Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 263

   
         
 

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  01 Ohnmacht gegen ein Übel bei einem starken Affect (es sei des Zorns oder    
  02 der Traurigkeit) ruft die äußern natürlichen Zeichen zum Beistande auf,    
  03 die dann auch (nach dem Recht des Schwächern) eine männliche Seele    
  04 wenigstens entwaffnen. Dieser Ausdruck der Zärtlichkeit als Schwäche    
  05 des Geschlechts aber darf den theilnehmenden Mann nicht bis zum Weinen,    
  06 aber doch wohl bis zur Thräne im Auge rühren: weil er im ersteren    
  07 Falle sich an seinem eigenen Geschlecht vergreifen und so mit seiner Weiblichkeit    
  08 dem schwächern Theil nicht zum Schutz dienen, im zweiten aber    
  09 gegen das andere Geschlecht nicht die Theilnehmung beweisen würde,    
  10 welche ihm seine Männlichkeit zur Pflicht macht, nämlich dieses in Schutz    
  11 zu nehmen; wie es der Charakter; den die Ritterbücher dem tapfern Mann    
  12 zueignen, mit sich bringt, der gerade in dieser Beschützung gesetzt wird.    
         
  13 Warum aber lieben junge Leute mehr das tragische Schauspiel und    
  14 führen dieses auch lieber auf, wenn sie mit ihren Ältern etwa ein Fest geben    
  15 wollen; Alte aber lieber das komische bis zum burlesken? Die Ursache,    
  16 des Ersteren ist zum Theil eben dieselbe, als die, welche die Kinder treibt,    
  17 das Gefährliche zu wagen: vermuthlich durch einen Instinct der Natur,    
  18 um ihre Kräfte zu versuchen, zum Theil aber auch, weil bei dem Leichtsinn    
  19 der Jugend von den herzbeklemmenden oder schreckenden Eindrücken, sobald    
  20 das Stück geendigt ist, keine Schwermuth übrig bleibt, sondern nur    
  21 eine angenehme Müdigkeit nach einer starken inneren Motion, welche aufs    
  22 neue zur Fröhlichkeit stimmt. Dagegen verwischt sich bei Alten dieser Eindruck    
  23 nicht so leicht, und sie können die Stimmung zum Frohsinn nicht so    
  24 leicht wieder in sich hervorbringen. Ein Harlekin, der behenden Witz hat,    
  25 bewirkt durch seine Einfälle eine wohlthätige Erschütterung ihres Zwergfelles    
  26 und der Eingeweide: wodurch der Appetit für die darauf folgende    
  27 gesellschaftliche Abendmahlzeit geschärft und durch Gesprächigkeit gedeihlich    
  28 wird.    
         
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Allgemeine Anmerkung.

   
         
  30 Gewisse innere körperliche Gefühle sind mit Affecten verwandt, sind    
  31 es aber doch nicht selbst: weil sie nur augenblicklich, vorübergehend sind    
  32 und von sich keine Spur hinterlassen; dergleichen das Gräuseln ist,    
  33 welches die Kinder anwandelt, wenn sie von Ammen des Abends Gespenstererzählungen    
  34 anhören. - Das Schauern, gleichsam mit kaltem Wasser    
  35 übergossen werden (wie beim Regenschauer), gehört auch dahin. Nicht    
  36 die Wahrnehmung der Gefahr, sondern der bloße Gedanke von Gefahr    
         
     

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