Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 206

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 aus den Begriffen der Zahlen erhellen, und nur sinnlicher Zeichen      
  02 bedürfen, woran sie während und nach der Operation des Verstandes,      
  03 wieder erkannt werden: keinesweges aber reinsinnlicher Bilder, so wie      
  04 die Geometrie, um an ihnen die Beweise zu führen.      
           
  05 Hieraus würde begreiflich werden, warum die beyden Formen der      
  06 Sinnlichkeit, Raum sowohl als Zeit, den synthetischen arithmetischen      
  07 und algebraischen Wahrheiten unterworfen sind denn die Anwendung      
  08 der Arithmetik und Algebra auf Geometrie scheint nicht der      
  09 geringsten Dazwischenkunft der Vorstellung Zeit zu bedürfen:      
  10 die Gegenstände der Geometrie sind der Algebra weder als successiv      
  11 noch als coexistent, sondern überhaupt, dafern sie nur vorgestellt      
  12 werden, nicht dafern sie, oder weil sie in der Zeit gedacht würden,      
  13 unterworfen.      
           
  14 Es entsteht hier freylich eine große Schwierigkeit, und welche unauflöslich      
  15 seyn dürfte. Wie geht es nehmlich zu, daß der Verstand      
  16 bey der Erzeugung der Zahlen, welches ein reiner Actus seiner      
  17 Spontaneität ist, an die synthetischen Sätze der Arithmetik      
  18 und Algebra gebunden ist? Warum kann er, der Zahlen      
  19 willkührlich hervorbringt keine √ √2 Zahlen denken? Da ihn      
  20 doch die Natur der Form der Sinnlichkeit nicht verhindert,      
  21 so wie die Natur des Raumes ihn hindert gerade Linien zu denken      
  22 die gewissen krummen gleich wären. Der Grund dieser Unmöglichkeiten      
  23 und der Grund aller synthetischen Wahrheiten der Arithmetik und Algebra      
  24 müsste in der alles menschliche Untersuchungsvermögen übersteigenden      
  25 Natur des ursprünglichen transscendentalen Vermögens      
  26 der Einbildungskraft und der Verbindung desselben mit dem      
  27 Verstande, zu suchen seyn.      
           
  28 Dies vorausgesetzt, fragt sich's, ob es nicht möglich sey, ein      
  29 transscendentales System der Algebra zu entdecken, in welchem      
  30 die Möglichkeit, und die Art der Auflösung derjenigen Gleichungen,      
  31 welche bis itzt nur einzeln, durch regellose Versuche gesucht wird,      
  32 a priori aus Principien entschieden würde? Die Beantwortung      
  33 dieser Frage scheint auf die oben angegebene Schwierigkeiten großes      
  34 Licht werfen zu können.      
           
           
           
     

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