Kant: AA XI, Briefwechsel 1791 , Seite 297

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 hier noch Betrug statt finden, o! so ist meine Vernunft selbst der      
  02 schändlichste Betrug eines feindseligen Dämon mich irre zu führen!      
  03 Keine Declamation in der Welt kann diese vernünftige - (nicht in      
  04 der Phantasie gegründete) - Ueberzeugung wankend machen; u:      
  05 Gründe? - vielleicht! - Es müßten aber doch auch andere, als die      
  06 bisher von den Gegnern der Religion vorgebrachten seyn. - Auf der      
  07 andern Seite findet sich so manches Räthselhafte, Unbegreifliche, unsere      
  08 Begriffe von Gottes Gerechtigkeit u: allgemeiner Vaterliebe scheinbar      
  09 verdunkelnde u: verwirrende, in den Behauptungen seiner Lehrjünger      
  10 u: ihren Nachrichten von seinen Reden, welche dieselben nicht etwan      
  11 nur so vom Hörensagen erfahren, sondern die täglich 3 volle      
  12 Iahre in seinem vertrautesten Umgang zugebracht hatten u: die      
  13 nach seinem Tode mit Wundergaben u: übernatürlicher Erleuchtung      
  14 ausgerüstet wurden, der Wellt Wahrheit, göttliche Wahrheit zu lehren.      
  15 Wer lößt mir dies größte unter allen nur möglichen Räthseln ? Ich      
  16 bin wahrlich kein Sklave von Autoritäten, aber eine Autorität, welche      
  17 - nicht die Phantasie - sondern die Vernunft selbst (deren Rechte      
  18 doch nicht bloß in der Philosophie gelten) so unwiederstehlich als      
  19 göttlich aufdringt, sollte die nicht den gewißenhaften Verehrer der      
  20 Wahrheit in Versuchung führen zu glauben, daß noch ein Zeitpunct      
  21 kommen werde, wo die dadurch bestätigte Lehre in allen ihren Theilen      
  22 vollkommen, allgemein anerkannte Vernunftmäßigkeit erhalten wird?      
  23 Wir haben zwar unsere Vernunft erhalten Weitzen u: Unkraut von      
  24 einander zu scheiden, allein welcher Feind kann in eine göttliche      
  25 Offenbarung Unkraut gesät haben? Oder warum ließ dies der      
  26 Herr der Aerndte zu?      
           
  27 Dieß sind Fragen, deren Beantwortung ich mir vorzüglich von      
  28 den drei biedern u: helldenkenden Männern, denen diese Schrift zugeeignet      
  29 ist, so wie auch von dem Herrn Hofprediger Schultze, (welchem      
  30 ich beiliegenden Brief übergeben zu laßen u: diesen gütigst mitzutheilen      
  31 gantz gehorsamst bitte) wünschte u: wenn eine befriedigende in      
  32 dieser Welt möglich ist, auch mit größter Zuversicht erwarte. Mein      
  33 Freund Kosmann, von dem der zweite Brief ist, meint zwar, da      
  34 die Biebel nur richtig verstanden werden dürffe, um ihr geheimnißvolles      
  35 Dunkel gantz zu verlieren; allein dieses richtige Verstehn hat      
  36 seine große Schwierigkeiten u: wenn man dieselbe nicht auf eine Art      
  37 behandeln will, die kein Philosoph u: Philolog bei der Auslegung      
           
     

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