Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 478

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Kindern verzeihen kann, Anspruch auf den erhabenen Nahmen eines      
  02 Philosophen gemacht hatten. Da ich nun die Unzulänglichkeit aller      
  03 dieser mich quelenden Vernünfteleien im praktischen schon fühlte, und      
  04 mir keine Ariadne aus dem Laberinthe half, so ging es ganz natürlicher      
  05 Weise zu, daß ich alle Spekulation und Metaphisik verwarf und      
  06 daß ich lieber ein reoussauisches Thier zu sein wünschte, als ein Mittelding      
  07 zwischen einem vernünftigen Wesen und einem Vernünftler.      
  08 Meine Sinnlichkeit war lebhaft, das Dencken stand dieser im Wege,      
  09 und daher kam es, daß ich mir im Sceptizismus Beruhigung suchen      
  10 wollte.      
           
  11 Doch gab es oft Stunden, wo ich mich, durch den Genuß angenehmer      
  12 Gefühle (romantisches) veranlaßt, des Wunsches nicht erwehren      
  13 konnte, daß es doch mit uns Menschen anders beschaffen seyn      
  14 mögte, denn ich fühlte es, daß wenn wir unsere Glückseeligkeit entweder      
  15 von Zufall oder von unserer eigenen Thetigkeit abhangen laßen      
  16 wollten, wir uns zuletzt alles Vergnügen wegvernünfteln müsten.      
  17 Wie wars mir nun? Die wirckliche Welt ist ein Schein, ein absurdes      
  18 ein närrisches Ding, wo man machen kann was man will, und      
  19 der ist am klügsten, der seine Unwißenheit am besten zu verbergen      
  20 weiß, so vernünftelte ich, und da ich in der idalische Welt keine Wircklichkeit      
  21 fand um den Bedürfnißen meiner Sinnlichkeit abzuhelfen,      
  22 deren Ansprüche ich nicht aufgeben konnte, so muste ich um consequent      
  23 zu seyn, die mir versinnlichte intelligibele Welt, wovon ich wohl einsah,      
  24 daß sie nie in der Erfahrung möglich seyn könnte, gänzlich verwerfen,      
  25 und denjenigen der darinnen die Quelle seiner Glückseeligkeit suchen      
  26 wolte für eben so narrisch halten, als jemanden der sich selbst in die      
  27 Lage des Tantalus setzen wollte.      
           
  28 So entstand denn aus mir ein sonderbares Gemisch von Wüstling,      
  29 Vernünftler und Philosophen, worüber ich noch izt mannigmahl lächeln      
  30 muß. Sonderbahr zu scheinen, daß machte mir noch den meisten      
  31 Spaß, bald war ich Sophist, und begegnete mir ein solcher in einer      
  32 andern Person, so suchte ich ihm die Maske abzuziehen, bloß nur um      
  33 sonderbar zu seyn. Doch muß ich es bekennen, daß ich den rechtschaffenen      
  34 und wahrhaft religiösen so viel als möglich verschont habe,      
  35 ja ich hatte zu viel Achtung gegen die Menschheit um andern in Unglauben      
  36 zu verwickeln. So war es mit mir einige Zeit, wehrend dem      
  37 ich in Hipochondrie verfiel, die ich mir durch meine unregelmäßige      
           
     

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