Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 074 |
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| 01 | was wir wünschen, so bedeutet das nur unsre gutartigen Wünsche, | ||||||
| 02 | z. B. die des Vaters von seinen Kindern. Hätte der Wille einen unmittelbaren | ||||||
| 03 | Einfluß auf unsre Überzeugung von dem, was wir wünschen: so | ||||||
| 04 | würden wir uns beständig Chimären von einem glücklichen Zustande | ||||||
| 05 | machen und sie sodann auch immer für wahr halten. Der Wille kann | ||||||
| 06 | aber nicht wider überzeugende Beweise von Wahrheiten streiten, die seinen | ||||||
| 07 | Wünschen und Neigungen zuwider sind. | ||||||
| 08 | Sofern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung | ||||||
| 09 | einer Wahrheit antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß | ||||||
| 10 | auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die | ||||||
| 11 | Überzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des | ||||||
| 12 | Verstandes abhängt. | ||||||
| 13 | Was aber insbesondre die Aufschiebung oder Zurückhaltung | ||||||
| 14 | unsers Urtheils betrifft: so besteht dieselbe in dem Vorsatze, ein bloß vorläufiges | ||||||
| 15 | Urtheil nicht zu einem bestimmenden werden zu lassen. Ein | ||||||
| 16 | vorläufiges Urtheil ist ein solches, wodurch ich mir vorstelle, daß zwar | ||||||
| 17 | mehr Gründe für die Wahrheit einer Sache, als wider dieselbe da sind, | ||||||
| 18 | daß aber diese Gründe noch nicht zureichen zu einem bestimmenden oder | ||||||
| 19 | definitiven Urtheile, dadurch ich geradezu für die Wahrheit entscheide. | ||||||
| 20 | Das vorläufige Urtheilen ist also ein mit Bewußtsein bloß problematisches | ||||||
| 21 | Urtheilen. | ||||||
| 22 | Die Zurückhaltung des Urtheils kann in zwiefacher Absicht geschehen: | ||||||
| 23 | entweder, um die Gründe des bestimmenden Urtheils aufzusuchen, oder | ||||||
| 24 | um niemals zu urtheilen. Im erstern Falle heißt die Aufschiebung des | ||||||
| 25 | Urtheils eine kritische ( suspensio judicii indagatoria ), im letztern eine | ||||||
| 26 | skeptische ( suspensio judicii sceptica ). Denn der Skeptiker thut auf | ||||||
| 27 | alles Urtheilen Verzicht, der wahre Philosoph dagegen suspendirt bloß | ||||||
| 28 | sein Urtheil, wofern er noch nicht genugsame Gründe hat, etwas für wahr | ||||||
| 29 | zu halten. | ||||||
| 30 | Sein Urtheil nach Maximen zu suspendiren, dazu wird eine geübte | ||||||
| 31 | Urtheilskraft erfordert, die sich nur bei zunehmendem Alter findet. Überhaupt | ||||||
| 32 | ist die Zurückhaltung unsers Beifalls eine sehr schwere Sache, theils | ||||||
| 33 | weil unser Verstand so begierig ist durch Urtheilen sich zu erweitern und | ||||||
| 34 | mit Kenntnissen zu bereichern, theils weil unser Hang immer auf gewisse | ||||||
| 35 | Sachen mehr gerichtet ist als auf andre. Wer aber seinen Beifall oft | ||||||
| 36 | hat zurücknehmen müssen und dadurch klug und vorsichtig geworden ist, | ||||||
| 37 | wird ihn nicht so schnell geben, aus Furcht, sein Urtheil in der Folge wieder | ||||||
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