Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 023

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zwei Arten von Erkenntnissen, die beide a priori sind, dennoch aber      
  02 viele namhafte Unterschiede haben, nämlich Mathematik und Philosophie.      
           
  04 Man pflegt zu behaupten, daß Mathematik und Philosophie dem      
  05 Objecte nach von einander unterschieden wären, indem die erstere von      
  06 der Quantität, die letztere von der Qualität handele. Alles dieses      
  07 ist falsch. Der Unterschied dieser Wissenschaften kann nicht auf dem Objecte      
  08 beruhen, denn Philosophie geht auf alles, also auch auf quanta , und      
  09 Mathematik zum Theil auch, sofern alles eine Größe hat. Nur die verschiedene      
  10 Art des Vernunfterkenntnisses oder Vernunftgebrauches      
  11 in der Mathematik und Philosophie macht allein den specifischen      
  12 Unterschied zwischen diesen beiden Wissenschaften aus. Philosophie nämlich      
  13 ist die Vernunfterkenntniß aus bloßen Begriffen, Mathematik      
  14 hingegen die Vernunfterkenntniß aus der Construction der Begriffe.      
           
  16 Wir construiren Begriffe, wenn wir sie in der Anschauung a priori      
  17 ohne Erfahrung darstellen oder, wenn wir den Gegenstand in der Anschauung      
  18 darstellen, der unserm Begriffe von demselben entspricht. - Der      
  19 Mathematiker kann sich nie seiner Vernunft nach bloßen Begriffen, der      
  20 Philosoph ihrer nie durch Construction der Begriffe bedienen. In der      
  21 Mathematik braucht man die Vernunft in concreto , die Anschauung ist      
  22 aber nicht empirisch, sondern man macht sich hier etwas a priori zum      
  23 Gegenstande der Anschauung.      
           
  24 Und hierin hat also, wie wir sehen, die Mathematik einen Vorzug      
  25 vor der Philosophie, daß die Erkenntnisse der erstern intuitive, die der      
  26 letztern hingegen nur discursive Erkenntnisse sind. Die Ursache aber,      
  27 warum wir in der Mathematik mehr die Größen erwägen, liegt darin,      
  28 daß die Größen in der Anschauung a priori können construirt werden, die      
  29 Qualitäten dagegen sich nicht in der Anschauung darstellen lassen.      
           
  30 Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse      
  31 oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff      
  32 von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft      
  33 von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff      
  34 giebt der Philosophie würde, d. i. einen absoluten Werth. Und wirklich      
           
     

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