Kant: Briefwechsel, Brief 206, An Moses Mendelssohn. |
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| An Moses Mendelssohn. | |||||||
| 16. Aug. 1783. | |||||||
| Verehrungswürdiger Herr! | |||||||
| Allerdings konnte keine wirksamere Empfehlung vor den hoffnungsvollen | |||||||
| Iüngling den Sohn des HEn Gentz gefunden werden, als die, | |||||||
| von einem Manne, dessen Talente und Charakter ich vorzüglich hochschätze | |||||||
| und liebe, von welcher Gesinnung gegen Sie, es mir reitzend | |||||||
| ist zu sehen, daß Sie solche in mir voraussetzen und darauf rechnen, | |||||||
| ohne daß ich nöthig hätte Sie davon zu versichern. Auch kan ich jetzt | |||||||
| dem würdigen Vater dieses jungen Menschen, den ich in meine nähere | |||||||
| Bekanntschaft aufgenommen habe, mit Zuversicht die seinen Wünschen | |||||||
| vollkommen entsprechende Hofnung geben, ihn dereinst von unserer | |||||||
| Vniversitaet an Geist und Herz sehr wohl ausgebildet zurück zu erhalten; | |||||||
| bis ich dieses thun konte, ist meine sonst vorlängst schuldige Antwort | |||||||
| auf Ihr gütiges Schreiben aufgeschoben worden. | |||||||
| Die Reise nach dem Bade, von deren Gerüchte Sie so gütig sind | |||||||
| auf solche Art zu erwähnen, daß mir die Idee davon das Gemüth | |||||||
| mit angenehmen Bildern eines viel reitzendern Umganges, als ich ihn | |||||||
| jemals hier haben kan, erfüllet, ist auch allhier ausgebreitet gewesen, | |||||||
| ohne daß ich jemals den mindesten Anlaß dazu gegeben hätte. Eine | |||||||
| gewisse Gesundheitsregel, die ich, ich weiß nicht bey welchem engl: | |||||||
| Autor vor langer Zeit antraf, hat schon vorlängst den obersten Grundsatz | |||||||
| meiner Diaetetic ausgemacht: Ein jeder Mensch hat seine | |||||||
| besondere Art gesund zu seyn, an der er, ohne Gefahr, nichts | |||||||
| ändern darf. In Befolgung dieser Lehre habe ich zwar immer mit | |||||||
| Unpäßlichkeit zu kämpfen, ohne doch jemals krank zu seyn; übrigens | |||||||
| finde ich, daß man am längsten lebe, wenn man am wenigsten Sorge | |||||||
| trägt das Leben zu verlängern, doch mit der Behutsamkeit es nicht, | |||||||
| durch die Stöhrung der wohlthätigen Natur in uns, abzukürtzen. | |||||||
| Daß Sie sich der Metaphysik gleichsam vor abgestorben ansehen, | |||||||
| da ihr beynahe die ganze klügere Welt abgestorben zu seyn scheint, | |||||||
| befremdet mich nicht, ohne einmal jene Nervenschwäche (davon man | |||||||
| doch im Ierusalem nicht die mindeste Spuhr antrifft) hiebey in Betracht | |||||||
| zu ziehen. Daß aber an deren Stelle Critik, die nur damit umgeht, | |||||||
| den Boden zu jenem Gebäude zu untersuchen, Ihre scharfsinnige Aufmerksamkeit | |||||||
| nicht auf sich ziehen kan, oder sie alsbald wieder von sich | |||||||
| stößt, dauert mich sehr, befremdet mich aber auch nicht; denn das Product | |||||||
| des Nachdenkens von einem Zeitraume von wenigstens zwölf | |||||||
| Iahren hatte ich innerhalb etwa 4 bis 5 Monathen, gleichsam im Fluge, | |||||||
| zwar mit der größten Aufmerksamkeit auf den Inhalt, aber mit weniger | |||||||
| Fleiß auf den Vortrag und Beförderung der leichten Einsicht vor den | |||||||
| Leser, zu Stande gebracht, eine Entschließung die mir auch jetzt noch | |||||||
| nicht leid thut, weil ohne dies und bey längerem Aufschube, um Popularität | |||||||
| hineinzubringen, das Werk vermuthlich ganz unterblieben wäre, | |||||||
| da doch dem letzteren Fehler nach und nach abgeholfen werden kan, | |||||||
| wenn nur das Product seiner rohen Bearbeitung nach erst da ist. | |||||||
