Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 058

     
           
 

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  01 wichtigere Theil Ihrer Untersuchungen ist in mir zur Ueberzeugung      
  02 gereift. Ihre transscendentale Aesthetik scheint mir auf Felsen gegründet.      
  03 Ihre Trennung der synthetischen und analytischen Urtheile ist eine      
  04 Kerze auf einem Berge in einer stockfinstern Gegend. Ihre Enthüllung      
  05 der Amphibolie unsrer Reflexionsbegriffe, und aller davon abhängenden      
  06 Paralogismen, Antinomieen, u.s.w. verbreiten eine Helle über das      
  07 Erkenntnißvermögen, die man nach den Verdunkelungen von Iahrtausenden      
  08 nicht mehr zu hoffen wagte. Ihr zurückführen aller ächten      
  09 Moral auf die Selbstgesetzgebung unsers Willens, die unerschütterliche      
  10 Gründung unsrer Freyheit, (ein Problem, darüber ich schon den großen      
  11 Lehrer, den Tod zu erwarten, bey mir abgeschlossen hatte) auf jenes      
  12 unläugbare, practische Factum, die Folgerungen meiner Fortdauer, eines      
  13 höchsten abgeleiteten und eines höchsten ursprünglichen Gutes aus eben      
  14 diesem moralischen Gesetz in mir, haben eine Ruhe, eine Sicherheit in      
  15 mir hervorgebracht, dafür Ihnen mein unsterblicher Dank gebührte,      
  16 falls auch jene noch übrige Dunkelheiten sich nie vor meinem Blick      
  17 zerstreuen sollten.      
           
  18 Und dieser Dank, theurer Mann, brannte viel zu heiß auf meinem      
  19 Herzen, als daß ich nicht seiner mich auf einige Art zu entbürden hätte      
  20 suchen sollen. Besser hätt' ich freilich wohl gethan, wenn ich es bis      
  21 zu etwa einer spätern, reifern, durch den Sonnenschein der immer mehr      
  22 sich mir entwölkenden Wahrheit gezeitigtern Schrift aufgespart hätte.      
  23 Allein, das Leben ist kurz. Sie werden alt. Mir verspricht das      
  24 Erliegen meiner physischen unter meiner intellectuellen Kraft keine lange      
  25 Erdenperiode. Und ich wollte Ihnen doch gerne noch in dieser Welt      
  26 sagen, wie sehr ich Sie achte und liebe!      
           
  27 Geschrieben zu Wolgast, am vierten Iunius 1789.      
           
  28 Ludwig Theobul Kosegarten.      
           
           
    365.      
  30 Von Iohann Erich Biester.      
           
  31 Berlin, 9. Iun. 1789.      
           
  32 Das neue Quartal der Berl. Monatsschrift bittet, Verehrungswürdiger      
  33 Mann, bei Ihnen um dieselbe gute Aufnahme, welcher Sie      
  34 die vorigen Bände würdigten. Ein Epigramm im März hat zu einem      
  35 entgegengesetzten Epigramm im April (Nr 5) Anlaß gegeben, und      
           
     

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