Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 473

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 förmliches Memoriren, oder durch den Umgang lernen, und diese letztere      
  02 ist bei lebenden Sprachen die beste Methode. Das Vocabelnlernen ist      
  03 wirklich nöthig, aber am besten thut man wohl, wenn man diejenigen      
  04 Wörter lernen läßt, die bei dem Autor, den man mit der Jugend gerade      
  05 liest, vorkommen. Die Jugend muß ihr gewisses und bestimmtes Pensum      
  06 haben. So lernt man auch die Geographie durch einen gewissen Mechanism      
  07 am besten. Das Gedächtniß vorzüglich liebt diesen Mechanism, und in      
  08 einer Menge von Fällen ist er auch sehr nützlich. Für die Geschichte ist      
  09 bis jetzt noch kein recht geschickter Mechanism erfunden worden; man hat      
  10 es zwar mit Tabellen versucht, doch scheint es auch mit denen nicht recht      
  11 gehen zu wollen.*) Geschichte aber ist ein treffliches Mittel, den Verstand in      
  12 der Beurtheilung zu üben. Das Memoriren ist sehr nöthig, aber das zur      
  13 bloßen Übung taugt gar nichts, z. E. daß man Reden auswendig lernen      
  14 läßt. Allenfalls hilft es blos zur Beförderung der Dreistigkeit, und das      
  15 Declamiren ist überdem nur eine Sache für Männer.**) Hieher gehören      
  16 auch alle Dinge, die man blos zu einem künftigen Examen oder in Rücksicht      
  17 auf die futuram oblivionem lernt. Man muß das Gedächtniß nur      
  18 mit solchen Dingen beschäftigen, an denen uns gelegen ist, daß wir sie      
  19 behalten, und die auf das wirkliche Leben Beziehung haben. Am schädlichsten      
  20 ist das Romanenlesen der Kinder, da sie nämlich weiter keinen      
  21 Gebrauch davon machen, als daß sie ihnen in dem Augenblicke, in dem sie      
  22 sie lesen, zur Unterhaltung dienen. Das Romanenlesen schwächt das      
  23 Gedächtniß. Denn es wäre lächerlich, Romane behalten und sie Andern      
  24 wieder erzählen zu wollen. Man muß daher Kindern alle Romane aus      
  25 den Händen nehmen. Indem sie sie lesen, bilden sie sich in dem Romane      
  26 wieder einen neuen Roman, da sie die Umstände sich selbst anders ausbilden,      
  27 herumschwärmen und gedankenlos da sitzen.      
           
    *) Diesen Endzweck hat auch Schlözers Geschichtstafel. Selbst Pestalozzi's Idee und Verfahren scheint auf einen solchen Mechanism gewissermaßen herauszugehen. A. d. H.      
           
    **) Freilich giebt es sehr verständige und einsichtsvolle Männer, die keiner Declamation fähig sind, wie es scheint; aber gewiß ist es, daß man leichter behält, was man mit erforderlichem Ausdrucke liest, oder wenigstens lesen könnte, und daß sich der Grund dazu schon frühzeitig und mit Erfolg legen lasse, ist durch die neueste Lesemethode bewiesen. S. Olivier über Charakter und Werth guter Unterrichtsmethoden. Leipz. 1802. und dessen Kunst, lesen und recht schreiben zu lehren. Dessau 1801.      
           
     

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