Kant: AA XI, Briefwechsel 1791 , Seite 286

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Ich läugne geradezu, daß in jedem Bewußseyn (auch einer Anschauung      
  02 und Empfindung wie sich Herr Reinhold darüber erklärt) die      
  03 Vorstellung durch das Subjekt, vom Subjekt und Objekt unterschieden,      
  04 und auf beide bezogen wird. Eine Anschauung wird meiner Meinung      
  05 nach, auf nichts außer sich selbst bezogen; und nur dadurch daß sie      
  06 mit andern Anschauungen in eine synthetische Einheit gebracht, wird      
  07 sie zur Vorstellung, und beziehet sich als Bestandtheil einer Synthesis      
  08 auf dieselbe, das heißt, auf ihr Objekt. Die bestimmte Synthesis,      
  09 worauf die Vorstellung bezogen wird, ist das vorgestellte Objekt;      
  10 eine jede unbestimmte Synthesis, worauf die Vorstellung bezogen      
  11 werden kann, ist der Begriff eines Objekts überhaupt. Wie kann      
  12 also Herr Reinhold, den Satz des Bewußtseyns für ein allgemeingültiges      
  13 Prinzip ausgeben? Da, wie ich gezeigt habe, er nur von      
  14 Bewußtseyn einer Vorstellung, das heißt, auf eine Synthesis als Bestandttheil      
  15 bezogener Anschauung gelten kann. Ia! sagt Herr Reinhold,      
  16 man ist sich freilich diese Beziehung der Anschauung auf das Subjekt      
  17 und Objekt nicht immer bewußt, sie ist dennoch immer in derselben      
  18 anzutreffen. Aber woher weis er dieses? Was in der Vorstellung      
  19 nicht vorgestellt wird, gehört nicht zur Vorstellung. Wie kann er also      
  20 dieses Prinzip als Faktum des Bewußtseyns für allgemeingeltend ausgeben?      
  21 Da es ein Anderer aus seinem eigenen Bewußtsein geradezu      
  22 läugnen kann. Daß man eine jede Anschauung auf irgend ein Substratum      
  23 beziehet, ist eine Täuschung der transcendenten Einbildungskraft      
  24 die, aus Gewohnheit, eine jede Anschauung als Vorstellung      
  25 auf ein reelles Objekt (eine Synthesis) zu beziehen, endlich      
  26 auf gar kein reelles Objekt, sondern auf eine an seiner Stelle untergeschobene      
  27 Idee beziehet.      
           
  28 Das Wort Vorstellung hat viel Unheil in der Philosophie gestiftet,      
  29 indem es manche veranlaßt hat, sich zu einer jeden Seelenmodifikation,      
  30 ein objektives Substratum hinzuzudichten. Leibnitz vergrößerte noch      
  31 das Unheil, durch seine Lehre, von den dunkeln Vorstellungen.      
  32 Ich muß gestehn daß es in der Antropologie keine wichtigere Lehre      
  33 geben kann. Aber in einer Kritik des Erkenntnißvermögens taugt sie      
  34 gewiß nichts. Die dunkeln Vorstellungen sind keine Modifikation der      
  35 Seele, (deren Wesen im Bewußtsein bestehet) sondern vielmehr des      
  36 Körpers. Leibnitz bedienet sich derselben, blos um die Lücken in der      
  37 Substantialität der Seele auszufüllen. Ich glaube aber nicht, da      
           
     

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