Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 323

   
         
 

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  01 im ersten Teich, den er vor sich sähe, ertrinken; denn Schwimmen ist schon    
  02 eine Kunst, die man lernen muß; oder er würde giftige Wurzeln und    
  03 Früchte genießen und dadurch umzukommen in beständiger Gefahr sein.    
  04 Hatte aber die Natur dem ersten Menschenpaar diesen Instinct eingepflanzt,    
  05 wie war es möglich, daß er ihn nicht an seine Kinder vererbte;    
  06 welches doch jetzt nie geschieht?    
         
  07 Zwar lehren die Singvögel ihren Jungen gewisse Gesänge und pflanzen    
  08 sie durch Tradition fort: so daß ein isolirter Vogel, der noch blind aus    
  09 dem Neste Genommen und aufgefüttert worden, nachdem er erwachsen, keinen    
  10 Gesang, sondern nur einen gewissen angebornen Organlaut hat. Wo    
  11 ist aber nun der erste Gesang hergekommen*); denn gelernt ist dieser nicht,    
  12 und wäre er instinctmäßig entsprungen, warum erbte er den Jungen    
  13 nicht an?    
         
  14 Die Charakterisirung des Menschen als eines vernünftigen Thieres    
  15 liegt schon in der Gestalt und Organisation seiner Hand, seiner Finger    
  16 und Fingerspitzen, deren theils Bau, theils zartem Gefühl, dadurch die    
  17 Natur ihn nicht für Eine Art der Handhabung der Sachen, sondern unbestimmt    
  18 für alle, mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht    
  19 und dadurch die technische oder Geschicklichkeitsanlage seiner Gattung als    
  20 eines vernünftigen Thieres bezeichnet hat.    
         
  21 II Die pragmatische Anlage der Civilisirung durch Cultur, vornehmlich    
  22 der Umgangseigenschaften, und der natürliche Hang seiner Art,    
  23 im gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Rohigkeit der bloßen Selbstgewalt    
  24 herauszugehen und ein gesittetes (wenn gleich noch nicht sittliches),    
  25 zur Eintracht bestimmtes Wesen zu werden, ist nun eine höhere Stufe.    
  26 Er ist einer Erziehung sowohl in Belehrung als Zucht (Disciplin) fähig    
         
    *)Man kann mit dem Ritter Linne für die Archäologie der Natur die Hypothese annehmen: daß aus dem allgemeinen Meer, welches die ganze Erde bedeckte, zuerst eine Insel unter dem Äquator als ein Berg hervorgekommen, aus welchem alle klimatische Stufen der Wärme von der des heißen am niedrigen Ufer desselben bis zur arktischen Kälte auf seinem Gipfel sammt den ihnen angemessenen Pflanzen und Thieren nach und nach entstanden; daß, was die Vögel aller Art betrifft, die Singvögel den angebornen Organlaut so vielerlei verschiedener Stimmen nachahmten und jede, so viel ihre Kehle es verstattete, mit der anderen verbanden, wodurch eine jede Species sich ihren bestimmten Gesang machte, den nachher einer dem andern durch Belehrung (gleich einer Tradition) beibrachte; wie man auch sieht, daß Finken Und Nachtigallen in verschiedenen Ländern auch einige Verschiedenheit in ihren Schlägen anbringen.    
         
     

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