Kant: AA XI, Briefwechsel 1791 , Seite 288

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der wechselseitigen Mittheilung durch den Umgang gäbe, welche Süßigkeit      
  02 des Lebens würde es für mich seyn, mit einem Manne, dessen      
  03 Geistes= und Seelenstimmung der seines Freundes Erhard gleichförmig      
  04 ist, uns über das Nichts menschlicher Eitelkeit wegzusetzen und unser      
  05 Leben wechselseitig in einander zu genießen? Aber nun durch Briefe!      
  06 Lassen Sie mich Ihnen meine Saumseligkeit in Ansehung derselben,      
  07 die Nachlässigkeit zu seyn scheint, aber es nicht ist, erklären.      
           
  08 Seit etwa zwei Iahren hat sich mit meiner Gesundheit, ohne      
  09 sichtbare Ursache und ohne wirkliche Krankheit (wenn ich einen etwa      
  10 3 Wochen dauernden Schnupfen ausnehme), eine plötzliche Revolution      
  11 zugetragen, welche meine Appetite in Ansehung des gewohnten täglichen      
  12 Genusses schnell umstimmte, wobei zwar meine körperlichen Kräfte und      
  13 Empfindungen nichts litten, allein die Disposition zu Kopfarbeiten,      
  14 selbst zu Lesung meiner Collegien, eine große Veränderung erlitt.      
  15 Nur zwei bis drei Stunden Vormittags kann ich zu den ersteren anhaltend      
  16 anwenden, da sie dann durch eine Schläfrigkeit (unerachtet des      
  17 besten gehabten Nachtschlafs, unterbrochen wird und ich genöthigt      
  18 werde, nur mit Intervallen zu arbeiten, mit denen die Arbeit schlecht      
  19 fortrückt und ich auf gute Laune harren und von ihr profitiren muß,      
  20 ohne über meinen Kopf disponiren zu können. Es ist, denke ich, nichts,      
  21 als das Alter, welches einem früher, dem andern später Stillstand      
  22 auferlegt, mir aber desto unwillkommener ist, da ich jetzt der Beendigung      
  23 meines Planes entgegen zu sehen glaubte. Sie werden, mein      
  24 gütiger Freund, hieraus leicht erklären, wie diese Benutzung jedes      
  25 günstigen Augenblicks in solcher Lage manchen genommenen Vorsatz,      
  26 dessen Ausführung nicht eben pressant zu seyn scheint, dem fatalen      
  27 Aufschub, der die Natur hat, sich immer selbst zu verlängern, unterwerfen      
  28 könne.      
           
  29 Ich gestehe es gern und nehme mir vor, es gelegentlich öffentlich      
  30 zu gestehen, daß die auswärts noch weiter fortgesetzte Zergliederung      
  31 des Fundaments des Wissens, sofern es in dem Vorstellungsvermögen      
  32 als einem solchen überhaupt und dessen Auflösung besteht, ein großes      
  33 Verdienst um die Critik der Vernunft sey, sobald mir nur das, was      
  34 mir jetzt noch dunkel vorschwebt, deutlich geworden seyn wird; allein      
  35 ich kann doch auch nicht, wenigstens in einer vertrauten Eröffnung      
  36 gegen Sie nicht, bergen, daß sich durch die abwärts fortgesetzte Entwickelung      
  37 der Folgen, aus den bisher zum Grunde gelegten Principien,      
           
     

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