| Denn ich bin schon zu alt, um ein weitläuftiges Werk mit ununterbrochner | |||||||
| Anstrengung Vollständigkeit und zugleich, mit der Feile in | |||||||
| der Hand, jedem Theile seine Rundung, Glätte und leichte Beweglichkeit | |||||||
| zu geben. Es fehlte mir zwar nicht an Mitteln der Erläuterung | |||||||
| jedes schwierigen Puncts, aber ich fühlete in der Ausarbeitung unaufhörlich | |||||||
| die, der Deutlichkeit eben so wohl wiederstreitende Last, der gedehnten | |||||||
| und den Zusammenhang unterbrechenden Weitläuftigkeit, daher | |||||||
| ich von dieser vor der Hand abstand, um sie bey einer künftigen Behandlung, | |||||||
| wenn meine Sätze, wie ich hoffete, in ihrer Ordnung nach und | |||||||
| nach würden angegriffen werden, nachzuholen; denn man kan auch nicht | |||||||
| immer, wenn man sich in ein System hineingedacht und mit den Begriffen | |||||||
| desselben vertraut gemacht hat, vor sich selbst errathen, was | |||||||
| dem Leser dunkel, was ihm nicht bestimmt, oder hinreichend bewiesen | |||||||
| vorkommen möchte. Es sind wenige so glücklich, vor sich und zugleich | |||||||
| in der Stelle anderer dencken und die ihnen allen angemessene Manier | |||||||
| im Vortrage treffen zu können. Es ist nur ein Mendelssohn. | |||||||
| Wie wäre es aber, mein werthester Herr, wenn Sie, gesetzt sie | |||||||
| wollten sich nicht weiter mit schon zur Seite gelegten Sachen selbst | |||||||
| beschäftigen, Ihr Ansehen und Ihren Einfluß dazu zu verwenden beliebeten, | |||||||
| eine nach einem gewissen Plane verabzuredende Prüfung jener | |||||||
| Sätze zu vermitteln und dazu auf eine Art wie sie Ihnen gut dünckt | |||||||
| aufzumuntern. Man würde also 1. untersuchen, ob es mit der Unterscheidung | |||||||
| der analytischen und synthetischen Urtheile seine Richtigkeit | |||||||
| und mit der Schwierigkeit, die Möglichkeit der letzteren, wenn sie | |||||||
| a priori geschehen sollen einzusehen, die Bewandnis habe, die ich ihr | |||||||
| beylege und ob es auch von so großer Nothwendigkeit sey, die Deduction | |||||||
| der letzteren Art von Erkentnisse zu Stande zu bringen, ohne welche | |||||||
| keine Metaphysik statt findet. 2. Ob es wahr sey, was ich behauptet | |||||||
| habe, daß wir a priori über nichts als über die formale Bedingung | |||||||
| einer möglichen (äußeren oder inneren) Erfahrung überhaupt synthetisch | |||||||
| urtheilen können, so wohl was die sinnliche Anschauung derselben, als | |||||||
| was die Verstandesbegriffe betrift, die beyderseits noch vor der Erfahrung | |||||||
| vorher gehen und sie allererst möglich machen. 3. ob also auch | |||||||
| meine letzte Folgerung richtig sey: daß alle uns mögliche speculative | |||||||
| Erkentnis a priori nicht weiter reiche, als auf Gegenstände einer uns | |||||||
| möglichen Erfahrung, nur mit dem Vorbehalte, daß dieses Feld möglicher | |||||||
| Erfahrung nicht alle Dinge an sich selbst befasse, folglich allerdings | |||||||
| noch andere Gegenstände übrig lasse, ja so gar als nothwendig | |||||||
| voraussetze, ohne daß es uns doch möglich wäre von ihnen das mindeste | |||||||
| bestimmt zu erkennen. Wären wir erst soweit, so würde sich die Auflösung, | |||||||
| darinn sich die Vernunft selbst verwickelt, wenn sie über alle | |||||||
| Grenze möglicher Erfahrung hinauszugehen versucht, von selbst geben, | |||||||
| imgleichen die noch nothwendigere Beandtwortung der Frage, wodurch | |||||||
| denn die Vernunft getrieben wird über ihren eigentlichen Wirkungskreis | |||||||
| hinauszugehen, mit einem Worte die Dialectick der reinen Vernunft | |||||||
