Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 082

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gegentheils sein können. Bei der Wahrscheinlichkeit ist also der Grund      
  02 des Fürwahrhaltens objectiv gültig, bei der bloßen Scheinbarkeit dagegen      
  03 nur subjectiv gültig. Die Scheinbarkeit ist bloß Größe der      
  04 Überredung, die Wahrscheinlichkeit ist eine Annäherung zur Gewißheit.      
  05 Bei der Wahrscheinlichkeit muß immer ein Maßstab da sein, wonach ich      
  06 sie schätzen kann. Dieser Maßstab ist die Gewißheit. Denn indem      
  07 ich die unzureichenden Gründe mit den zureichenden vergleichen soll, muß      
  08 ich wissen, wie viel zur Gewißheit gehört. Ein solcher Maßstab fällt aber      
  09 bei der bloßen Scheinbarkeit weg, da ich hier die unzureichenden      
  10 Gründe nicht mit den zureichenden, sondern nur mit den Gründen des      
  11 Gegentheils vergleiche.      
           
  12 Die Momente der Wahrscheinlichkeit können entweder gleichartig      
  13 oder ungleichartig sein. Sind sie gleichartig, wie im mathematischen      
  14 Erkenntnisse: so müssen sie numerirt werden; sind sie ungleichartig, wie      
  15 im philosophischen Erkenntnisse: so müssen sie ponderirt, d. i. nach der      
  16 Wirkung geschätzt werden; diese aber nach der Überwältigung der Hindernisse      
  17 im Gemüthe. Letztere geben kein Verhältniß zur Gewißheit, sondern      
  18 nur einer Scheinbarkeit zur andern. Hieraus folgt: daß nur der      
  19 Mathematiker das Verhältniß unzureichender Gründe zum zureichenden      
  20 Grunde bestimmen kann, der Philosoph muß sich mit der Scheinbarkeit,      
  21 einem bloß subjectiv und praktisch hinreichenden Fürwahrhalten begnügen.      
  22 Denn im philosophischen Erkenntnisse läßt sich wegen der Ungleichartigkeit      
  23 der Gründe die Wahrscheinlichkeit nicht schätzen; die Gewichte sind      
  24 hier, so zu sagen, nicht alle gestempelt. Von der mathematischen Wahrscheinlichkeit      
  25 kann man daher auch eigentlich nur sagen: daß sie mehr      
  26 als die Hälfte der Gewißheit sei.      
  27 Man hat viel von einer Logik der Wahrscheinlichkeit ( logica probabilium )      
  28 geredet. Allein diese ist nicht möglich; denn wenn sich das Verhältniß      
  29 der unzureichenden Gründe zum zureichenden nicht mathematisch      
  30 erwägen läßt: so helfen alle Regeln nichts. Auch kann man überall keine      
  31 allgemeinen Regeln der Wahrscheinlichkeit geben, außer daß der Irrthum      
  32 nicht auf einerlei Seite treffen werde, sondern ein Grund der Einstimmung      
  33 sein müsse im Object; ingleichen: daß, wenn von zwei entgegengesetzten      
  34 Seiten in gleicher Menge und in gleichem Grade geirrt wird,      
  35 im Mittel die Wahrheit sei.      
           
           
     

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