf Erkentniß aus Begriffen anwendbar.      
  Die reine Mathematik ist mir völlig klar, doch fand ich noch      
  nicht Zeit mir die höhere geläufig zu machen. Da ich nie in Willens      
  hatte förmlich zu studieren so streifte in den Wissenschaften nach      
  meinem Gefallen herum, die Medicin zog meine Aufmerksamkeit am      
  meisten auf sich sonderlich der therapevtische Teil und ich wagte so gar      
  praktischen Rat und jederzeit mit Glük. Theologie und Iurisprudenz      
  war ich jederzeit gram so wie jeder positiven Wissenschaft. Die dogmatische      
  Theologie verlor sich immer mer bey mir je mer ich an meiner      
  moralischen Besserung arbeitete, bis ich meiner Vernunft die Aufgabe      
  machte mich völlig zu beruhigen und da fand ich dann daß schlechterdings      
  kein Kennzeichen möglich sey wodurch wir etwas mit Gewisheit      
  als Offenbarung ansehen könten, ich habe diesen Beweis etwas in      
  schulgerechte Form gebracht. Nun bin ich beschäftigt eine Kritik über      
  Spinosa zu liefern, weil er jezt wieder auferwekt worden. ist. Ich bin      
  noch völlig unbestimmt und dürfte fast in jede Fuge des Schiksals      
  passen nur nicht wo mir Freyheit und Aufrichtigkeit zu Verbrechen      
  würden, entscheiden Sie über mich ich bin auf ewig      
           
    Aufrichtigster Schüler und Freund      
    Ioh: Benjamin Erhard.      
           
  N. S. Sprachen waren meine Neigung nie ich verstehe daher von der      
  Lateinischen italienischen französisch und englischen Sprache nur      
  so viel als zu Bücher lesen und Uebersezen nötig ist. Doch hoffe      
  ich diesen Sommer es auch in der Griechischen so weit zu bringen.      
           
           
           
           
     

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