Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 409 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
| 558. | |||||||
| 02 | Von Carl Leonhard Reinhold. | ||||||
| 03 | 21. Ian. 1793. | ||||||
| 04 | Mein hochstverehrungswürdiger Lehrer! | ||||||
| 05 | Ihre überaus gütige Zuschrift durch welche Sie mir den Empfang | ||||||
| 06 | des zweyten Theiles meiner Briefe über Ihre Philosophie berichten, | ||||||
| 07 | und das Exemplar der zweyten Ausgabe Ihrer Kritik der Urtheilskraft, | ||||||
| 08 | das vermuthlich in Leipzig eine Zeitlang aufgehalten wurde, und mich | ||||||
| 09 | daher bereits in Gesellschaft und im Genusse eines früher eingetroffenen | ||||||
| 10 | gefunden hat, sind mir vor drey Wochen fast zugleich zu Handen gekommen. | ||||||
| 11 | Beyde sind mir unschätzbare Beweise Ihrer fortdaurenden | ||||||
| 12 | Gewogenheit, und nur die Unpäßlichkeit, die mich diesen Winter um | ||||||
| 13 | so manche gute Stunde gebracht und zumal diesen Monath über meine | ||||||
| 14 | Gemüthskräfte unthätig gemacht hat, hat mich bis itzt abgehalten Ihnen | ||||||
| 15 | meinen wärmsten Dank zu sagen. | ||||||
| 16 | Dieß ist nun das viertemal daß ich die Kritik der Urtheilsk. lese | ||||||
| 17 | und studiere. Iedesmals überrascht sich mich im eigentlichsten Verstande | ||||||
| 18 | mit einer solchen Menge neuer Aufschlüsse, daß ich zumal bey der | ||||||
| 19 | Menge meiner Arbeiten mich immer in Verlegenheit befinde wie ich | ||||||
| 20 | die reiche Ausbeute ohne das meiste davon wieder einzubüssen unterbringe. | ||||||
| 21 | Noch nie hat wohl ein Mensch einem andern so viel, so | ||||||
| 22 | unermeßlich viel zu danken gehabt als ich Ihnen. | ||||||
| 23 | Da mein Geist täglich mit dem Ihrigen beschäftiget ist, da mir | ||||||
| 24 | kein Mensch selbst von denen die um mich herum leben so sehr gegenwärtig | ||||||
| 25 | ist, als Sie, so wird mir die Pflicht Ihre der ganzen Menschheit | ||||||
| 26 | heilige Zeit durch ehrerbietiges Stillschweigen zu schonen, um so | ||||||
| 27 | leichter; und da meine Lebensjahre schwerlich zureichen werden, um | ||||||
| 28 | mir die Schätze der Belehrung, die in Ihren Schriften für mich enthalten | ||||||
| 29 | sind, zu Nutzen zu machen; so kann ich den Versuchungen die | ||||||
| 30 | mich sehr oft anwandeln mir für meine schriftstellerischen Versuche neue | ||||||
| 31 | und besondere Belehrungen auszubitten, ohne sonderliche Selbstverläugnung | ||||||
| 32 | widerstehen. Ie mehr sich die Arbeiten Ihrer Schüler vervielfältigen, | ||||||
| 33 | desto weniger können Sie Musse haben dieselben zu lesen | ||||||
| 34 | geschweige denn verbessernde Hand daran zu legen. Ich wünsche es | ||||||
| [ Seite 408 ] [ Seite 410 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||