Kant: AA XII, Briefwechsel undatiert , Seite 352

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 möchte reisen laßen, mein Lehrer billigte es doch sagte er mir daß ich      
  02 meinem Vater nichts von der Religion gedencken solte, welches ich mir      
  03 auch schon selbst vorgenommen hatte. Ich hatte bereits das Zwantzigste      
  04 Iahr angetreten, als ich diese Bitte an meinen Vater wagte, es hielte      
  05 Anfangs zwar hart, und mein Vater machte unterschiedene Entschuldigungen,      
  06 dennoch auf mein inständiges Anhalten bekam ich Erlaubniß      
  07 China, Japan und die Reiche des großen Mogols zu durchreisen in      
  08 Geselschafft meines Engelberts, mit welchem ich endlich in Begleitung      
  09 zweyer Bedienten abreisete, denn ich wolte kein groß Aufsehen machen      
  10 in dem ich incognito zu reisen gesonnen war, hatte mich dennoch mit      
  11 Gold und Edelgesteinen versorget, daß ich auch zehn Iahr gemechlich      
  12 reisen konte. Ich funde in obgedachten Ländren nichts was meine Begierde      
  13 Befriedigen könte, ich ware bereits biß auf die Malabarische      
  14 Küste gelanget, als ich mich entschloße die rechte Christliche Länder in      
  15 Europa zu durchreisen. Ich schickte von da einen von meinen Bedienten      
  16 ab an Meinen Vater mit inständigster Bitte mir solches zu erlauben,      
  17 nach drey Monathen erhielte ich die Erlaubniß samt einer gutten Summe      
  18 Goldgeld und einigen köstlichen Kleynodien, die ich noch aufbehalte      
  19 demjenigen zu schencken der mir meine Zweifel von der Christlichen      
  20 Religion vollig heben wird. Ich reise schon acht Iahr und habe mehrentheils      
  21 alle Christliche Länder durchreiset aber allenthalben so viel anstößiges      
  22 gefunden, daß ich billig an der richtigkeit der Christlichen Religion      
  23 zweyflen muß. Ich fragte ihn, was ihm denn so anstößig wäre?      
  24 Das erste (antwortete er) ist dieses: daß ich in Keiner Religion so      
  25 viele Secten und Spaltungen angetroffen habe als eben in der Christlichen,      
  26 nicht allein gantze Länder hegen ihre besondere Meinungen, sondern      
  27 fast jeder Theologus jeder Prediger hat in einem und andren      
  28 punct seine besondere Meinung, und glauben selbst das nicht was sie      
  29 andre Lehren. Wie mir deren viele bekannt sind, die ich mit Nahmen      
  30 nennen könte, und dennoch beruffen sie sich alle auf ein Buch nehmlich      
  31 die Bibel. Dieses Buch habe ich mit allem Ernst und gröster attention      
  32 durchlesen, und darinnen die schönste SittenLehren gefunden, allein das      
  33 Historische Wesen ist mir immer verdächtig vorgekommen, und darin      
  34 bin ich bestärcket als ich Dams Schrifften vom Historischen Glauben      
  35 gelesen habe, und ob ich ihm zwar nicht in allem völligen Beyfall      
  36 gebe und ihm des Schwedenborgs Theologiam universalem entgegensetze,      
  37 so sehe ich daß diese Beyde als Himmel und Erde von einander      
           
     

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