Kant: Briefwechsel, Brief 166, An Marcus Herz.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Marcus Herz.      
           
  Nach d. 11. Mai 1781.      
           
  Hochedelgebohrener Herr, Werthester Freund,      
           
  Vor die Bemühung die Sie übernommen haben die 4 Exemplare      
  meines Buchs zu vertheilen sage den ergebensten Dank noch mehr      
           
  aber davor daß Sie bey Ihrer eigenen Schriftstellerischen Arbeit (denn      
  ich höre daß Sie eine medicinische Encyclopädie ausarbeiten) sich vorgesetzt      
  haben diese Schrift ganz eigentlich zu studiren auf welche Bemühung      
  ich nur bey sehr wenig Lesern gleich anfangs rechnen darf      
  unerachtet ich mich demüthigst überzeugt halte sie werde mit der Zeit      
  allgemeiner werden denn man kan es nicht erwarten daß die      
  Denkungsart aufeinmal in ein bisher ganz ungewohntes Gleis geleitet      
  werde sondern es gehört Zeit dazu um sie zuvor in ihrem alten      
  Gange nach und nach aufzuhalten und sie endlich durch allmählige      
  Eindrücke in die entgegengesetzte Richtung zu bringen. Von einem      
  Manne aber der unter allen die mir das Glück als Zuhörer zugeführt      
  hat am geschwindesten und genauesten meine Gedanken und Ideen      
  begriff und einsah kan ich allein hoffen daß er in kurzer Zeit zu      
  demienigen Begriffe meines Systems gelangen werde der allein ein      
  entscheidendes Urtheil über dessen Werth möglich macht. Wem aber      
  nur der Zustand darinn Metaphysik nicht allein ietzt liegt, sondern      
  auch darinn sie iederzeit gewesen ist, deutlich einleuchtet der wird nach      
  einer flüchtigen Durchlesung es schon der Mühe werth finden wenigstens      
  in dieser Art der Bearbeitung so lange alles liegen zu lassen bis das      
  wovon hier die Frage ist, völlig ausgemacht worden und da kan      
  meine Schrift sie mag stehen oder fallen nicht anders als eine gänzliche      
  Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innigst angelegenen      
  Theile menschlicher Erkenntnisse hervorbringen. Meines Theils habe      
  ich nirgend Blendwerke zu machen gesucht und Scheingründe aufgetrieben      
  um mein System dadurch zu flicken sondern lieber Iahre      
  verstreichen lassen um zu einer vollendeten Einsicht zu gelangen die      
  mir vollig gnug thun könte zu welcher ich auch gelanget bin so      
  daß ich (welches niemals bey irgend einer andern meiner Schriften      
  der Fall gewesen) auch ietzt nichts in der Hauptsache antreffe was ich      
  zu ändern wünschte ob ich gleich hin und wieder kleine Zusätze und      
  einige Erläuterungen gerne hinzu gefügt haben möchte. Schweer wird      
  diese Art Nachforschung immer bleiben denn sie enthält die Metaphysik      
  von der Metaphysik und gleichwohl habe ich einen Plan in Gedanken      
  nach welchem sie auch Popularität bekommen kan die aber      
  im Anfange da der Grund aufzuräumen war übel angebracht gewesen      
  seyn würde zumal das Ganze dieser Art der Erkentnis nach      
  aller seiner Articulation vor Augen gestellt werden mußte; sonst hätte      
           
  ich nur von demienigen, was ich unter dem Titel der Antinomie der      
  r. V. vorgetragen habe, anfangen dürfen, welches in sehr blühendem      
  Vortrage hätte geschehen können und dem Leser Lust gemacht hätte      
  hinter die Qvellen dieses Wiederstreits zu forschen. Allein der Schule      
  muß zuerst ihr Recht wiederfahren hernach kan man auch dahin sehen      
  daß man der Welt zu gefallen lebe.      
           
  Daß Herr Mendelssohn mein Buch zur Seite gelegt habe ist mir      
  sehr unangenehm aber ich hoffe daß es nicht auf immer geschehen      
  seyn werde. Er ist unter allen die die Welt in diesem Punkte aufklären      
  könten der wichtigste Mann, und auf Ihn , HEn Tetens      
  und Sie mein Werthester habe ich unter allen am meisten gerechnet.      
  Ich bitte nebst meiner großen Empfelung Ihm doch eine diätetische      
  Beobachtung mitzutheilen die ich an mir selbst gemacht habe und von      
  der ich glaube daß sie bei der Ähnlichkeit der Studien und zum      
  Theil daraus entsprungenen schwächlichen Gesundheit vielleicht dazu      
  dienen könte der gelehrten Welt einen so vortreflichen Mann wieder      
  zu geben der sich mit Recht ihr so lange entzieht als er findet da      
  dergleichen Beschäftigung mit seiner Gesundheit nicht zusammen bestehen      
  will. Seit vier Iahren nämlich da ich gefunden habe da      
  Nachmittags und vornemlich Abends zu studiren ja sogar leichte      
  Bücher anhaltend zu lesen sich mit meiner Gesundheit gar nicht vereinigen      
  lasse und daher ob ich gleich alle Abende zu Hause bin mich      
  nur mit einer leichten und durch oftere Zwischenpausen unterbrochenen      
  lecture imgleichen mit detachirtem Nachdenken über Materien so wie      
  sie sich von selbst ungesucht darbieten niemals aber angelegentlich      
  unterhalte, dagegen nach einer ruhigen Nacht des Morgens selbst bis      
  zur Ermüdung mit Nachdenken und schreiben beschäftigt bin meine      
  Gesundheit merklich zugenommen habe denn die Zerstreuung der übrigen      
  Tageszeit macht alle Angriffe auf die Lebenskraft wiederum gut. Bey      
  diesem Rathe den ich einem vorzüglichen Manne der gewis meinen      
  Rath nicht nöthig hat, gebe, bin ich selbst interessirt; denn sein      
  genie . . . . . .      
           
           
           
     

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