Kant: Briefwechsel, Brief 119, An Abraham Iacob Penzel.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Abraham Iacob Penzel.      
           
  12. Aug. 1777.      
           
  Ich habe das Vergnügen hiebey den Bailly zu überschicken doch      
  mit dem Ersuchen daß ich ihn Donnerstags Morgens wiederum könne      
  abholen lassen. Ich wünsche daß Ew. Hochedl: in dem weitläuftigen      
  Umfange dieser recherchen sich anfangs nur ein Merkmal der Abstammung      
  der Wissenschaften aus dem Norden von Asien zur Bearbeitung      
  aussondern möchten und alle übrige vor der Hand darauf      
  beziehen. Diese würde die Wichtigkeit der Zahl 9 bei Chinesern      
  Indianern etc selbst den alten Griechen und sogar den Deutschen seyn      
  und welche ohne Zweifel einen Astronomischen Grund hat. Der      
  periodische Monath (Zeit des wirklichen Umlaufs des Monden) besteht      
  aus 3 mal 9 (27) tagen und sieben Stunden. Dagegen der synodische      
  (Zeit von einem Neumonde zum andern) aus 29 1/2 Tagen. Die Zahl      
  9 scheint also zur Eintheilung des ersteren die Zahl 7 zu Eintheilung      
           
  des letzteren am geschiktesten zu seyn. Doch haben mehrere concurrirende      
  Ursachen bey den verschiedenen astronomie=kundigen Nationen      
  das Ansehen dieser Zahlen befördert die hier anzuführen zu weitläuftig      
  seyn würde      
           
  Ich finde: daß als der Atheniensische Feldherr Nicias vor Syracus      
  unglücklich war und mit der Flotte abzugehen dachte der Priester bey      
  Erscheinung einer Mondfinsternis diese Reise nicht eher vor glücklich      
  erklärete als nach 3 mal 9 Tagen. In einer aus dem englischen übersetzten      
  Piêce von den Menschen=Opfern der alten deutschen      
  Völcker deren Titel ich mich nicht mehr erinnere ist viel von der      
  Heiligkeit der Zahl 9 bei ihnen angeführt      
           
  In des Le Gentil memoire von der indischen astronomie fand      
  ich daß ihre große Epochen welche insgesammt astronomische Cycli      
  sind genau in die 9 aufgelöset werden können. In Pauw recherchen      
  werden Sie noch vieles von der Chinesen u. tataren Achtung vor      
  diese Zahl antreffen. Das Element dieser Zahl (durch die multipl:)      
  nemlich drey war schon an sich durch die Lamaische u. indianische      
  trinitaet der Gottheit (der heilige Gesetzgeber und Schöpfer Brama,      
  der gütige regirer und Erhalter vistnu u. der gerechte Richter      
  ruddiren) in Ansehen. Die germanische scandinavische Völcker      
  hatten auch ihren Odin Freya u. Thor sowie die Perser Orsmusd,      
  Mithra u. Ariman Selbst die apocalyptische Zahl 666 enthält      
  74 mal 9 und beziehet sich auf die Chaldaeische perioden die      
  Ausrechnung der Planeten=Coniunctionen zu erleichtern davon die      
  Sossos 60 die Neros 600 und die Saros 6 mal 600 Iahre ausmachten.      
  Wo denn iemand diese Elemente so zusammensetzte daß die heilige      
  Zahl 9 darinn aufginge (als 600 multiplicirt durch 6 u. noch 60      
  dazu gethan). Das größte Stufeniahr ist 7 multipl: in 9 zwey heil:      
  Zahlen zusammen.      
           
  Es scheinet mir daß ein dem ersten Ansehen nach so unerheblicher      
  Umstand als die Ubereinstimmung einiger Völcker in dem Vorzuge      
  einer Zahl und der Zusammenhang derselben mit der ältesten astronomie      
  einen ziemlichen Fingerzeig auf die erste Schule der Wissenschaften      
  der alten nationen abgeben könne. Vielleicht hat auch die      
  Uralte obzwar geheimgehaltene Erfindung mit 9 Ziffern u. einer 0      
  zu rechnen zum Ansehen der Zahl 9 viel beygetragen.      
           
  Dieses alles ist wie Ew: Hochedl: sehen ohne genaue Prüfung      
           
  nur so dahin geworfen. Ich verbitte daher allen Antheil an dem was      
  Ihre reifere Untersuchungen darüber herausbringen werden wozu ich      
  gleichwohl viel Glück wünsche indem mir die Sache wichtig und zugleich      
  sehr unterhaltend vorkommt      
           
  den 12 Aug. 1777. I Kant      
           
           
           
     

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