Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 076 |
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| 01 | Die Ursache von dieser Täuschung ist darin zu suchen, daß subjective | ||||||
| 02 | Gründe fälschlich für objective gehalten werden, aus Mangel an | ||||||
| 03 | Überlegung, die allem Urtheilen vorhergehen muß. Denn können wir | ||||||
| 04 | auch manche Erkenntnisse, z. B. die unmittelbar gewissen Sätze, annehmen, | ||||||
| 05 | ohne sie zu untersuchen, d. h. ohne die Bedingungen ihrer Wahrheit | ||||||
| 06 | zu prüfen: so können und dürfen wir doch über nichts urtheilen, ohne | ||||||
| 07 | zu überlegen, d. h. ohne ein Erkenntniß mit der Erkenntnißkraft, woraus | ||||||
| 08 | es entspringen soll, (der Sinnlichkeit oder dem Verstande) zu vergleichen. | ||||||
| 09 | Nehmen wir nun ohne diese Überlegung, die auch da nöthig ist, | ||||||
| 10 | wo keine Untersuchung stattfindet, Urtheile an: so entstehen daraus Vorurtheile, | ||||||
| 11 | oder Principien zu urtheilen aus subjectiven Ursachen, die fälschlich | ||||||
| 12 | für objective Gründe gehalten werden. | ||||||
| 13 | Die Hauptquellen der Vorurtheile sind: Nachahmung, Gewohnheit | ||||||
| 14 | und Neigung. | ||||||
| 15 | Die Nachahmung hat einen allgemeinen Einfluß auf unsere Urtheile, | ||||||
| 16 | denn es ist ein starker Grund, das für wahr zu halten, was andre dafür | ||||||
| 17 | ausgegeben haben. Daher das Vorurtheil: was alle Welt thut, ist Recht. | ||||||
| 18 | Was die Vorurtheile betrifft, die aus der Gewohnheit entsprungen sind, | ||||||
| 19 | so können sie nur durch die Länge der Zeit ausgerottet werden, indem der | ||||||
| 20 | Verstand, durch Gegengründe nach und nach im Urtheilen aufgehalten | ||||||
| 21 | und verzögert, dadurch allmählig zu einer entgegengesetzten Denkart gebracht | ||||||
| 22 | wird. Ist aber ein Vorurtheil der Gewohnheit zugleich durch | ||||||
| 23 | Nachahmung entstanden: so ist der Mensch, der es besitzt, davon schwerlich | ||||||
| 24 | zu heilen. Ein Vorurtheil aus Nachahmung kann man auch den | ||||||
| 25 | Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft nennen, oder zum | ||||||
| 26 | Mechanism der Vernunft statt der Spontaneität derselben | ||||||
| 27 | unter Gesetzen. | ||||||
| 28 | Vernunft ist zwar ein thätiges Princip, das nichts von bloßer Autorität | ||||||
| 29 | Anderer, auch nicht einmal, wenn es ihren reinen Gebrauch gilt, | ||||||
| 30 | von der Erfahrung entlehnen soll. Aber die Trägheit sehr vieler Menschen | ||||||
| 31 | macht, daß sie lieber in Anderer Fußtapfen treten als ihre eigenen | ||||||
| 32 | Verstandeskräfte anstrengen. Dergleichen Menschen können immer nur | ||||||
| 33 | Copien von Andern werden, und wären alle von der Art, so würde die | ||||||
| 34 | Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben. Es ist daher höchst | ||||||
| 35 | nöthig und wichtig: die Jugend nicht, wie es gewöhnlich geschieht, zum | ||||||
| 36 | bloßen Nachahmen anzuhalten. | ||||||
| 37 | Es giebt so manche Dinge, die dazu beitragen, uns die Maxime der | ||||||
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