Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 006

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 hoffe gewiß schon in Ihrer Critik des Geschmacks hierüber nähern      
  02 Aufschluß zuerhalten. - Da es doch unmöglich ist, den letzten Grund      
  03 dieser Vermögen zuerforschen, so scheint mir jede reale Verschiedenheit      
  04 der Wirkung ein hinreichender Grund zu seyn, solange ein eigenthümliches      
  05 Vermögen dafür anzunehmen, als die reale Einheit nicht eingesehen wird.      
           
  06 Der Erfüllung Ihres Versprechens etwas zur Vervollkommung      
  07 meines Lehrbuchs durch einige Bemerkungen beizutragen, sehe ich      
  08 mit großer Erwartung entgegen. Es war dies freilich viel von mir      
  09 verlangt. Aber ich rechnete darauf, daß es Ihnen keine Anstrengung      
  10 kosten könnte, u. die Aufopferung einiger Ihrer Erholungsstunden      
  11 hinreichend seyn würden, mich vollkommen zubefriedigen. Denn nur      
  12 einige Winke mit der Bleifeder würden mich oft schon unterrichten      
  13 können. In der That konnte ich diese Zudringlichkeit auch um so verzeihlicher      
  14 für mich finden, weil nicht allein mein eigner Vortheil, sondern      
  15 auch das Interesse des Publikums hierbei zu gewinnen schien.      
  16 Denn da Studierende darüber hören u. nun auch schon auf einigen      
  17 andern Universitäten über dies Lehrbuch gelesen wird, so kann es      
  18 Ihnen selbst nicht gleichgültig [seyn], was man für Ihr System ausgibt.      
  19 Zwar hab ich mich sorgfältig gehütet Ihren Namen als Auktorität      
  20 für mich anzuführen. Auch ist gewiß Ihre Philosophie nicht      
  21 von der Art, daß sie Ansehn bedürfte. Ich habe blos das Erkentnisvermögen,      
  22 das allen gemein ist, zum Objekt gemacht u. in demselben      
  23 geforscht, u. so mußte ich natürlich das darin finden, was drinnen      
  24 liegt, und mich selbst überzeugen, daß Sie es richtig aufgefunden      
  25 hätten, u. daß etwas anders aufzufinden ganz unmöglich sey. Ob nun      
  26 mein Nachgehen wirklich richtig sey, möchte ich freilich am allerliebsten      
  27 von Ihnen wissen - - doch ich will nicht importun seyn, und überlasse      
  28 dieses alles Ihrem Wohlgefallen und Ihrer Güte. Ihre wichtigern      
  29 und nützlichern Geschäfte müssen und sollen am allerwenigsten      
  30 durch mich, der ich mit so viel dabei gewinne, gestört werden.      
           
  31 Daß HE. Kiesewetter Ihre Erwartungen nicht täuscht freuet mich      
  32 ausserordentlich. - - Seine Wärme und sein Enthusiasmus für das      
  33 Gute hat mir ihn jederzeit noch werther gemacht, als seine Talente      
  34 für die Wissenschaften. Die tiefe Verehrung und grosse kindliche Liebe,      
  35 mit welcher er in seinen Briefen an mich von Ihnen redet, weidet      
  36 mein Herz, und doch möcht ich ihn beneiden, daß ich die meinige      
  37 Ihnen nicht so anschaulich kann zu erkennen geben, als er.      
           
     

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