Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 444

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gehen. Würde hier wenigstens ein Experiment durch Unterstützung      
  02 der Großen und durch die vereinigten Kräfte Vieler gemacht: so würde      
  03 auch das schon uns Aufschlüsse darüber geben, wie weit es der Mensch      
  04 etwa zu bringen vermöge. Aber es ist für den speculativen Kopf eine      
  05 eben so wichtige, als für den Menschenfreund eine traurige Bemerkung,      
  06 zu sehen, wie die Großen meistens nur immer für sich sorgen und nicht      
  07 an dem wichtigen Experimente der Erziehung in der Art Theil nehmen,      
  08 daß die Natur einen Schritt näher zur Vollkommenheit thue.      
           
  09 Es ist Niemand, der nicht in seiner Jugend verwahrlost wäre und      
  10 es im reifern Alter nicht selbst einsehen sollte, worin, es sei in der Disciplin,      
  11 oder in der Cultur (so kann man die Unterweisung nennen), er      
  12 vernachlässigt worden. Derjenige, der nicht cultivirt ist, ist roh, wer nicht      
  13 disciplinirt ist, ist wild. Verabsäumung der Disciplin ist ein größeres      
  14 Übel, als Verabsäumung der Cultur, denn diese kann noch weiterhin nachgeholt      
  15 werden; Wildheit aber läßt sich nicht wegbringen, und ein Versehen      
  16 in der Disciplin kann nie ersetzt werden. Vielleicht daß die Erziehung      
  17 immer besser werden und daß jede folgende Generation einen      
  18 Schritt näher thun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn      
  19 hinter der Education steckt das große Geheimniß der Vollkommenheit der      
  20 menschlichen Natur. Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn nun erst      
  21 fängt man an, richtig zu urtheilen und deutlich einzusehen, was eigentlich      
  22 zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend sich vorzustellen, da      
  23 die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt      
  24 werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit      
  25 angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospect zu einem künftigen      
  26 glücklichern Menschengeschlechte.      
           
  27 Ein Entwurf zu einer Theorie der Erziehung ist ein herrliches Ideal,      
  28 und es schadet nichts, wenn wir auch nicht gleich im Stande sind, es zu      
  29 realisiren. Man muß nur nicht gleich die Idee für schimärisch halten und      
  30 sie als einen schönen Traum verrufen, wenn auch Hindernisse bei ihrer      
  31 Ausführung eintreten.      
           
  32 Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit,      
  33 die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet. Z. E. die Idee einer      
  34 vollkommnen, nach Regeln der Gerechtigkeit regierten Republik! Ist sie      
  35 deswegen unmöglich? Erst muß unsere Idee nur richtig sein, und dann ist      
  36 sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung noch im Wege stehen, gar      
  37 nicht unmöglich. Wenn z. E. ein jeder löge, wäre deshalb das Wahrreden      
           
     

[ Seite 443 ] [ Seite 445 ] [ Inhaltsverzeichnis ]