Kant: AA XI, Briefwechsel 1791 , Seite 248 |
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| 462. | |||||||
| 02 | Von Daniel Friedrich Koehler. | ||||||
| 03 | 20. Ian. 1791. | ||||||
| 04 | Wohlgeborner und Hochgelehrter Herr, | ||||||
| 05 | besonders Hochgeehrtester Herr Professor, | ||||||
| 06 | Verzeihen Ewr: Wohlgeboren, daß ein Landprediger einmal auserhalb | ||||||
| 07 | seiner Parochie und auserhalb der ihm zunächst angewiesenen | ||||||
| 08 | Sphäre herumschweift und nun, da er in ein Labyrinth gerathen, ohne | ||||||
| 09 | zu wissen wie er sich selbst überlassen, sich wieder zu rechte finden soll, | ||||||
| 10 | Dieselben um gütige Handleitung ganz ergebenst bittet. Es betrift | ||||||
| 11 | diese Bitte, wie mich dünkt, über dem eine Angelegenheit, welche das | ||||||
| 12 | Beste der Menschheit, welches Dieselbigen so gerne befördern, das | ||||||
| 13 | größeste Interesse derselben betrift und ich bin daher von Ihnen der | ||||||
| 14 | Gewährleistung meiner Bitte so gewis, daß ich glaube sie zu diesem | ||||||
| 15 | Zwecke nur vortragen zu dürfen | ||||||
| 16 | In dem Pfarramte, welches ich, ehe ich hieher berufen wurd, bekleidete, | ||||||
| 17 | hatte ich vor einem ausgesuchten Auditorio, jährlich verschiedene | ||||||
| 18 | gestiftete Predigten hintereinander zu halten. Im lezten Iahre als | ||||||
| 19 | ich daselbst war, fiehl es mir ein über die evangelische Menschenliebe | ||||||
| 20 | in diesen Predigten dergestalt zu reden, daß ich in der ersten den Begrif | ||||||
| 21 | von dieser Tugend festsezte, in der zweiten über die Möglichkeit | ||||||
| 22 | in der dritten von der Nothwendigkeit derselben u.s.w. reden wolte. | ||||||
| 23 | Muthig gieng ich an mein Vorhaben und freuete mich des glüklichen | ||||||
| 24 | Fortgangs desselben, bis ich bei Bearbeitung der Predigt in welcher | ||||||
| 25 | ich von der Nothwendigkeit der evangelischen Menschenliebe reden wolte, | ||||||
| 26 | zu meinem nicht geringen Erstaunen gewahr wurd, daß ich selbst noch | ||||||
| 27 | keinen hellen und deutlichen Begrif von dem was moralische Nothwendigkeit | ||||||
| 28 | sey habe, um faßlich und verständlich davon reden zu können. | ||||||
| 29 | Zwar bath ich alle meine todte und lebende Freunde, unter welchen | ||||||
| 30 | lezteren sich der mir unvergeßliche Crugott befand, um Belehrung; | ||||||
| 31 | allein vielen lebenden war das Wort zwar alt, aber der damit zu verbindende | ||||||
| 32 | Begrif so nagelneu, daß ich den einzigen Crugott ausgenommen | ||||||
| 33 | zu denen todten meine Zuflucht nahm. Was ich nachmals | ||||||
| 34 | in Deroselben Critik fand, daß moralische Nothwendigkeit, Nothwendigkeit | ||||||
| 35 | durch Freiheit sei, das war alles was ich entdekte, und dabei | ||||||
| 36 | bliebs. Doederlein gab sich zwar bei mir das Ansehen mich in seiner | ||||||
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