| würde wenig Schwierigkeit mehr machen und von da an würde | |||||||
| die eigentliche Annehmlichkeit einer Critik anheben, mit einem sicheren | |||||||
| Leitfaden in einem Labyrinthe herum zu spatziren, darinn man sich | |||||||
| alle Augenblicke verwirrt und eben so oft den Ausgang findet. Zu | |||||||
| diesen Untersuchungen würde ich gerne an meinem Theile alles mir | |||||||
| mögliche beytragen weil ich gewiß weiß, daß wenn die Prüfung nur | |||||||
| in gute Hände fällt, etwas ausgemachtes daraus entspringen werde. | |||||||
| Allein meine Hofnung zu derselben ist nur klein. Mendelssohn, Garve | |||||||
| u. Tetens scheinen dieser Art von Geschäfte entsagt zu haben und | |||||||
| wo ist noch sonst jemand, der Talent u. guten Willen hat, sich damit | |||||||
| zu befassen? Ich muß mich also damit begnügen, daß dergleichen | |||||||
| Arbeit, wie Swift sagt, eine Pflanze sey die nur aufblüht wenn der | |||||||
| Stock in die Erde kommt. Vor dieser Zeit dencke ich indessen doch ein | |||||||
| Lehrbuch der Metaphysik nach obigen critischen Grundsätzen und zwar | |||||||
| mit aller Kürze eines Handbuchs, zum Behuf academischer Vorlesungen, | |||||||
| nach und nach auszuarbeiten und in einer nicht zu bestimmenden, | |||||||
| vielleicht ziemlich entferneten Zeit, fertig zu schaffen. Diesen Winter | |||||||
| werde ich den ersten Theil meiner Moral, wo nicht vollig doch meist | |||||||
| zu Stande bringen. Diese Arbeit ist mehrer Popularität fähig, hat | |||||||
| aber bey weitem den das Gemüth erweiternden Reitz nicht bey sich, | |||||||
| den jene Aussicht, die Grenze und den gesammten Inhalt der ganzen | |||||||
| menschlichen Vernunft zu bestimmen in meinen Augen bey sich führt, | |||||||
| vornemlich auch darum, weil selbst Moral, wenn sie in ihrer Vollendung | |||||||
| zur Religion überschreiten will, ohne eine Vorarbeitung und sichere | |||||||
| Bestimmung der ersteren Art, unvermeidlicher Weise in Einwürfe u. | |||||||
| Zweifel, oder Wahn und Schwärmerey verwickelt wird. | |||||||
| Herr Friedländer wird Ihnen sagen, mit welcher Bewunderung | |||||||
| der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihren Ierusalem | |||||||
| gelesen habe. Ich halte dieses Buch vor die Verkündigung einer großen, | |||||||
| obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht | |||||||
| allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben | |||||||
| Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreyheit zu vereinigen | |||||||
| gewußt, die man ihr gar nicht zu getrauet hätte und dergleichen | |||||||
| sich keine andere rühmen kan. Sie haben zugleich die Nothwendigkeit | |||||||
| einer unbeschränkten Gewissensfreyheit zu jeder Religion so gründlich | |||||||
| und so hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unserer Seits | |||||||
| darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen | |||||||
| und drücken kan, von der ihrigen absondere, welches endlich die Menschen | |||||||
| in Ansehung der wesentlichen Religionspuncte vereinigen muß; denn alle | |||||||
| das Gewissen belästigende Religionssätze kommen uns von der Geschichte, | |||||||
| wenn man den Glauben an deren Warheit zur Bedingung der Seeligkeit | |||||||
| macht. Ich misbrauche aber Ihrer Geduld und Ihrer Augen, und füge | |||||||
| nichts weiter hinzu, als daß niemanden eine Nachricht von Ihrem | |||||||
| Wohlbefinden und Zufriedenheit angenehmer seyn kan, als Ihrem | |||||||
| ergebensten Diener | |||||||
| Koenigsberg | I Kant | ||||||
| den 16 August 1783. | |||||||
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