Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 016

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wäldern, entblößt von jedem Hülfsmittel zur Erkenntniß der Wahrheit,      
  02 zu verleben, war es Glük genug für mich endlich nach Berlin      
  03 zu gelangen, obschon zu spät. Hier bin ich durch die Unterstützung      
  04 einiger edelgesinnten Männer in den Stand gesetzt worden, den Wißenschaften      
  05 obzuliegen; und es war, dünkt mich, natürlich, daß in dieser      
  06 Lage, die eifrige Begierde meinen Hauptzwek, die Wahrheit zu erreichen,      
  07 mich jene Untergeordneten als: Sprachkenntniß, Methode      
  08 u: s: w: einigermaaßen hintansetzen ließ. Daher durfte ich es lange      
  09 nicht wagen, der jetzigen im Geschmak so difficilen Welt etwas von      
  10 meinen Gedanken öffentlich vorzulegen, obschon ich besonders mehrere      
  11 Systeme der Philosophie gelesen, durchdacht, u. zuweilen etwas Neues      
  12 drinn gefunden habe. Endlich war mir das Glük noch aufbehalten,      
  13 Ihre unsterbliche Werke zu sehen, zu studiren, und meine ganze      
  14 Denkungsart nach dieselben umzubilden. Ich habe mich äußerst bemühet      
  15 die letzte Resultate aus diesen Werken zu ziehen, sie meinem      
  16 Gedächtniß einzuprägen, dann die Spuren des drinn herrschenden      
  17 Ideenganges aufzusuchen, um so gleichsam in den Geist des Verf:      
  18 einzudringen. Ich habe mir zu diesem Zweke, die Resultate, so wie      
  19 ich sie mir begreiflich gemacht habe, schriftlich aufgesetzt, u. einige      
  20 Anmerkungen hinzugefügt, die hauptsachlich nur folgende Punkte betreffen.      
  21      
           
  22 1.) den Unterschied den Sie zwischen den analytischen und Synthetischen      
  23 Sätzen angeben, u. die Realitaet der Letzren.      
           
  24 2.) Die Frage Quid Juris ? Diese Frage war durch ihre Wichtigkeit      
  25 eines Kants würdig; u. giebt man ihr die Ausdehnung      
  26 die Sie ihr selbst gegeben, fragt man: Wie läßt sich mit Gewißheit      
  27 etwas a priori auf etwas a posteriori appliciren? So ist      
  28 die Beantwortung oder Deduction die Sie uns in Ihren Schriften      
  29 gegeben, wie die eines Kants seyn kann, völlig befriedigend.      
  30 Will man aber die Frage weiter ausdehnen, fragt man: Wie      
  31 läßt sich ein Begriff a priori auf eine Anschauung ob schon auf      
  32 eine Anschauung a priori , appliciren? So muß die Frage freylich      
  33 den Meister noch einmal erwarten, um befriedigend beantwortet      
  34 zu werden.      
           
  35 3.) Eine neue bemerkte Art von Ideen, die ich VerstandesIdeen      
  36 nenne, und die ebenso auf die materielle Totalitaet hindeuten,      
  37 wie die von Ihnen bemerkte VernunftsIdeen auf die      
           
     

[ Seite 015 ] [ Seite 017 ] [ Inhaltsverzeichnis ]